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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Zum Weimarer Jubilare.

gefunden haben. Wegen des sehr anstößigen Inhalts habe man beschlossen, die¬
selben nicht zu veröffentlichen.

Die endgiltige Ausgabe wird also nicht vollständig sein? Wir gestehen,
daß wir von dieser Ankündigung seltsam überrascht worden sind. Nicht der
wenigen Zeilen wegen, die der allgemeinen Kenntnis entzogen bleiben sollen;
obgleich uns jede Zeile Goethes, jeder Strahl seines Geistes heilig sein sollte,
und wenn er auch aus Dämpfen von Pech und Schwefel hervorbräche.

Die Frage, die man sich aufwirft, liegt tiefer. Wer urteilt denn hier über
Goethe? fragt man sich. Wer sühlt sich denn so sicher, in solchem Falle über
dichterische Wohlanstnndigkeit zu Gericht sitzen zu dürfen? Es sind herkömm-
lichermaßcn die "berufensten Männer unsrer Zeit," das ist ja unbestritten.
Aber ohne unsre Zeit verkleinern zu wollen: messen wir doch einmal ihren
Geist mit dem Geiste Goethes. Wir von hente werden alle einmal spurlos
hinweggespült worden sein -- alle bis auf einen, und der ist nicht Mit¬
glied der Gocthcgesellschaft. Die Enge menschlichen Gedächtnisses, die Schwäche
menschlicher Empfänglichkeit sind glücklicherweise furchtbare Toteurichter am
Grenzflusse des Nachruhms. Goethe aber wird bleiben. Zu jedem kommenden
Geschlechte von Menschen wird er als Mensch, als ein Lebendiger aus der
Reihe der Schatten hinübertreten. Und Goethes bitteres Wort von dem
"Gänsegeschlecht," das unter den Rockschößen großer Toten hervorschnattert,
wird wohl auch nicht vergessen werden. Die Aussicht auf diese Bezeichnung
sollte eigentlich wenig verlockend sein. Will wirklich jemand, Arm in Arm
mit Goethe als Geistesgcnosse, wie weiland Nicolai mit Lessing, das Urteil der
Nachwelt herausfordern?

Man werfe nicht ein, Goethe selbst habe darüber schon entschieden, Goethe
selbst habe jene Verse unterdrückt. Wohl gab es einmal einen Herrn Geheimde-
rat Johann Wolfgang von Goethe, Exzellenz, Wirklichen Staatsminister,
der hat allerdings die Blätter zurückgelegt. Der ist aber schon im Jahre 1832
gestorben. Damals hat er den gestickten Frack für alle Zeiten abgethan; und
an den Popanz, welchen dann der arme Börne damit ausgestattet hat, glaubt
heute kein Mensch mehr. Und Goethe, "Wolfgang Apollo" im Strcchlcnlleide
der Ewigkeit -- der doch gewiß ein Vorgefühl von dem gehabt hat, was mit
seiner Hinterlassenschaft einst vorgenommen werden würde --, er hat die Verse
keineswegs vernichtet, er hat sie sorgsam aufbewahrt. Daß eine vorläufige
Entscheidung Goethes uns nicht binden kann, das liegt doch auf der Hand.

Und nicht nur Goethe steht uus hente anders gegenüber: auch die Zustände
haben sich geändert. Wie sehr, dessen scheint man sich nicht immer klar bewußt
zu sein. Heute giebt es kein verhängtes Allerheiligstes mehr, in das der "Li-
terat" den Strahl der Fackel nicht fallen lassen dürfte. An die wahre Dichtung
und an die reine Forschung legt kein Staatsanwalt mehr die Hand. Blicken
wir doch einmal zurück und vergleichen wir: was ist denn überhaupt noch


Zum Weimarer Jubilare.

gefunden haben. Wegen des sehr anstößigen Inhalts habe man beschlossen, die¬
selben nicht zu veröffentlichen.

Die endgiltige Ausgabe wird also nicht vollständig sein? Wir gestehen,
daß wir von dieser Ankündigung seltsam überrascht worden sind. Nicht der
wenigen Zeilen wegen, die der allgemeinen Kenntnis entzogen bleiben sollen;
obgleich uns jede Zeile Goethes, jeder Strahl seines Geistes heilig sein sollte,
und wenn er auch aus Dämpfen von Pech und Schwefel hervorbräche.

Die Frage, die man sich aufwirft, liegt tiefer. Wer urteilt denn hier über
Goethe? fragt man sich. Wer sühlt sich denn so sicher, in solchem Falle über
dichterische Wohlanstnndigkeit zu Gericht sitzen zu dürfen? Es sind herkömm-
lichermaßcn die „berufensten Männer unsrer Zeit," das ist ja unbestritten.
Aber ohne unsre Zeit verkleinern zu wollen: messen wir doch einmal ihren
Geist mit dem Geiste Goethes. Wir von hente werden alle einmal spurlos
hinweggespült worden sein — alle bis auf einen, und der ist nicht Mit¬
glied der Gocthcgesellschaft. Die Enge menschlichen Gedächtnisses, die Schwäche
menschlicher Empfänglichkeit sind glücklicherweise furchtbare Toteurichter am
Grenzflusse des Nachruhms. Goethe aber wird bleiben. Zu jedem kommenden
Geschlechte von Menschen wird er als Mensch, als ein Lebendiger aus der
Reihe der Schatten hinübertreten. Und Goethes bitteres Wort von dem
„Gänsegeschlecht," das unter den Rockschößen großer Toten hervorschnattert,
wird wohl auch nicht vergessen werden. Die Aussicht auf diese Bezeichnung
sollte eigentlich wenig verlockend sein. Will wirklich jemand, Arm in Arm
mit Goethe als Geistesgcnosse, wie weiland Nicolai mit Lessing, das Urteil der
Nachwelt herausfordern?

