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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Zur Frage der Diätenprozesse.

jede Partei kann in zureichender Anzahl ihr zugethane Kandidaten finden,
welche das Geldopfer eines diäteuloscn Aufenthaltes in der Reichshauptstadt
alljährlich zu bringen vermöchten. Da ist man nun, um die Schranke der
Diätenlosigkeit illusorisch zu machen, ans das Mittel verfallen, daß die Parteien
von der Gesamtheit ihrer Anhänger größere Fonds sammeln, aus denen sie
ihre Mitglieder während der Reichstagssession besolden. Daß darin eine Um¬
gehung dessen liegt, was der Art. 32 der Reichsverfassung gewollt hat, dürfte
außer Zweifel sein.

Bei der angeregten Frage haben nun Zeituugsstimmen die ganze Geschichte
der Diätenfrage herangezogen. Man hat auf die Thatsache verwiesen, daß wohl
in allen deutschen Ländern, namentlich auch in Preußen, die Landtagsabgeord¬
neten Diäten beziehen. Man hat ans die zahlreichen Abstimmungen hingewiesen,
durch welche die Mehrheit des Reichstages sür Diäten anch der Ncichstagsmit-
glieder sich erklärt hat. Aus dem allen hat man die Folgerung gezogen, daß das
Beziehen von Diäten Vonseiten eines Neichstagsmitgliedes unmöglich etwas dem
Rechtsbewußtsein und der Ehrbarkeit zuwiderlaufendes sein könne, und daß die
fraglichen Abgeordneten die Diäten jedenfalls in gutem Glauben bezogen haben.
Alle diese Momente sind aber für die vorliegende Frage ohne Bedeutung. Wenn
auch das Beziehen vou Diäten überhaupt nicht durch Art. 32 der Reichsver¬
fassung untersagt wäre, so würde doch schon eine andre Bestimmung der Reichs¬
verfassung gegen das Beziehen von Fraktionsdiäten Bedenken erregen müssen.
Nach Art. 29 der Reichsverfassung (übereinstimmend mit Art. 83 der preußische"
Verfassung) sind die Mitglieder des Reichstages Vertreter des gesamten Volkes
und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden. Diese Vorschrift hat den
Zweck, den Abgeordneten als einen unabhängigen, nach seiner jederzeit freigcbil-
deten Überzeugung handelnden Mann hinzustellen. Diesem Zwecke geschieht
auch dadurch kein Abbruch, wenn vom Staate der Abgeordnete Diäten er¬
hält; wie denn auch die preußische Verfassung in Art. 55 den Bezug staat¬
licher Diäten für die Abgeordneten ausdrücklich vorschreibt. Wenn der Staat
dem Abgeordneten Diäten zahlt, so erhält sie der Abgeordnete eben vom ge¬
samten Volke, als dessen Vertreter er sich fühlen soll. Ganz anders, wenn der
Abgeordnete von einer Fraktion Diäten bezieht. Dann ist er nicht mehr, wie
die Verfassung will, ein freier, unabhängiger Mann, sondern er ist der Fraktion
verkauft. Hier, wie überall in politischen Dingen, gilt der Grundsatz: vo, ut.
clos. Wollte ein solcher Abgeordneter bei einer Abstimmung von der Fraktion
abfallen, so würde ihm sofort der Fraltionsvvrstand entgegendonucrn: Die, cur
illo! Und wenn ihm dann zur Strafe die Diäten entzogen würden, so säße er
wie ein Fisch auf dem Trocknen und müßte ausscheiden. Dachte man sich, daß
der Fraktionsfonds, aus welchem die Diäten bezahlt werden, ans einer bestimmten
Quelle, z. B. von einer besondern Klasse von Staatsangehörigen, herrührte,
so würde sich dadurch die gesamte Fraktion zu dieser Klasse in ein nnvcrkenn-


Zur Frage der Diätenprozesse.

jede Partei kann in zureichender Anzahl ihr zugethane Kandidaten finden,
welche das Geldopfer eines diäteuloscn Aufenthaltes in der Reichshauptstadt
alljährlich zu bringen vermöchten. Da ist man nun, um die Schranke der
Diätenlosigkeit illusorisch zu machen, ans das Mittel verfallen, daß die Parteien
von der Gesamtheit ihrer Anhänger größere Fonds sammeln, aus denen sie
ihre Mitglieder während der Reichstagssession besolden. Daß darin eine Um¬
gehung dessen liegt, was der Art. 32 der Reichsverfassung gewollt hat, dürfte
außer Zweifel sein.

