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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Die dramatische Kunst E, v. Wildenbruchs.

feindlich abwehrten, sondern selber aggressiv waren, konnte eine Schwächung des
Ostreiches gewichtige Bedenken erregen. Wenn man sich denkt, daß Ludwig von
solchen Erwägungen gedrängt in den Kampf mit demi Vater eintritt, so findet
man auch hier des tragischen Stoffes die Fülle. Doch die in diesen Richtungen
sich eröffnenden Momente liegen in weiterer Entfernung; in erster Nähe bietet
sich ganz von selbst die Verwicklung, welche aus dem Widerstreite des formellen
Rechtes der drei erstgebornen Söhne mit dem natürlichen des nachgebornen
hervorgeht. Es ist das diejenige, welche vom einfachen Verlaufe der Geschichte
geboten wird, für den wählenden Dichter insofern leichter, als sie ihn der eignen
Erfindung überhebt, aber dadurch schwerer, daß sie ihn zwingt, in Gegebenes
die tiefere poetische Motivirung zu legen.

Aber ob näher oder ferner, ob schwieriger oder leichter, von einem Dichter,
der mit soviel Emphase sein durchdringendes Erfassen geschichtlicher Vorgänge
ankündigt, sollte mau erwarten, daß er nach einer oder der andern Richtung
den vorliegenden Stoff nicht bloß dramatisirt, sondern auch erschöpfend zur
Darstellung gebracht hätte. Dies ist aber nicht der Fall. Nicht als ob
Wildenbruch dem durchaus aus dem Wege gegangen wäre. In Wirklichkeit
geht er von dem zuletzt angegebnen Gesichtspunkte aus, aber nur für den
Anfang und um ihn dann alsbald zu verlassen und seine nur ihm eigentüm¬
lichen Pfade zu wandeln. Wer dnrch den Titel bewogen etwa meint, die
Handlung habe irgendeinen der Karolinger zu ihrem Führer, der sieht sich bald
völlig getäuscht. Die Karolinger handeln in diesem Trauerspiele überhaupt nicht.
Auf der einen Seite bilden sie eine träge und stumpfe Gesellschaft, die für ihr
Recht nur mehr oder weniger plumpe Worte reden kann, auf der andern Seite
leiden sie an der Unerfahrenheit der Jugend und der Schwäche des Alters.
Selbst die sonst feurige Judith mit eingeschlossen, geht ihnen jegliche Initiative
zur That ab. Die Handlung geht lediglich von einer Persönlichkeit aus, die ur¬
sprünglich mit den Karolingern im Drama kaum etwas zu thun hat. Das ist
Bernhard, der Graf von Barcelona, der, als Großer des Reiches zum Reichstage
berufen, sofort die Fäden der Intrigue gegen das Recht der ältern Brüder in
die Hand nimmt und damit zum Mittelpunkte und Helden des Stückes wird.
Mit diesem haben wie gesagt die Karolinger garnichts oder nur in leidendem
Zustande zu thun. Sie könnten unbeschadet der Entwicklung und des endlichen
Ausganges ebensowohl hinter den Kulissen bleiben und andre für sich daraus
hervortreten lassen. Mit dem besten Rechte kann man fragen, aus welchem
Grunde Wildenbruch gerade diesen Titel gewählt und warum er das Stück nicht
"Der Graf von Barcelona" genannt habe. In diesem Falle hätten die Nach¬
folger Karls des Großen so auftreten dürfen, wie es geschieht, und es wäre
nur die Frage, ob sie sich passend in den Gang der Handlung einfügen. Im
entgegengesetzten Falle aber ist denn doch ihr Name historisch zu bedeutend, als
daß man nicht mit dem besten Grunde erwarten sollte, er werde, wenn man ihn


Die dramatische Kunst E, v. Wildenbruchs.

feindlich abwehrten, sondern selber aggressiv waren, konnte eine Schwächung des
Ostreiches gewichtige Bedenken erregen. Wenn man sich denkt, daß Ludwig von
solchen Erwägungen gedrängt in den Kampf mit demi Vater eintritt, so findet
man auch hier des tragischen Stoffes die Fülle. Doch die in diesen Richtungen
sich eröffnenden Momente liegen in weiterer Entfernung; in erster Nähe bietet
sich ganz von selbst die Verwicklung, welche aus dem Widerstreite des formellen
Rechtes der drei erstgebornen Söhne mit dem natürlichen des nachgebornen
hervorgeht. Es ist das diejenige, welche vom einfachen Verlaufe der Geschichte
geboten wird, für den wählenden Dichter insofern leichter, als sie ihn der eignen
Erfindung überhebt, aber dadurch schwerer, daß sie ihn zwingt, in Gegebenes
die tiefere poetische Motivirung zu legen.

