Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Mont und auch Politik geschrieben hat, aber fast nichts über Deutschland.
Sein Blick geht nach Norte", nicht nach Osten; er vermittelt über den Kanal,
nicht über den Rhein. Aber ein sozusagen internationaler Schriftsteller ist er
doch; er beschränkt sich nicht auf Frankreich; er geht auch bei Fremden in die
Schule und bereichert mit ihren Ergebnissen, die er selbständig verarbeitet, die
französische Kultur.

Es ist hier nicht die Absicht, des Nähern auf seine philosophischen Werke
einzugehen, obwohl er selbst großes Gewicht auf sie legt. Es offenbart sich
im übrigen in diesen Werken wie in allen andern dieselbe bezeichnende Art, die
Welt und die Menschen aufzufassen. Man hat ihm ein System zugeschrieben,
und Hillebrand redet in der zu Anfang dieses Aufsatzes angeführten Stelle von
"Taines kühner Systematik." Aber in der Vorrede zu den kritischen historischen
Essais, welche vom März 1866 datirt ist, bestreitet Taine, daß er ein System
habe: er sei dazu nicht anspruchsvoll genug: er versuche nur einer Methode zu
folgen. "Ein System ist die Darlegung eines Ganzen und zeigt ein abge¬
schlossenes Werk an; eine Methode ist eine Art zu arbeiten und zeigt ein Werk
an, das erst noch gethan werden muß. Ich habe in einem gewissen Sinne und
in einer gewissen Art arbeiten wollen; nichts weiter. Die Frage ist bloß,
ob diese Art gut ist." Sie besteht darin, daß man z. B. bei der Betrachtung
eines Künstlers, Dichters oder Weisen dessen Werke in natürliche Gruppen ein¬
teilt und in jeder Gruppe ans die drei Unterschiede der Personen oder Cha¬
raktere, der Handlung oder Intrigue, des Stils oder der Art zu schreiben
sorgfältig achtet. Am Schluß der Aufzeichnung kurzer treffender Worte, welche
man zu diesem Zwecke sich macht, wird man von selbst einen unbeabsichtigten
Satz, der besonders kräftig und bezeichnend ist, bekomme!?, ihn sozusagen von
selbst in der Feder haben, welcher das Ergebnis der ganzen Operation zu¬
sammenfaßt. Man wird sehen, daß Personen, Handlung und Stil trefflich zu¬
sammenpassen, daß eins vom andern abhängt, daß, wenn eins gegeben ist, alles
andre nicht mehr anders sein kann. Nicht bloß bei Personen, sondern auch bei
Zeitaltern läßt sich dasselbe Verfahren beobachten, nur daß man hier noch
mehr lesen und noch mehr notiren muß. Man wird aber finden, daß diese
"Sorte von Chemie, welche man die psychologische Analyse nennt," bei ganzen
Zeiten zu demselben Ergebnis führt wie bei einzelnen Menschen; "zwischen einer
Hagebuche von Versailles, einem philosophischen und theologischen Urteil von
Malebrnnche, einem Versrezept von Boileau, einem Gesetz von Colbert über
Hypotheken, einem Vorzimmerkomplimeut zu Marly, einem Ausspruch von
Bossuet über das Königtum scheint der Abstand unendlich und unüberschreitbar,
keine Verbindung sichtbar." Aber die Thatsachen hängen untereinander zu¬
sammen wie die Wasser in einem Becken durch den Höhenkamm, von wo sie
herabrinnen; jede von ihnen ist eine Handlung des idealen und allgemeinen
Menschen, um den sich alle Erfindungen und alle Besonderheiten der Zeit ver-


Mont und auch Politik geschrieben hat, aber fast nichts über Deutschland.
Sein Blick geht nach Norte», nicht nach Osten; er vermittelt über den Kanal,
nicht über den Rhein. Aber ein sozusagen internationaler Schriftsteller ist er
doch; er beschränkt sich nicht auf Frankreich; er geht auch bei Fremden in die
Schule und bereichert mit ihren Ergebnissen, die er selbständig verarbeitet, die
französische Kultur.

