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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Rcchtspolitischo Streifziige.

der am wenigsten sich auf sein Ermessen stützt,*) enthält eine Wahrheit, die im
Laufe der Zeiten immer mehr verloren gegangen ist und für Deutschland kaum
noch gekannt ist.

Unter den Klagen, die zu den Zeiten Friedrich Wilhelms des Ersten und
Friedrichs des Großen dringend zu gunsten einer Justizreform erhoben wurden,
gehörte als die vornehmste die über die Willkür der Gerichte -- eine Willkür,
welche dem Zustande der in Geltung befindlichen römischen und gemeine"
Rechte entsprang. Die preußische Gesetzgebung bemühte sich, diese Willkür ein¬
zudämmen und suchte für jeden Fall eine besondre Norm aufzustellen. Die
Reaktion war vielleicht zu stark, aber bei einer verständigen Auslegung befand
sich doch das Volk in dein Besitze einer sichern Richtschnur, nach welcher es seine
Handlungen einrichten konnte. In den Teilen Deutschlands dagegen, in welchen
eine Kodifikation aus dem Mangel einer starken Staatsgewalt unterblieben war,
betrachtete man diese preußische Anschauung mit feindseligen Augen und erfreute
sich bei dieser Richtung der Unterstützung der Theoretiker, welche ohne ihr rö¬
misches Recht nicht leben konnten und in diesem die einzige Quelle ihrer Weisheit
sahen. So kam es denn, daß, als im Jahre 1866 Preußen von Hannover er¬
obert wurde -- denn ü"z ta-etc" ist der hannoversche Einfluß in Preußen für die Ge¬
setzgebung nach der Annexion jahrelang der herrschende gewesen**) --, mau sofort
mit allen bewährten Preußischen Grundgedanken in der Gesetzgebung brach, für
dieselbe nur ganz allgemeine, in ihrer Diktion äußerlich blendende, aber innerlich
zweifel- und phrasenhafte Regeln aufstellte, und im einzelnen, d. h. für die
Hauptsache, alles dem richterlichen Ermessen überließ. Gleich das erste große
Gesetzeswerk des neucrstcmdnen Reiches, das Strafgesetzbuch, giebt ein Zeugnis
dieser Richtung. Die allgemeinen Begriffe werden nicht vom Gesetzgeber fest¬
gestellt, sondern der Wissenschaft und Praxis überlassen, d. h. in jedem einzelnen
Prozesse dem mehr oder minder verständigen Ermessen der Urteilssinder. Manche
strafbare Handlungen haben keine gesetzliche Abgrenzung erfahren, und wer z. B.
nach eignem Ermessen glaubt, eine Beleidigung nicht verübt zu haben, der wird
später zu seinem Schaden durch das richterliche Ermessen eines andern belehrt.
Man rechtfertigte diesen Gedanken damit, daß man erklärte, es sei das Gesetzbuch
auf die Anwendung durch Laienrichter zugeschnitten, denen man in ihrem Urteil
keine Schranke auferlegen wollte. Mit andern Worten: man substituirte hier
sogar dem Ermessen die schrankenlose Willkür. Man bemaß ferner die Straf-
maxima und Strafminima in so weit abstehenden Zwischenräumen, daß dem
Richter für den einzelnen Fall oft mehr als tausend Straffestsetzuugen zur Ver¬
fügung stehen und daß für die Wahl der einen oder andern Strafe nicht etwa




*) Oiitims, Isx, (Mas irunimnm rollncMt arbitrio MÄivis, ol>timus Huäox c^ni alu-
mna sibi.
Seine Einflüsse sind in der S. 24S erwähnten Schrift von Dr. Bühr, auf welche
wir in einem besondern Artikel zurückkommen werden, in helle Beleuchtung gestellt worden.
Rcchtspolitischo Streifziige.

der am wenigsten sich auf sein Ermessen stützt,*) enthält eine Wahrheit, die im
Laufe der Zeiten immer mehr verloren gegangen ist und für Deutschland kaum
noch gekannt ist.

Unter den Klagen, die zu den Zeiten Friedrich Wilhelms des Ersten und
Friedrichs des Großen dringend zu gunsten einer Justizreform erhoben wurden,
gehörte als die vornehmste die über die Willkür der Gerichte — eine Willkür,
welche dem Zustande der in Geltung befindlichen römischen und gemeine»
Rechte entsprang. Die preußische Gesetzgebung bemühte sich, diese Willkür ein¬
zudämmen und suchte für jeden Fall eine besondre Norm aufzustellen. Die
Reaktion war vielleicht zu stark, aber bei einer verständigen Auslegung befand
sich doch das Volk in dein Besitze einer sichern Richtschnur, nach welcher es seine
Handlungen einrichten konnte. In den Teilen Deutschlands dagegen, in welchen
eine Kodifikation aus dem Mangel einer starken Staatsgewalt unterblieben war,
betrachtete man diese preußische Anschauung mit feindseligen Augen und erfreute
sich bei dieser Richtung der Unterstützung der Theoretiker, welche ohne ihr rö¬
misches Recht nicht leben konnten und in diesem die einzige Quelle ihrer Weisheit
sahen. So kam es denn, daß, als im Jahre 1866 Preußen von Hannover er¬
obert wurde — denn ü«z ta-etc» ist der hannoversche Einfluß in Preußen für die Ge¬
setzgebung nach der Annexion jahrelang der herrschende gewesen**) —, mau sofort
mit allen bewährten Preußischen Grundgedanken in der Gesetzgebung brach, für
dieselbe nur ganz allgemeine, in ihrer Diktion äußerlich blendende, aber innerlich
zweifel- und phrasenhafte Regeln aufstellte, und im einzelnen, d. h. für die
Hauptsache, alles dem richterlichen Ermessen überließ. Gleich das erste große
Gesetzeswerk des neucrstcmdnen Reiches, das Strafgesetzbuch, giebt ein Zeugnis
dieser Richtung. Die allgemeinen Begriffe werden nicht vom Gesetzgeber fest¬
gestellt, sondern der Wissenschaft und Praxis überlassen, d. h. in jedem einzelnen
Prozesse dem mehr oder minder verständigen Ermessen der Urteilssinder. Manche
strafbare Handlungen haben keine gesetzliche Abgrenzung erfahren, und wer z. B.
nach eignem Ermessen glaubt, eine Beleidigung nicht verübt zu haben, der wird
später zu seinem Schaden durch das richterliche Ermessen eines andern belehrt.
Man rechtfertigte diesen Gedanken damit, daß man erklärte, es sei das Gesetzbuch
auf die Anwendung durch Laienrichter zugeschnitten, denen man in ihrem Urteil
keine Schranke auferlegen wollte. Mit andern Worten: man substituirte hier
sogar dem Ermessen die schrankenlose Willkür. Man bemaß ferner die Straf-
maxima und Strafminima in so weit abstehenden Zwischenräumen, daß dem
Richter für den einzelnen Fall oft mehr als tausend Straffestsetzuugen zur Ver¬
fügung stehen und daß für die Wahl der einen oder andern Strafe nicht etwa