Aber ob näher oder ferner, ob schwieriger oder leichter, von einem Dichter,
der mit soviel Emphase sein durchdringendes Erfassen geschichtlicher Vorgänge
ankündigt, sollte mau erwarten, daß er nach einer oder der andern Richtung
den vorliegenden Stoff nicht bloß dramatisirt, sondern auch erschöpfend zur
Darstellung gebracht hätte. Dies ist aber nicht der Fall. Nicht als ob
Wildenbruch dem durchaus aus dem Wege gegangen wäre. In Wirklichkeit
geht er von dem zuletzt angegebnen Gesichtspunkte aus, aber nur für den
Anfang und um ihn dann alsbald zu verlassen und seine nur ihm eigentüm¬
lichen Pfade zu wandeln. Wer dnrch den Titel bewogen etwa meint, die
Handlung habe irgendeinen der Karolinger zu ihrem Führer, der sieht sich bald
völlig getäuscht. Die Karolinger handeln in diesem Trauerspiele überhaupt nicht.
Auf der einen Seite bilden sie eine träge und stumpfe Gesellschaft, die für ihr
Recht nur mehr oder weniger plumpe Worte reden kann, auf der andern Seite
leiden sie an der Unerfahrenheit der Jugend und der Schwäche des Alters.
Selbst die sonst feurige Judith mit eingeschlossen, geht ihnen jegliche Initiative
zur That ab. Die Handlung geht lediglich von einer Persönlichkeit aus, die ur¬
sprünglich mit den Karolingern im Drama kaum etwas zu thun hat. Das ist
Bernhard, der Graf von Barcelona, der, als Großer des Reiches zum Reichstage
berufen, sofort die Fäden der Intrigue gegen das Recht der ältern Brüder in
die Hand nimmt und damit zum Mittelpunkte und Helden des Stückes wird.
Mit diesem haben wie gesagt die Karolinger garnichts oder nur in leidendem
Zustande zu thun. Sie könnten unbeschadet der Entwicklung und des endlichen
Ausganges ebensowohl hinter den Kulissen bleiben und andre für sich daraus
hervortreten lassen. Mit dem besten Rechte kann man fragen, aus welchem
Grunde Wildenbruch gerade diesen Titel gewählt und warum er das Stück nicht
„Der Graf von Barcelona" genannt habe. In diesem Falle hätten die Nach¬
folger Karls des Großen so auftreten dürfen, wie es geschieht, und es wäre
nur die Frage, ob sie sich passend in den Gang der Handlung einfügen. Im
entgegengesetzten Falle aber ist denn doch ihr Name historisch zu bedeutend, als
daß man nicht mit dem besten Grunde erwarten sollte, er werde, wenn man ihn


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[0374] Die dramatische Kunst E, v. Wildenbruchs. feindlich abwehrten, sondern selber aggressiv waren, konnte eine Schwächung des Ostreiches gewichtige Bedenken erregen. Wenn man sich denkt, daß Ludwig von solchen Erwägungen gedrängt in den Kampf mit demi Vater eintritt, so findet man auch hier des tragischen Stoffes die Fülle. Doch die in diesen Richtungen sich eröffnenden Momente liegen in weiterer Entfernung; in erster Nähe bietet sich ganz von selbst die Verwicklung, welche aus dem Widerstreite des formellen Rechtes der drei erstgebornen Söhne mit dem natürlichen des nachgebornen hervorgeht. Es ist das diejenige, welche vom einfachen Verlaufe der Geschichte geboten wird, für den wählenden Dichter insofern leichter, als sie ihn der eignen Erfindung überhebt, aber dadurch schwerer, daß sie ihn zwingt, in Gegebenes die tiefere poetische Motivirung zu legen. Aber ob näher oder ferner, ob schwieriger oder leichter, von einem Dichter, der mit soviel Emphase sein durchdringendes Erfassen geschichtlicher Vorgänge ankündigt, sollte mau erwarten, daß er nach einer oder der andern Richtung den vorliegenden Stoff nicht bloß dramatisirt, sondern auch erschöpfend zur Darstellung gebracht hätte. Dies ist aber nicht der Fall. Nicht als ob Wildenbruch dem durchaus aus dem Wege gegangen wäre. In Wirklichkeit geht er von dem zuletzt angegebnen Gesichtspunkte aus, aber nur für den Anfang und um ihn dann alsbald zu verlassen und seine nur ihm eigentüm¬ lichen Pfade zu wandeln. Wer dnrch den Titel bewogen etwa meint, die Handlung habe irgendeinen der Karolinger zu ihrem Führer, der sieht sich bald völlig getäuscht. Die Karolinger handeln in diesem Trauerspiele überhaupt nicht. Auf der einen Seite bilden sie eine träge und stumpfe Gesellschaft, die für ihr Recht nur mehr oder weniger plumpe Worte reden kann, auf der andern Seite leiden sie an der Unerfahrenheit der Jugend und der Schwäche des Alters. Selbst die sonst feurige Judith mit eingeschlossen, geht ihnen jegliche Initiative zur That ab. Die Handlung geht lediglich von einer Persönlichkeit aus, die ur¬ sprünglich mit den Karolingern im Drama kaum etwas zu thun hat. Das ist Bernhard, der Graf von Barcelona, der, als Großer des Reiches zum Reichstage berufen, sofort die Fäden der Intrigue gegen das Recht der ältern Brüder in die Hand nimmt und damit zum Mittelpunkte und Helden des Stückes wird. Mit diesem haben wie gesagt die Karolinger garnichts oder nur in leidendem Zustande zu thun. Sie könnten unbeschadet der Entwicklung und des endlichen Ausganges ebensowohl hinter den Kulissen bleiben und andre für sich daraus hervortreten lassen. Mit dem besten Rechte kann man fragen, aus welchem Grunde Wildenbruch gerade diesen Titel gewählt und warum er das Stück nicht „Der Graf von Barcelona" genannt habe. In diesem Falle hätten die Nach¬ folger Karls des Großen so auftreten dürfen, wie es geschieht, und es wäre nur die Frage, ob sie sich passend in den Gang der Handlung einfügen. Im entgegengesetzten Falle aber ist denn doch ihr Name historisch zu bedeutend, als daß man nicht mit dem besten Grunde erwarten sollte, er werde, wenn man ihn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/374>, abgerufen am 27.07.2024.