Es ist hier nicht die Absicht, des Nähern auf seine philosophischen Werke
einzugehen, obwohl er selbst großes Gewicht auf sie legt. Es offenbart sich
im übrigen in diesen Werken wie in allen andern dieselbe bezeichnende Art, die
Welt und die Menschen aufzufassen. Man hat ihm ein System zugeschrieben,
und Hillebrand redet in der zu Anfang dieses Aufsatzes angeführten Stelle von
„Taines kühner Systematik." Aber in der Vorrede zu den kritischen historischen
Essais, welche vom März 1866 datirt ist, bestreitet Taine, daß er ein System
habe: er sei dazu nicht anspruchsvoll genug: er versuche nur einer Methode zu
folgen. „Ein System ist die Darlegung eines Ganzen und zeigt ein abge¬
schlossenes Werk an; eine Methode ist eine Art zu arbeiten und zeigt ein Werk
an, das erst noch gethan werden muß. Ich habe in einem gewissen Sinne und
in einer gewissen Art arbeiten wollen; nichts weiter. Die Frage ist bloß,
ob diese Art gut ist." Sie besteht darin, daß man z. B. bei der Betrachtung
eines Künstlers, Dichters oder Weisen dessen Werke in natürliche Gruppen ein¬
teilt und in jeder Gruppe ans die drei Unterschiede der Personen oder Cha¬
raktere, der Handlung oder Intrigue, des Stils oder der Art zu schreiben
sorgfältig achtet. Am Schluß der Aufzeichnung kurzer treffender Worte, welche
man zu diesem Zwecke sich macht, wird man von selbst einen unbeabsichtigten
Satz, der besonders kräftig und bezeichnend ist, bekomme!?, ihn sozusagen von
selbst in der Feder haben, welcher das Ergebnis der ganzen Operation zu¬
sammenfaßt. Man wird sehen, daß Personen, Handlung und Stil trefflich zu¬
sammenpassen, daß eins vom andern abhängt, daß, wenn eins gegeben ist, alles
andre nicht mehr anders sein kann. Nicht bloß bei Personen, sondern auch bei
Zeitaltern läßt sich dasselbe Verfahren beobachten, nur daß man hier noch
mehr lesen und noch mehr notiren muß. Man wird aber finden, daß diese
„Sorte von Chemie, welche man die psychologische Analyse nennt," bei ganzen
Zeiten zu demselben Ergebnis führt wie bei einzelnen Menschen; „zwischen einer
Hagebuche von Versailles, einem philosophischen und theologischen Urteil von
Malebrnnche, einem Versrezept von Boileau, einem Gesetz von Colbert über
Hypotheken, einem Vorzimmerkomplimeut zu Marly, einem Ausspruch von
Bossuet über das Königtum scheint der Abstand unendlich und unüberschreitbar,
keine Verbindung sichtbar." Aber die Thatsachen hängen untereinander zu¬
sammen wie die Wasser in einem Becken durch den Höhenkamm, von wo sie
herabrinnen; jede von ihnen ist eine Handlung des idealen und allgemeinen
Menschen, um den sich alle Erfindungen und alle Besonderheiten der Zeit ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0179" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196279"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_678" prev="#ID_677"> Mont und auch Politik geschrieben hat, aber fast nichts über Deutschland.<lb/>
Sein Blick geht nach Norte», nicht nach Osten; er vermittelt über den Kanal,<lb/>
nicht über den Rhein. Aber ein sozusagen internationaler Schriftsteller ist er<lb/>
doch; er beschränkt sich nicht auf Frankreich; er geht auch bei Fremden in die<lb/>
Schule und bereichert mit ihren Ergebnissen, die er selbständig verarbeitet, die<lb/>
französische Kultur.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_679" next="#ID_680"> Es ist hier nicht die Absicht, des Nähern auf seine philosophischen Werke<lb/>
einzugehen, obwohl er selbst großes Gewicht auf sie legt. Es offenbart sich<lb/>
im übrigen in diesen Werken wie in allen andern dieselbe bezeichnende Art, die<lb/>
Welt und die Menschen aufzufassen. Man hat ihm ein System zugeschrieben,<lb/>
und Hillebrand redet in der zu Anfang dieses Aufsatzes angeführten Stelle von<lb/>
&#x201E;Taines kühner Systematik." Aber in der Vorrede zu den kritischen historischen<lb/>
Essais, welche vom März 1866 datirt ist, bestreitet Taine, daß er ein System<lb/>
habe: er sei dazu nicht anspruchsvoll genug: er versuche nur einer Methode zu<lb/>
folgen. &#x201E;Ein System ist die Darlegung eines Ganzen und zeigt ein abge¬<lb/>
schlossenes Werk an; eine Methode ist eine Art zu arbeiten und zeigt ein Werk<lb/>
an, das erst noch gethan werden muß. Ich habe in einem gewissen Sinne und<lb/>
in einer gewissen Art arbeiten wollen; nichts weiter. Die Frage ist bloß,<lb/>
ob diese Art gut ist." Sie besteht darin, daß man z. B. bei der Betrachtung<lb/>
eines Künstlers, Dichters oder Weisen dessen Werke in natürliche Gruppen ein¬<lb/>
teilt und in jeder Gruppe ans die drei Unterschiede der Personen oder Cha¬<lb/>
raktere, der Handlung oder Intrigue, des Stils oder der Art zu schreiben<lb/>
sorgfältig achtet. Am Schluß der Aufzeichnung kurzer treffender Worte, welche<lb/>
