Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus.

daß gewissermaßen der ganze heutige Konservatismus, um noch bestandsfähig
zu sein, sich auf eine liberale Grundlage habe stellen müssen. Eröffnet hat
diesen Chorus Gustav Freytag, indem er in einem, an andrer Stelle neulich
von uns erwähnten Passus meint, der konservativste Gutsbesitzer bewege sich
heutzutage doch in einer ganz liberalen oder dem Liberalismus entstammten
Ideenwelt, und würde geradezu in Entsetzen geraten, wenn es möglich wäre,
ihn auf den geistigen und wirtschaftlichen Standpunkt zurückzuschrauben, den
seine Vorfahren in der von ihm selbst so hochgepriesenen "guten alten Zeit"
eingenommen hätten. Dieses und ähnliches ist seitdem ein beliebtes Thema
liberaler Zeitungen geworden, zumal solcher, welche sich ihrer Unbefangenheit und
ihres billige" Urteils gegenüber einem "berechtigten Konservatismus" rühmen;
da wird denn den Leser" versichert, alle berechtigten Bestrebungen des Konser¬
vatismus seien ans liberaler Initiative hervorgegangen oder doch auf liberale
Grundideen zurückzuführen, und der heutige Konservative gehöre im Vergleich
zu frühern eigentlich schon zu den Liberalen, Es ist ja etwas Wahres daran;
aber kann der Satz nicht genau mit demselben Rechte umgekehrt werden? Wer
wagt es heute noch, die alten materialistischen, religionsfeindlichen Ideen, das
Achselzucken über den Gedanken, die erbliche Monarchie-könne in unsrer Zeit
noch Bestand und innere Festigkeit haben, die bittere Abgeneigtheit gegen jeden
Staatsbetrieb und jeden, über die Sphäre der Rechts- und Sicherheitswahrung
hinausgehenden Einfluß des Staates, die Feindseligkeit und den giftigen Spott
gegen die Idee der stehenden Heere, der Berufsoffiziere und der strammen
militärischen Disziplin, die halb gleichgültige, halb schroffe Abwendung von aller
Befassung mit spezifischen Arbeiterinteressen -- wer wagt es, fragen wir, die
feindselige Stellung in allen diesen Dingen heute noch als Postulat des
Liberalismus zu bezeichnen? Will man aber leugnen, daß der Liberalismus
von einem scharfen, bewußten Gegensatze gegen dieselben seinen Ausgangspunkt
genommen, und daß der Konservatismus sie erhalten und gepflegt und endlich
den Gedanken ihrer Notwendigkeit in das Bewußtsein des lebenden Geschlechtes
eingepflanzt hat? Achtung vor Religion, Monarchie, wirtschaftlicher und sozialer
Thätigkeit des Staates, gediegenem Heerwesen, sozialen Zeitbedürfnissen hat der
Konservatismus dem Liberalismus abgerungen; gegenwärtig ist er damit be¬
schäftigt, ihm das Geständnis abzuringen, daß Landwirtschaft und Handwerk
uuter keinen Umstände" untergehen dürfen, und er hofft, daß die Zeit kommen
werde, wo die Notwendigkeit aller hier aufgeführten Punkte gerade so gut zum
Gemeingute aller geworden sein wird, wie die Grundsätze der freien Bewegung und
Niederlassung, der Gewissensfreiheit, der Teilnahme weitester Bevölkerungskreise
an der Staatsverwaltung :c,, die -- warum sollten wir es leugnen? -- der
Liberalismus dem Konservatismus abgerungen hat. Oder sollte man etwa be¬
haupten wollen, in den von uns angeführten Dingen liege immerhin nichts
Prinzipielles, sondern nur das Produkt gewisser, unsrer politischen Entwicklung


Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus.

