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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Die Abfassung richterlicher Urteile,

durch allerhand Anspielungen eine tadelnde Kritik gegen das ganze Verhalten
Stöckers geübt werden sollen.

Zu einer solchen erhebt sich dann auch noch am Schlüsse das Urteil. Dem
Ausspruche, daß das Gericht Stöcker nicht einen bewußten Konflikt mit der
Wahrheit "unterschieben" könne und wolle, wird der weitere Ausspruch zugefügt,
daß das ganze Auftreten Stöckers ein unvorsichtiges, ja sogar (wie der Gerichts¬
hof ausdrücklich den Vorsitzenden zu sagen beauftragt habe) ein mindestens leicht¬
fertiges gewesen sei. Wozu dieser Vorwurf? Gehörte er zur Beurteilung des
Vergehens des Angeklagten? Oder war etwa Stöcker selbst der "Angeklagte"
(wie ihn allerdings der Vorsitzende mehrfach aus Versehen nannte)? Und wenn
auch der Ausspruch, daß Stöcker "unvorsichtig" gehandelt -- was wohl niemand
bezweifelt --, notwendig gewesen wäre, weshalb dann noch ihm durch den ge¬
steigerten Vorwurf der "Leichtfertigkeit" auch einen subjektiven Makel anhangen?

Zu allen diesen kritischen Bemerkungen über Stöcker hatte der Gerichtshof
durchaus keinen Beruf. Durch dieselben hat er aber gerade dasjenige herbeigeführt,
was er nach dem in der Einleitung des Urteils gesagten vermeiden wollte.
Er hat ein Urteil erlassen, welches der von der Verteidigung in den Prozeß
hineingetragenen politischen Tendenz volles Wasser ans die Mühle gab. Der
Prozeß wurde nun kurzweg "der Prozeß Stöcker" genannt. In einer Anzahl
von Blättern erschien sofort eine Blumenlese aus dem Urteil, welche alle die
gegen Stöcker gerichteten Spitzen dem Publikum preisgab. Und wo das Urteil
in seiner Gesamtheit wiedergegeben wurde, da waren jene Spitzen mit gesperrter
Schrift gedruckt, um sie als den eigentlichen Inhalt des Urteils erscheinen zu
lassen. Unzählige Artikel folgten dann, welche aus dem so zurechtgemachten
Urteile die gehässigsten Folgerungen zogen. Diese ganze wüste Agitation wäre
vermieden worden, wenn man mit größerer Vorsicht die Entscheidungsgründe
gefaßt, namentlich sich streng auf dasjenige beschränkt Hütte, was zur Sache
gehörte.

Ihrem allgemeinsten Grund haben solche beklagenswerte Erscheinungen in
der Thatsache, daß überhaupt in unsern Urteilssprüchen eine Redseligkeit ein¬
gerissen ist, die man früher nicht kannte. Früher war es der Ruhm des Richters,
sich möglichst knapp und präzis auszudrücken, auch nicht ein Wort mehr zu sagen,
als die rechtliche Beurteilung des Falles erheischte. Heute betrachten viele Richter
das Urteil als die Stelle, wo sie ihren Herzensergießungen freien Lauf lassen
können. Tritt dann noch der Reiz des Sensationsbedürfnisses und vielleicht
der Mangel an zureichenden Geschick hinzu, so kommt es leicht zu den un¬
passendsten Auslassungen. Es würde eine Wohlthat für die Rechtsprechung sein,
wenn die höheren Justizverwaltungen gegebene Veranlassungen benutzten, um
die Richter von solchen Abwegen zurückzuführen. Sicherlich gehört das Er¬
gehen in nutzlosen Redeweisen nicht zur richterlichen Selbständigkeit und Un¬
abhängigkeit. ___




Die Abfassung richterlicher Urteile,

durch allerhand Anspielungen eine tadelnde Kritik gegen das ganze Verhalten
Stöckers geübt werden sollen.

Zu einer solchen erhebt sich dann auch noch am Schlüsse das Urteil. Dem
Ausspruche, daß das Gericht Stöcker nicht einen bewußten Konflikt mit der
Wahrheit „unterschieben" könne und wolle, wird der weitere Ausspruch zugefügt,
daß das ganze Auftreten Stöckers ein unvorsichtiges, ja sogar (wie der Gerichts¬
hof ausdrücklich den Vorsitzenden zu sagen beauftragt habe) ein mindestens leicht¬
fertiges gewesen sei. Wozu dieser Vorwurf? Gehörte er zur Beurteilung des
Vergehens des Angeklagten? Oder war etwa Stöcker selbst der „Angeklagte"
(wie ihn allerdings der Vorsitzende mehrfach aus Versehen nannte)? Und wenn
auch der Ausspruch, daß Stöcker „unvorsichtig" gehandelt — was wohl niemand
bezweifelt —, notwendig gewesen wäre, weshalb dann noch ihm durch den ge¬
steigerten Vorwurf der „Leichtfertigkeit" auch einen subjektiven Makel anhangen?

Zu allen diesen kritischen Bemerkungen über Stöcker hatte der Gerichtshof
durchaus keinen Beruf. Durch dieselben hat er aber gerade dasjenige herbeigeführt,
was er nach dem in der Einleitung des Urteils gesagten vermeiden wollte.
Er hat ein Urteil erlassen, welches der von der Verteidigung in den Prozeß
hineingetragenen politischen Tendenz volles Wasser ans die Mühle gab. Der
Prozeß wurde nun kurzweg „der Prozeß Stöcker" genannt. In einer Anzahl
von Blättern erschien sofort eine Blumenlese aus dem Urteil, welche alle die
gegen Stöcker gerichteten Spitzen dem Publikum preisgab. Und wo das Urteil
in seiner Gesamtheit wiedergegeben wurde, da waren jene Spitzen mit gesperrter
Schrift gedruckt, um sie als den eigentlichen Inhalt des Urteils erscheinen zu
lassen. Unzählige Artikel folgten dann, welche aus dem so zurechtgemachten
Urteile die gehässigsten Folgerungen zogen. Diese ganze wüste Agitation wäre
vermieden worden, wenn man mit größerer Vorsicht die Entscheidungsgründe
gefaßt, namentlich sich streng auf dasjenige beschränkt Hütte, was zur Sache
gehörte.

Ihrem allgemeinsten Grund haben solche beklagenswerte Erscheinungen in
der Thatsache, daß überhaupt in unsern Urteilssprüchen eine Redseligkeit ein¬
gerissen ist, die man früher nicht kannte. Früher war es der Ruhm des Richters,
sich möglichst knapp und präzis auszudrücken, auch nicht ein Wort mehr zu sagen,
als die rechtliche Beurteilung des Falles erheischte. Heute betrachten viele Richter
das Urteil als die Stelle, wo sie ihren Herzensergießungen freien Lauf lassen
können. Tritt dann noch der Reiz des Sensationsbedürfnisses und vielleicht
der Mangel an zureichenden Geschick hinzu, so kommt es leicht zu den un¬
passendsten Auslassungen. Es würde eine Wohlthat für die Rechtsprechung sein,
wenn die höheren Justizverwaltungen gegebene Veranlassungen benutzten, um
die Richter von solchen Abwegen zurückzuführen. Sicherlich gehört das Er¬
gehen in nutzlosen Redeweisen nicht zur richterlichen Selbständigkeit und Un¬
abhängigkeit. ___




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/22>, abgerufen am 22.11.2024.