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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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zwingende Notwendigkeit der Natur ausgeschlossen. Wäre es ihm gestattet ge¬
wesen, die ganze Fülle einer überschwänglichen Kraft in der Richtung harmloser
Freude am Dasein auszuströmen, so hätten die nach der entgegengesetzten Seite
gehenden Gedanken nicht übermächtig zu werden brauchen. Nun aber beherrscht
Zorn über die ungerechte Verteilung der Gaben und Neid über das Glück tief
unter ihm stehender seine Seele. Da er die von der Natur gesteckten Grenzen
nicht überschreiten kann, so sticht er die vom Gesetze errichteten niederzuwerfen
und wird ein Bösewicht. In dein Monologe Richards, mit dem das Schau¬
spiel beginnt, liegt die Erklärung des Geheimnisses, daß wir bei aller Unge¬
duld, ihn dem Rächer überantwortet zu sehen, doch in der vorletzten Szene
ihm das Pferd gestellt wünschen, das er mit einem Königreich nicht zu teuer
bezahlt erachtet.

Etwas ähnliches findet man im "Maebeth." Aus dem Dunkel der Zukunft
reichen die Schicksalsschwestern dein sieggckrönten Feldherrn die Hand und halten
ihm das verlockende Bild einstiger Königsherrschaft vor. Dadurch wird das
böse Gelüsten in ihm geweckt und gewinnt mehr und mehr Raum in seinem
nach Ehre und Glanz dürstenden Herzen. Was noch unklar in seiner Seele
ist, das erhält feste Gestalt durch den Ehrgeiz seiner willensstarken Gemahlin.
So wird Macbeth unwiderstehlich auf die Bahn des Frevels gezogen: wir ver¬
stehen vollkommen, wie der sonst so wackre Mann im Kampfe mit dem Bösen
unterliegt. Hierdurch aber und nicht minder, wenn wir sehen, wie seine bessere
Natur immer von neuem wieder deu alten Kampf beginnt, weiß der Dichter
das tiefe Mitgefühl zu erregen, das trotz aller Verbrechen bis zum letzten
Augenblicke nicht aufhört. Aus diesem Grunde ist Macbeth nicht minder als
Richard eine echt tragische Figur, und beide werden niemals aufhören, die
Herzen denkender und fühlender Menschen zu bewegen.

Mitleid ist überhaupt das Pathos, an das vorzugsweise der tragische
Dichter zu appelliren hat. Es ist nicht genug, bloß durch Überraschung, durch
plötzlichen Wandel vom Glück ins Unglück, durch Haß, Furcht, Schrecken
deu Sturm unsrer Seelen zu erregen; am letzten Ende zeigt sich darin die
Meisterschaft, ob er mit dem Gefühle des moralischen Unwillens, das die
Thaten seiner Personen zur Folge haben, auch das zartere des Mitgefühls zu
entfachen und wachzuhalten versteht. Diese Regung braucht uns nicht ein
ganzes Stück hindurch zu begleiten, sie kann lange Zeit völlig zurücktrete",
aber wenn sie am Ende hervorbricht, so ist es der untrügliche Beweis, daß der
Tragiker mit derjenigen Kenntnis der menschlichen Seele gedichtet hat, die das
Gute und Böse in richtiger Abwägung gegeneinander hält und, wenn dieses
überwiegt, jenes nicht völlig erstickt. Es giebt keine absoluten Bösewichte, und
wenn doch, so dürfen sie nicht die Mitte der tragischen Handlung einnehmen.
Selbst Inigo, der nicht einmal die Hauptperson ist, handelt nicht bloß ans
Liebe zum Bösen, sondern weil er sich in seinem Weibe beleidigt und im


zwingende Notwendigkeit der Natur ausgeschlossen. Wäre es ihm gestattet ge¬
wesen, die ganze Fülle einer überschwänglichen Kraft in der Richtung harmloser
Freude am Dasein auszuströmen, so hätten die nach der entgegengesetzten Seite
gehenden Gedanken nicht übermächtig zu werden brauchen. Nun aber beherrscht
Zorn über die ungerechte Verteilung der Gaben und Neid über das Glück tief
unter ihm stehender seine Seele. Da er die von der Natur gesteckten Grenzen
nicht überschreiten kann, so sticht er die vom Gesetze errichteten niederzuwerfen
und wird ein Bösewicht. In dein Monologe Richards, mit dem das Schau¬
spiel beginnt, liegt die Erklärung des Geheimnisses, daß wir bei aller Unge¬
duld, ihn dem Rächer überantwortet zu sehen, doch in der vorletzten Szene
ihm das Pferd gestellt wünschen, das er mit einem Königreich nicht zu teuer
bezahlt erachtet.

Etwas ähnliches findet man im „Maebeth." Aus dem Dunkel der Zukunft
reichen die Schicksalsschwestern dein sieggckrönten Feldherrn die Hand und halten
ihm das verlockende Bild einstiger Königsherrschaft vor. Dadurch wird das
böse Gelüsten in ihm geweckt und gewinnt mehr und mehr Raum in seinem
nach Ehre und Glanz dürstenden Herzen. Was noch unklar in seiner Seele
ist, das erhält feste Gestalt durch den Ehrgeiz seiner willensstarken Gemahlin.
So wird Macbeth unwiderstehlich auf die Bahn des Frevels gezogen: wir ver¬
stehen vollkommen, wie der sonst so wackre Mann im Kampfe mit dem Bösen
unterliegt. Hierdurch aber und nicht minder, wenn wir sehen, wie seine bessere
Natur immer von neuem wieder deu alten Kampf beginnt, weiß der Dichter
das tiefe Mitgefühl zu erregen, das trotz aller Verbrechen bis zum letzten
Augenblicke nicht aufhört. Aus diesem Grunde ist Macbeth nicht minder als
Richard eine echt tragische Figur, und beide werden niemals aufhören, die
Herzen denkender und fühlender Menschen zu bewegen.