daß gewissermaßen der ganze heutige Konservatismus, um noch bestandsfähig
zu sein, sich auf eine liberale Grundlage habe stellen müssen. Eröffnet hat
diesen Chorus Gustav Freytag, indem er in einem, an andrer Stelle neulich
von uns erwähnten Passus meint, der konservativste Gutsbesitzer bewege sich
heutzutage doch in einer ganz liberalen oder dem Liberalismus entstammten
Ideenwelt, und würde geradezu in Entsetzen geraten, wenn es möglich wäre,
ihn auf den geistigen und wirtschaftlichen Standpunkt zurückzuschrauben, den
seine Vorfahren in der von ihm selbst so hochgepriesenen „guten alten Zeit"
eingenommen hätten. Dieses und ähnliches ist seitdem ein beliebtes Thema
liberaler Zeitungen geworden, zumal solcher, welche sich ihrer Unbefangenheit und
ihres billige» Urteils gegenüber einem „berechtigten Konservatismus" rühmen;
da wird denn den Leser» versichert, alle berechtigten Bestrebungen des Konser¬
vatismus seien ans liberaler Initiative hervorgegangen oder doch auf liberale
Grundideen zurückzuführen, und der heutige Konservative gehöre im Vergleich
zu frühern eigentlich schon zu den Liberalen, Es ist ja etwas Wahres daran;
aber kann der Satz nicht genau mit demselben Rechte umgekehrt werden? Wer
wagt es heute noch, die alten materialistischen, religionsfeindlichen Ideen, das
Achselzucken über den Gedanken, die erbliche Monarchie-könne in unsrer Zeit
noch Bestand und innere Festigkeit haben, die bittere Abgeneigtheit gegen jeden
Staatsbetrieb und jeden, über die Sphäre der Rechts- und Sicherheitswahrung
hinausgehenden Einfluß des Staates, die Feindseligkeit und den giftigen Spott
gegen die Idee der stehenden Heere, der Berufsoffiziere und der strammen
militärischen Disziplin, die halb gleichgültige, halb schroffe Abwendung von aller
Befassung mit spezifischen Arbeiterinteressen — wer wagt es, fragen wir, die
feindselige Stellung in allen diesen Dingen heute noch als Postulat des
Liberalismus zu bezeichnen? Will man aber leugnen, daß der Liberalismus
von einem scharfen, bewußten Gegensatze gegen dieselben seinen Ausgangspunkt
genommen, und daß der Konservatismus sie erhalten und gepflegt und endlich
den Gedanken ihrer Notwendigkeit in das Bewußtsein des lebenden Geschlechtes
eingepflanzt hat? Achtung vor Religion, Monarchie, wirtschaftlicher und sozialer
Thätigkeit des Staates, gediegenem Heerwesen, sozialen Zeitbedürfnissen hat der
Konservatismus dem Liberalismus abgerungen; gegenwärtig ist er damit be¬
schäftigt, ihm das Geständnis abzuringen, daß Landwirtschaft und Handwerk
uuter keinen Umstände» untergehen dürfen, und er hofft, daß die Zeit kommen
werde, wo die Notwendigkeit aller hier aufgeführten Punkte gerade so gut zum
Gemeingute aller geworden sein wird, wie die Grundsätze der freien Bewegung und
Niederlassung, der Gewissensfreiheit, der Teilnahme weitester Bevölkerungskreise
an der Staatsverwaltung :c,, die — warum sollten wir es leugnen? — der
Liberalismus dem Konservatismus abgerungen hat. Oder sollte man etwa be¬
haupten wollen, in den von uns angeführten Dingen liege immerhin nichts
Prinzipielles, sondern nur das Produkt gewisser, unsrer politischen Entwicklung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0164" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196264"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_624" prev="#ID_623" next="#ID_625"> daß gewissermaßen der ganze heutige Konservatismus, um noch bestandsfähig<lb/>