*) Oiitims, Isx, (Mas irunimnm rollncMt arbitrio MÄivis, ol>timus Huäox c^ni alu-
mna sibi.
Seine Einflüsse sind in der S. 24S erwähnten Schrift von Dr. Bühr, auf welche
wir in einem besondern Artikel zurückkommen werden, in helle Beleuchtung gestellt worden.
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[0254] Rcchtspolitischo Streifziige. der am wenigsten sich auf sein Ermessen stützt,*) enthält eine Wahrheit, die im Laufe der Zeiten immer mehr verloren gegangen ist und für Deutschland kaum noch gekannt ist. Unter den Klagen, die zu den Zeiten Friedrich Wilhelms des Ersten und Friedrichs des Großen dringend zu gunsten einer Justizreform erhoben wurden, gehörte als die vornehmste die über die Willkür der Gerichte — eine Willkür, welche dem Zustande der in Geltung befindlichen römischen und gemeine» Rechte entsprang. Die preußische Gesetzgebung bemühte sich, diese Willkür ein¬ zudämmen und suchte für jeden Fall eine besondre Norm aufzustellen. Die Reaktion war vielleicht zu stark, aber bei einer verständigen Auslegung befand sich doch das Volk in dein Besitze einer sichern Richtschnur, nach welcher es seine Handlungen einrichten konnte. In den Teilen Deutschlands dagegen, in welchen eine Kodifikation aus dem Mangel einer starken Staatsgewalt unterblieben war, betrachtete man diese preußische Anschauung mit feindseligen Augen und erfreute sich bei dieser Richtung der Unterstützung der Theoretiker, welche ohne ihr rö¬ misches Recht nicht leben konnten und in diesem die einzige Quelle ihrer Weisheit sahen. So kam es denn, daß, als im Jahre 1866 Preußen von Hannover er¬ obert wurde — denn ü«z ta-etc» ist der hannoversche Einfluß in Preußen für die Ge¬ setzgebung nach der Annexion jahrelang der herrschende gewesen**) —, mau sofort mit allen bewährten Preußischen Grundgedanken in der Gesetzgebung brach, für dieselbe nur ganz allgemeine, in ihrer Diktion äußerlich blendende, aber innerlich zweifel- und phrasenhafte Regeln aufstellte, und im einzelnen, d. h. für die Hauptsache, alles dem richterlichen Ermessen überließ. Gleich das erste große Gesetzeswerk des neucrstcmdnen Reiches, das Strafgesetzbuch, giebt ein Zeugnis dieser Richtung. Die allgemeinen Begriffe werden nicht vom Gesetzgeber fest¬ gestellt, sondern der Wissenschaft und Praxis überlassen, d. h. in jedem einzelnen Prozesse dem mehr oder minder verständigen Ermessen der Urteilssinder. Manche strafbare Handlungen haben keine gesetzliche Abgrenzung erfahren, und wer z. B. nach eignem Ermessen glaubt, eine Beleidigung nicht verübt zu haben, der wird später zu seinem Schaden durch das richterliche Ermessen eines andern belehrt. Man rechtfertigte diesen Gedanken damit, daß man erklärte, es sei das Gesetzbuch auf die Anwendung durch Laienrichter zugeschnitten, denen man in ihrem Urteil keine Schranke auferlegen wollte. Mit andern Worten: man substituirte hier sogar dem Ermessen die schrankenlose Willkür. Man bemaß ferner die Straf- maxima und Strafminima in so weit abstehenden Zwischenräumen, daß dem Richter für den einzelnen Fall oft mehr als tausend Straffestsetzuugen zur Ver¬ fügung stehen und daß für die Wahl der einen oder andern Strafe nicht etwa *) Oiitims, Isx, (Mas irunimnm rollncMt arbitrio MÄivis, ol>timus Huäox c^ni alu- mna sibi. Seine Einflüsse sind in der S. 24S erwähnten Schrift von Dr. Bühr, auf welche wir in einem besondern Artikel zurückkommen werden, in helle Beleuchtung gestellt worden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/254>, abgerufen am 01.09.2024.