man zu diesem Zwecke sich macht, wird man von selbst einen unbeabsichtigten<lb/>
Satz, der besonders kräftig und bezeichnend ist, bekomme!?, ihn sozusagen von<lb/>
selbst in der Feder haben, welcher das Ergebnis der ganzen Operation zu¬<lb/>
sammenfaßt. Man wird sehen, daß Personen, Handlung und Stil trefflich zu¬<lb/>
sammenpassen, daß eins vom andern abhängt, daß, wenn eins gegeben ist, alles<lb/>
andre nicht mehr anders sein kann. Nicht bloß bei Personen, sondern auch bei<lb/>
Zeitaltern läßt sich dasselbe Verfahren beobachten, nur daß man hier noch<lb/>
mehr lesen und noch mehr notiren muß. Man wird aber finden, daß diese<lb/>
&#x201E;Sorte von Chemie, welche man die psychologische Analyse nennt," bei ganzen<lb/>
Zeiten zu demselben Ergebnis führt wie bei einzelnen Menschen; &#x201E;zwischen einer<lb/>
Hagebuche von Versailles, einem philosophischen und theologischen Urteil von<lb/>
Malebrnnche, einem Versrezept von Boileau, einem Gesetz von Colbert über<lb/>
Hypotheken, einem Vorzimmerkomplimeut zu Marly, einem Ausspruch von<lb/>
Bossuet über das Königtum scheint der Abstand unendlich und unüberschreitbar,<lb/>
keine Verbindung sichtbar." Aber die Thatsachen hängen untereinander zu¬<lb/>
sammen wie die Wasser in einem Becken durch den Höhenkamm, von wo sie<lb/>
herabrinnen; jede von ihnen ist eine Handlung des idealen und allgemeinen<lb/>
Menschen, um den sich alle Erfindungen und alle Besonderheiten der Zeit ver-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0179] Mont und auch Politik geschrieben hat, aber fast nichts über Deutschland. Sein Blick geht nach Norte», nicht nach Osten; er vermittelt über den Kanal, nicht über den Rhein. Aber ein sozusagen internationaler Schriftsteller ist er doch; er beschränkt sich nicht auf Frankreich; er geht auch bei Fremden in die Schule und bereichert mit ihren Ergebnissen, die er selbständig verarbeitet, die französische Kultur. Es ist hier nicht die Absicht, des Nähern auf seine philosophischen Werke einzugehen, obwohl er selbst großes Gewicht auf sie legt. Es offenbart sich im übrigen in diesen Werken wie in allen andern dieselbe bezeichnende Art, die Welt und die Menschen aufzufassen. Man hat ihm ein System zugeschrieben, und Hillebrand redet in der zu Anfang dieses Aufsatzes angeführten Stelle von „Taines kühner Systematik." Aber in der Vorrede zu den kritischen historischen Essais, welche vom März 1866 datirt ist, bestreitet Taine, daß er ein System habe: er sei dazu nicht anspruchsvoll genug: er versuche nur einer Methode zu folgen. „Ein System ist die Darlegung eines Ganzen und zeigt ein abge¬ schlossenes Werk an; eine Methode ist eine Art zu arbeiten und zeigt ein Werk an, das erst noch gethan werden muß. Ich habe in einem gewissen Sinne und in einer gewissen Art arbeiten wollen; nichts weiter. Die Frage ist bloß, ob diese Art gut ist." Sie besteht darin, daß man z. B. bei der Betrachtung eines Künstlers, Dichters oder Weisen dessen Werke in natürliche Gruppen ein¬ teilt und in jeder Gruppe ans die drei Unterschiede der Personen oder Cha¬ raktere, der Handlung oder Intrigue, des Stils oder der Art zu schreiben sorgfältig achtet. Am Schluß der Aufzeichnung kurzer treffender Worte, welche man zu diesem Zwecke sich macht, wird man von selbst einen unbeabsichtigten Satz, der besonders kräftig und bezeichnend ist, bekomme!?, ihn sozusagen von selbst in der Feder haben, welcher das Ergebnis der ganzen Operation zu¬ sammenfaßt. Man wird sehen, daß Personen, Handlung und Stil trefflich zu¬ sammenpassen, daß eins vom andern abhängt, daß, wenn eins gegeben ist, alles andre nicht mehr anders sein kann. Nicht bloß bei Personen, sondern auch bei Zeitaltern läßt sich dasselbe Verfahren beobachten, nur daß man hier noch mehr lesen und noch mehr notiren muß. Man wird aber finden, daß diese „Sorte von Chemie, welche man die psychologische Analyse nennt," bei ganzen Zeiten zu demselben Ergebnis führt wie bei einzelnen Menschen; „zwischen einer Hagebuche von Versailles, einem philosophischen und theologischen Urteil von Malebrnnche, einem Versrezept von Boileau, einem Gesetz von Colbert über Hypotheken, einem Vorzimmerkomplimeut zu Marly, einem Ausspruch von Bossuet über das Königtum scheint der Abstand unendlich und unüberschreitbar, keine Verbindung sichtbar." Aber die Thatsachen hängen untereinander zu¬ sammen wie die Wasser in einem Becken durch den Höhenkamm, von wo sie herabrinnen; jede von ihnen ist eine Handlung des idealen und allgemeinen Menschen, um den sich alle Erfindungen und alle Besonderheiten der Zeit ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/179
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/179>, abgerufen am 24.11.2024.