Bei der angeregten Frage haben nun Zeituugsstimmen die ganze Geschichte
der Diätenfrage herangezogen. Man hat auf die Thatsache verwiesen, daß wohl
in allen deutschen Ländern, namentlich auch in Preußen, die Landtagsabgeord¬
neten Diäten beziehen. Man hat ans die zahlreichen Abstimmungen hingewiesen,
durch welche die Mehrheit des Reichstages sür Diäten anch der Ncichstagsmit-
glieder sich erklärt hat. Aus dem allen hat man die Folgerung gezogen, daß das
Beziehen von Diäten Vonseiten eines Neichstagsmitgliedes unmöglich etwas dem
Rechtsbewußtsein und der Ehrbarkeit zuwiderlaufendes sein könne, und daß die
fraglichen Abgeordneten die Diäten jedenfalls in gutem Glauben bezogen haben.
Alle diese Momente sind aber für die vorliegende Frage ohne Bedeutung. Wenn
auch das Beziehen vou Diäten überhaupt nicht durch Art. 32 der Reichsver¬
fassung untersagt wäre, so würde doch schon eine andre Bestimmung der Reichs¬
verfassung gegen das Beziehen von Fraktionsdiäten Bedenken erregen müssen.
Nach Art. 29 der Reichsverfassung (übereinstimmend mit Art. 83 der preußische»
Verfassung) sind die Mitglieder des Reichstages Vertreter des gesamten Volkes
und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden. Diese Vorschrift hat den
Zweck, den Abgeordneten als einen unabhängigen, nach seiner jederzeit freigcbil-
deten Überzeugung handelnden Mann hinzustellen. Diesem Zwecke geschieht
auch dadurch kein Abbruch, wenn vom Staate der Abgeordnete Diäten er¬
hält; wie denn auch die preußische Verfassung in Art. 55 den Bezug staat¬
licher Diäten für die Abgeordneten ausdrücklich vorschreibt. Wenn der Staat
dem Abgeordneten Diäten zahlt, so erhält sie der Abgeordnete eben vom ge¬
samten Volke, als dessen Vertreter er sich fühlen soll. Ganz anders, wenn der
Abgeordnete von einer Fraktion Diäten bezieht. Dann ist er nicht mehr, wie
die Verfassung will, ein freier, unabhängiger Mann, sondern er ist der Fraktion
verkauft. Hier, wie überall in politischen Dingen, gilt der Grundsatz: vo, ut.
clos. Wollte ein solcher Abgeordneter bei einer Abstimmung von der Fraktion
abfallen, so würde ihm sofort der Fraltionsvvrstand entgegendonucrn: Die, cur
illo! Und wenn ihm dann zur Strafe die Diäten entzogen würden, so säße er
wie ein Fisch auf dem Trocknen und müßte ausscheiden. Dachte man sich, daß
der Fraktionsfonds, aus welchem die Diäten bezahlt werden, ans einer bestimmten
Quelle, z. B. von einer besondern Klasse von Staatsangehörigen, herrührte,
so würde sich dadurch die gesamte Fraktion zu dieser Klasse in ein nnvcrkenn-


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[0402] Zur Frage der Diätenprozesse. jede Partei kann in zureichender Anzahl ihr zugethane Kandidaten finden, welche das Geldopfer eines diäteuloscn Aufenthaltes in der Reichshauptstadt alljährlich zu bringen vermöchten. Da ist man nun, um die Schranke der Diätenlosigkeit illusorisch zu machen, ans das Mittel verfallen, daß die Parteien von der Gesamtheit ihrer Anhänger größere Fonds sammeln, aus denen sie ihre Mitglieder während der Reichstagssession besolden. Daß darin eine Um¬ gehung dessen liegt, was der Art. 32 der Reichsverfassung gewollt hat, dürfte außer Zweifel sein. Bei der angeregten Frage haben nun Zeituugsstimmen die ganze Geschichte der Diätenfrage herangezogen. Man hat auf die Thatsache verwiesen, daß wohl in allen deutschen Ländern, namentlich auch in Preußen, die Landtagsabgeord¬ neten Diäten beziehen. Man hat ans die zahlreichen Abstimmungen hingewiesen, durch welche die Mehrheit des Reichstages sür Diäten anch der Ncichstagsmit- glieder sich erklärt hat. Aus dem allen hat man die Folgerung gezogen, daß das Beziehen von Diäten Vonseiten eines Neichstagsmitgliedes unmöglich etwas dem Rechtsbewußtsein und der Ehrbarkeit zuwiderlaufendes sein könne, und daß die fraglichen Abgeordneten die Diäten jedenfalls in gutem Glauben bezogen haben. Alle diese Momente sind aber für die vorliegende Frage ohne Bedeutung. Wenn auch das Beziehen vou Diäten überhaupt nicht durch Art. 32 der Reichsver¬ fassung untersagt wäre, so würde doch schon eine andre Bestimmung der Reichs¬ verfassung gegen das Beziehen von Fraktionsdiäten Bedenken erregen müssen. Nach Art. 29 der Reichsverfassung (übereinstimmend mit Art. 83 der preußische» Verfassung) sind die Mitglieder des Reichstages Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden. Diese Vorschrift hat den Zweck, den Abgeordneten als einen unabhängigen, nach seiner jederzeit freigcbil- deten Überzeugung handelnden Mann hinzustellen. Diesem Zwecke geschieht auch dadurch kein Abbruch, wenn vom Staate der Abgeordnete Diäten er¬ hält; wie denn auch die preußische Verfassung in Art. 55 den Bezug staat¬ licher Diäten für die Abgeordneten ausdrücklich vorschreibt. Wenn der Staat dem Abgeordneten Diäten zahlt, so erhält sie der Abgeordnete eben vom ge¬ samten Volke, als dessen Vertreter er sich fühlen soll. Ganz anders, wenn der Abgeordnete von einer Fraktion Diäten bezieht. Dann ist er nicht mehr, wie die Verfassung will, ein freier, unabhängiger Mann, sondern er ist der Fraktion verkauft. Hier, wie überall in politischen Dingen, gilt der Grundsatz: vo, ut. clos. Wollte ein solcher Abgeordneter bei einer Abstimmung von der Fraktion abfallen, so würde ihm sofort der Fraltionsvvrstand entgegendonucrn: Die, cur illo! Und wenn ihm dann zur Strafe die Diäten entzogen würden, so säße er wie ein Fisch auf dem Trocknen und müßte ausscheiden. Dachte man sich, daß der Fraktionsfonds, aus welchem die Diäten bezahlt werden, ans einer bestimmten Quelle, z. B. von einer besondern Klasse von Staatsangehörigen, herrührte, so würde sich dadurch die gesamte Fraktion zu dieser Klasse in ein nnvcrkenn-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/402>, abgerufen am 27.07.2024.