Mitleid ist überhaupt das Pathos, an das vorzugsweise der tragische
Dichter zu appelliren hat. Es ist nicht genug, bloß durch Überraschung, durch
plötzlichen Wandel vom Glück ins Unglück, durch Haß, Furcht, Schrecken
deu Sturm unsrer Seelen zu erregen; am letzten Ende zeigt sich darin die
Meisterschaft, ob er mit dem Gefühle des moralischen Unwillens, das die
Thaten seiner Personen zur Folge haben, auch das zartere des Mitgefühls zu
entfachen und wachzuhalten versteht. Diese Regung braucht uns nicht ein
ganzes Stück hindurch zu begleiten, sie kann lange Zeit völlig zurücktrete»,
aber wenn sie am Ende hervorbricht, so ist es der untrügliche Beweis, daß der
Tragiker mit derjenigen Kenntnis der menschlichen Seele gedichtet hat, die das
Gute und Böse in richtiger Abwägung gegeneinander hält und, wenn dieses
überwiegt, jenes nicht völlig erstickt. Es giebt keine absoluten Bösewichte, und
wenn doch, so dürfen sie nicht die Mitte der tragischen Handlung einnehmen.
Selbst Inigo, der nicht einmal die Hauptperson ist, handelt nicht bloß ans
Liebe zum Bösen, sondern weil er sich in seinem Weibe beleidigt und im


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[0376] zwingende Notwendigkeit der Natur ausgeschlossen. Wäre es ihm gestattet ge¬ wesen, die ganze Fülle einer überschwänglichen Kraft in der Richtung harmloser Freude am Dasein auszuströmen, so hätten die nach der entgegengesetzten Seite gehenden Gedanken nicht übermächtig zu werden brauchen. Nun aber beherrscht Zorn über die ungerechte Verteilung der Gaben und Neid über das Glück tief unter ihm stehender seine Seele. Da er die von der Natur gesteckten Grenzen nicht überschreiten kann, so sticht er die vom Gesetze errichteten niederzuwerfen und wird ein Bösewicht. In dein Monologe Richards, mit dem das Schau¬ spiel beginnt, liegt die Erklärung des Geheimnisses, daß wir bei aller Unge¬ duld, ihn dem Rächer überantwortet zu sehen, doch in der vorletzten Szene ihm das Pferd gestellt wünschen, das er mit einem Königreich nicht zu teuer bezahlt erachtet. Etwas ähnliches findet man im „Maebeth." Aus dem Dunkel der Zukunft reichen die Schicksalsschwestern dein sieggckrönten Feldherrn die Hand und halten ihm das verlockende Bild einstiger Königsherrschaft vor. Dadurch wird das böse Gelüsten in ihm geweckt und gewinnt mehr und mehr Raum in seinem nach Ehre und Glanz dürstenden Herzen. Was noch unklar in seiner Seele ist, das erhält feste Gestalt durch den Ehrgeiz seiner willensstarken Gemahlin. So wird Macbeth unwiderstehlich auf die Bahn des Frevels gezogen: wir ver¬ stehen vollkommen, wie der sonst so wackre Mann im Kampfe mit dem Bösen unterliegt. Hierdurch aber und nicht minder, wenn wir sehen, wie seine bessere Natur immer von neuem wieder deu alten Kampf beginnt, weiß der Dichter das tiefe Mitgefühl zu erregen, das trotz aller Verbrechen bis zum letzten Augenblicke nicht aufhört. Aus diesem Grunde ist Macbeth nicht minder als Richard eine echt tragische Figur, und beide werden niemals aufhören, die Herzen denkender und fühlender Menschen zu bewegen. Mitleid ist überhaupt das Pathos, an das vorzugsweise der tragische Dichter zu appelliren hat. Es ist nicht genug, bloß durch Überraschung, durch plötzlichen Wandel vom Glück ins Unglück, durch Haß, Furcht, Schrecken deu Sturm unsrer Seelen zu erregen; am letzten Ende zeigt sich darin die Meisterschaft, ob er mit dem Gefühle des moralischen Unwillens, das die Thaten seiner Personen zur Folge haben, auch das zartere des Mitgefühls zu entfachen und wachzuhalten versteht. Diese Regung braucht uns nicht ein ganzes Stück hindurch zu begleiten, sie kann lange Zeit völlig zurücktrete», aber wenn sie am Ende hervorbricht, so ist es der untrügliche Beweis, daß der Tragiker mit derjenigen Kenntnis der menschlichen Seele gedichtet hat, die das Gute und Böse in richtiger Abwägung gegeneinander hält und, wenn dieses überwiegt, jenes nicht völlig erstickt. Es giebt keine absoluten Bösewichte, und wenn doch, so dürfen sie nicht die Mitte der tragischen Handlung einnehmen. Selbst Inigo, der nicht einmal die Hauptperson ist, handelt nicht bloß ans Liebe zum Bösen, sondern weil er sich in seinem Weibe beleidigt und im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/376>, abgerufen am 01.09.2024.