zu sein, sich auf eine liberale Grundlage habe stellen müssen. Eröffnet hat<lb/>
diesen Chorus Gustav Freytag, indem er in einem, an andrer Stelle neulich<lb/>
von uns erwähnten Passus meint, der konservativste Gutsbesitzer bewege sich<lb/>
heutzutage doch in einer ganz liberalen oder dem Liberalismus entstammten<lb/>
Ideenwelt, und würde geradezu in Entsetzen geraten, wenn es möglich wäre,<lb/>
ihn auf den geistigen und wirtschaftlichen Standpunkt zurückzuschrauben, den<lb/>
seine Vorfahren in der von ihm selbst so hochgepriesenen &#x201E;guten alten Zeit"<lb/>
eingenommen hätten. Dieses und ähnliches ist seitdem ein beliebtes Thema<lb/>
liberaler Zeitungen geworden, zumal solcher, welche sich ihrer Unbefangenheit und<lb/>
ihres billige» Urteils gegenüber einem &#x201E;berechtigten Konservatismus" rühmen;<lb/>
da wird denn den Leser» versichert, alle berechtigten Bestrebungen des Konser¬<lb/>
vatismus seien ans liberaler Initiative hervorgegangen oder doch auf liberale<lb/>
Grundideen zurückzuführen, und der heutige Konservative gehöre im Vergleich<lb/>
zu frühern eigentlich schon zu den Liberalen, Es ist ja etwas Wahres daran;<lb/>
aber kann der Satz nicht genau mit demselben Rechte umgekehrt werden? Wer<lb/>
wagt es heute noch, die alten materialistischen, religionsfeindlichen Ideen, das<lb/>
Achselzucken über den Gedanken, die erbliche Monarchie-könne in unsrer Zeit<lb/>
noch Bestand und innere Festigkeit haben, die bittere Abgeneigtheit gegen jeden<lb/>
Staatsbetrieb und jeden, über die Sphäre der Rechts- und Sicherheitswahrung<lb/>
hinausgehenden Einfluß des Staates, die Feindseligkeit und den giftigen Spott<lb/>
gegen die Idee der stehenden Heere, der Berufsoffiziere und der strammen<lb/>
militärischen Disziplin, die halb gleichgültige, halb schroffe Abwendung von aller<lb/>
Befassung mit spezifischen Arbeiterinteressen &#x2014; wer wagt es, fragen wir, die<lb/>
feindselige Stellung in allen diesen Dingen heute noch als Postulat des<lb/>
Liberalismus zu bezeichnen? Will man aber leugnen, daß der Liberalismus<lb/>
von einem scharfen, bewußten Gegensatze gegen dieselben seinen Ausgangspunkt<lb/>
genommen, und daß der Konservatismus sie erhalten und gepflegt und endlich<lb/>
den Gedanken ihrer Notwendigkeit in das Bewußtsein des lebenden Geschlechtes<lb/>
eingepflanzt hat? Achtung vor Religion, Monarchie, wirtschaftlicher und sozialer<lb/>
Thätigkeit des Staates, gediegenem Heerwesen, sozialen Zeitbedürfnissen hat der<lb/>
Konservatismus dem Liberalismus abgerungen; gegenwärtig ist er damit be¬<lb/>
schäftigt, ihm das Geständnis abzuringen, daß Landwirtschaft und Handwerk<lb/>
uuter keinen Umstände» untergehen dürfen, und er hofft, daß die Zeit kommen<lb/>
werde, wo die Notwendigkeit aller hier aufgeführten Punkte gerade so gut zum<lb/>
Gemeingute aller geworden sein wird, wie die Grundsätze der freien Bewegung und<lb/>
Niederlassung, der Gewissensfreiheit, der Teilnahme weitester Bevölkerungskreise<lb/>
an der Staatsverwaltung :c,, die &#x2014; warum sollten wir es leugnen? &#x2014; der<lb/>
Liberalismus dem Konservatismus abgerungen hat. Oder sollte man etwa be¬<lb/>
haupten wollen, in den von uns angeführten Dingen liege immerhin nichts<lb/>