Man werfe nicht ein, Goethe selbst habe darüber schon entschieden, Goethe
selbst habe jene Verse unterdrückt. Wohl gab es einmal einen Herrn Geheimde-
rat Johann Wolfgang von Goethe, Exzellenz, Wirklichen Staatsminister,
der hat allerdings die Blätter zurückgelegt. Der ist aber schon im Jahre 1832
gestorben. Damals hat er den gestickten Frack für alle Zeiten abgethan; und
an den Popanz, welchen dann der arme Börne damit ausgestattet hat, glaubt
heute kein Mensch mehr. Und Goethe, „Wolfgang Apollo" im Strcchlcnlleide
der Ewigkeit — der doch gewiß ein Vorgefühl von dem gehabt hat, was mit
seiner Hinterlassenschaft einst vorgenommen werden würde —, er hat die Verse
keineswegs vernichtet, er hat sie sorgsam aufbewahrt. Daß eine vorläufige
Entscheidung Goethes uns nicht binden kann, das liegt doch auf der Hand.

Und nicht nur Goethe steht uus hente anders gegenüber: auch die Zustände
haben sich geändert. Wie sehr, dessen scheint man sich nicht immer klar bewußt
zu sein. Heute giebt es kein verhängtes Allerheiligstes mehr, in das der „Li-
terat" den Strahl der Fackel nicht fallen lassen dürfte. An die wahre Dichtung
und an die reine Forschung legt kein Staatsanwalt mehr die Hand. Blicken
wir doch einmal zurück und vergleichen wir: was ist denn überhaupt noch


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[0183] Zum Weimarer Jubilare. gefunden haben. Wegen des sehr anstößigen Inhalts habe man beschlossen, die¬ selben nicht zu veröffentlichen. Die endgiltige Ausgabe wird also nicht vollständig sein? Wir gestehen, daß wir von dieser Ankündigung seltsam überrascht worden sind. Nicht der wenigen Zeilen wegen, die der allgemeinen Kenntnis entzogen bleiben sollen; obgleich uns jede Zeile Goethes, jeder Strahl seines Geistes heilig sein sollte, und wenn er auch aus Dämpfen von Pech und Schwefel hervorbräche. Die Frage, die man sich aufwirft, liegt tiefer. Wer urteilt denn hier über Goethe? fragt man sich. Wer sühlt sich denn so sicher, in solchem Falle über dichterische Wohlanstnndigkeit zu Gericht sitzen zu dürfen? Es sind herkömm- lichermaßcn die „berufensten Männer unsrer Zeit," das ist ja unbestritten. Aber ohne unsre Zeit verkleinern zu wollen: messen wir doch einmal ihren Geist mit dem Geiste Goethes. Wir von hente werden alle einmal spurlos hinweggespült worden sein — alle bis auf einen, und der ist nicht Mit¬ glied der Gocthcgesellschaft. Die Enge menschlichen Gedächtnisses, die Schwäche menschlicher Empfänglichkeit sind glücklicherweise furchtbare Toteurichter am Grenzflusse des Nachruhms. Goethe aber wird bleiben. Zu jedem kommenden Geschlechte von Menschen wird er als Mensch, als ein Lebendiger aus der Reihe der Schatten hinübertreten. Und Goethes bitteres Wort von dem „Gänsegeschlecht," das unter den Rockschößen großer Toten hervorschnattert, wird wohl auch nicht vergessen werden. Die Aussicht auf diese Bezeichnung sollte eigentlich wenig verlockend sein. Will wirklich jemand, Arm in Arm mit Goethe als Geistesgcnosse, wie weiland Nicolai mit Lessing, das Urteil der Nachwelt herausfordern? Man werfe nicht ein, Goethe selbst habe darüber schon entschieden, Goethe selbst habe jene Verse unterdrückt. Wohl gab es einmal einen Herrn Geheimde- rat Johann Wolfgang von Goethe, Exzellenz, Wirklichen Staatsminister, der hat allerdings die Blätter zurückgelegt. Der ist aber schon im Jahre 1832 gestorben. Damals hat er den gestickten Frack für alle Zeiten abgethan; und an den Popanz, welchen dann der arme Börne damit ausgestattet hat, glaubt heute kein Mensch mehr. Und Goethe, „Wolfgang Apollo" im Strcchlcnlleide der Ewigkeit — der doch gewiß ein Vorgefühl von dem gehabt hat, was mit seiner Hinterlassenschaft einst vorgenommen werden würde —, er hat die Verse keineswegs vernichtet, er hat sie sorgsam aufbewahrt. Daß eine vorläufige Entscheidung Goethes uns nicht binden kann, das liegt doch auf der Hand. Und nicht nur Goethe steht uus hente anders gegenüber: auch die Zustände haben sich geändert. Wie sehr, dessen scheint man sich nicht immer klar bewußt zu sein. Heute giebt es kein verhängtes Allerheiligstes mehr, in das der „Li- terat" den Strahl der Fackel nicht fallen lassen dürfte. An die wahre Dichtung und an die reine Forschung legt kein Staatsanwalt mehr die Hand. Blicken wir doch einmal zurück und vergleichen wir: was ist denn überhaupt noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/183>, abgerufen am 01.09.2024.