Prinzipielles, sondern nur das Produkt gewisser, unsrer politischen Entwicklung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0164] Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus. daß gewissermaßen der ganze heutige Konservatismus, um noch bestandsfähig zu sein, sich auf eine liberale Grundlage habe stellen müssen. Eröffnet hat diesen Chorus Gustav Freytag, indem er in einem, an andrer Stelle neulich von uns erwähnten Passus meint, der konservativste Gutsbesitzer bewege sich heutzutage doch in einer ganz liberalen oder dem Liberalismus entstammten Ideenwelt, und würde geradezu in Entsetzen geraten, wenn es möglich wäre, ihn auf den geistigen und wirtschaftlichen Standpunkt zurückzuschrauben, den seine Vorfahren in der von ihm selbst so hochgepriesenen „guten alten Zeit" eingenommen hätten. Dieses und ähnliches ist seitdem ein beliebtes Thema liberaler Zeitungen geworden, zumal solcher, welche sich ihrer Unbefangenheit und ihres billige» Urteils gegenüber einem „berechtigten Konservatismus" rühmen; da wird denn den Leser» versichert, alle berechtigten Bestrebungen des Konser¬ vatismus seien ans liberaler Initiative hervorgegangen oder doch auf liberale Grundideen zurückzuführen, und der heutige Konservative gehöre im Vergleich zu frühern eigentlich schon zu den Liberalen, Es ist ja etwas Wahres daran; aber kann der Satz nicht genau mit demselben Rechte umgekehrt werden? Wer wagt es heute noch, die alten materialistischen, religionsfeindlichen Ideen, das Achselzucken über den Gedanken, die erbliche Monarchie-könne in unsrer Zeit noch Bestand und innere Festigkeit haben, die bittere Abgeneigtheit gegen jeden Staatsbetrieb und jeden, über die Sphäre der Rechts- und Sicherheitswahrung hinausgehenden Einfluß des Staates, die Feindseligkeit und den giftigen Spott gegen die Idee der stehenden Heere, der Berufsoffiziere und der strammen militärischen Disziplin, die halb gleichgültige, halb schroffe Abwendung von aller Befassung mit spezifischen Arbeiterinteressen — wer wagt es, fragen wir, die feindselige Stellung in allen diesen Dingen heute noch als Postulat des Liberalismus zu bezeichnen? Will man aber leugnen, daß der Liberalismus von einem scharfen, bewußten Gegensatze gegen dieselben seinen Ausgangspunkt genommen, und daß der Konservatismus sie erhalten und gepflegt und endlich den Gedanken ihrer Notwendigkeit in das Bewußtsein des lebenden Geschlechtes eingepflanzt hat? Achtung vor Religion, Monarchie, wirtschaftlicher und sozialer Thätigkeit des Staates, gediegenem Heerwesen, sozialen Zeitbedürfnissen hat der Konservatismus dem Liberalismus abgerungen; gegenwärtig ist er damit be¬ schäftigt, ihm das Geständnis abzuringen, daß Landwirtschaft und Handwerk uuter keinen Umstände» untergehen dürfen, und er hofft, daß die Zeit kommen werde, wo die Notwendigkeit aller hier aufgeführten Punkte gerade so gut zum Gemeingute aller geworden sein wird, wie die Grundsätze der freien Bewegung und Niederlassung, der Gewissensfreiheit, der Teilnahme weitester Bevölkerungskreise an der Staatsverwaltung :c,, die — warum sollten wir es leugnen? — der Liberalismus dem Konservatismus abgerungen hat. Oder sollte man etwa be¬ haupten wollen, in den von uns angeführten Dingen liege immerhin nichts Prinzipielles, sondern nur das Produkt gewisser, unsrer politischen Entwicklung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/164
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/164>, abgerufen am 28.07.2024.