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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Der Ministerwechsel in London.

gründete. Im Oberhause war er zu jeder Zeit ein eifriger und schneidiger
Gegner Gladstones, sodaß man sagen konnte, der eigentliche Führer der Oppo¬
sition sitze jetzt nicht, wie sonst üblich, unter den Gemeinen, sondern unter den
Peers. Sir Stafford Northcote oder, wie wir ihn fortan nennen müssen,
Lord Jddesleigh, der neue erste Lord des Schatzamtes, ist eine weichere und an¬
spruchslosere Natur und mit dieser Eigenschaft allgemein beliebt. Er ist zwölf
Jahre nider als Salisbury und gehört schon seit 1855 dem Unterhause an, in
welchem er zuletzt mehrere Jahre die Opposition gegen Gladstone leitete. Er
beobachtete dabei immer, teils seinem Charakter gemäß, teils wohl in Erinnerung
an den Umstand, daß er einmal Privatsekretär Gladstones als Präsidenten des
Handclsamtes gewesen, eine gewisse Schonung und Zurückhaltung, die zuweilen
wie Mädeben aussah. Dagegen war er ein fleißiger und solider Arbeiter und
in finanziellen Dingen wohlerfahren, Eigeuschnften, mit denen er sich auch in
seiner neuen Stellung nützlich machen wird. Für die auswärtige Politik kommt
er nicht in Betracht. Was ihm an Schärfe und Thatkraft abgeht, besitzt in
hohem Grade sein jüngerer Kollege Lord Nandolph Churchill, ein Nachkomme
des berühmten Feldherrn Marlborough, dessen fünften Nachfolger in der Her-
z^gswürde er zum Vater hat. Kaum sechsunddreißig Jahre alt und erst seit
zehn Jahren Mitglied des Parlaments, bildet er, dem das wichtige Departe¬
ment der indischen Angelegenheiten zugeteilt worden ist, das sensationelle Ele¬
ment in dem neuen Kabinet. Er ist ein recht eigentümlicher Konservativer,
dieser Lord, ein Vertreter des radikalen Torhtums. Wie die Whigs einen linken
Flügel haben, so haben die Tories in ihm und seinen Freunden, die sich neben
den Parnelliten, der "dritten Partei," als "vierte Partei" gefallen, ebenfalls
ein solches Nebenglied, das besonders sozialpolitische Zwecke verfolgt und, halb
aus Laune und zum Vergnügen, halb aus praktischen Erwägungen, das Loos
der Arbeiter zu verbessern strebt. Lord Churchill ist ein Feuerbrand, ein Stürmer
und Dränger, aber zugleich ein Talent, das eine Zukunft zu haben scheint.
Dieser brillante Rekrut der Altkonservativen mit dem sozialistischen Anfluge hat
sich die hohe Stelle, welche er jetzt einnimmt, ohne Zweifel mehr durch seinen
Einfluß außerhalb der Schranken des Parlaments als durch seine leidenschaft¬
liche und nicht selten maßlose Polemik im Hause der Gemeinen erworben. Das
Land schätzt und bewundert seine Unerschrockenheit, sein dreistes Auftreten, sein
Selbstvertrauen; sein vulkanisches Wesen imponirt, besonders neben der Weise
Northeotes, alles mit Sammethandschuhen anzufassen und sich ängstlich vor Ver¬
letzung zu hüten, seine Reden werden von Freund und Feind mit Begier an¬
gehört und gelesen, und trotz mancher Stellen, welche die Klugheit bedauern mag,
ist nicht zu leugnen, daß der geistvolle Spott und Tadel, mit dem er, in dieser
Beziehung an den Bismarck der Revolutionszeit und der Jahre des Konflikts
erinnernd, die Gegner überschüttete, seiner Partei sehr nützliche Dienste geleistet
und manchem ein Licht über die Schwachen und Thorheiten der Liberalen auf-


Der Ministerwechsel in London.

gründete. Im Oberhause war er zu jeder Zeit ein eifriger und schneidiger
Gegner Gladstones, sodaß man sagen konnte, der eigentliche Führer der Oppo¬
sition sitze jetzt nicht, wie sonst üblich, unter den Gemeinen, sondern unter den
Peers. Sir Stafford Northcote oder, wie wir ihn fortan nennen müssen,
Lord Jddesleigh, der neue erste Lord des Schatzamtes, ist eine weichere und an¬
spruchslosere Natur und mit dieser Eigenschaft allgemein beliebt. Er ist zwölf
Jahre nider als Salisbury und gehört schon seit 1855 dem Unterhause an, in
welchem er zuletzt mehrere Jahre die Opposition gegen Gladstone leitete. Er
beobachtete dabei immer, teils seinem Charakter gemäß, teils wohl in Erinnerung
an den Umstand, daß er einmal Privatsekretär Gladstones als Präsidenten des
Handclsamtes gewesen, eine gewisse Schonung und Zurückhaltung, die zuweilen
wie Mädeben aussah. Dagegen war er ein fleißiger und solider Arbeiter und
in finanziellen Dingen wohlerfahren, Eigeuschnften, mit denen er sich auch in
seiner neuen Stellung nützlich machen wird. Für die auswärtige Politik kommt
er nicht in Betracht. Was ihm an Schärfe und Thatkraft abgeht, besitzt in
hohem Grade sein jüngerer Kollege Lord Nandolph Churchill, ein Nachkomme
des berühmten Feldherrn Marlborough, dessen fünften Nachfolger in der Her-
z^gswürde er zum Vater hat. Kaum sechsunddreißig Jahre alt und erst seit
zehn Jahren Mitglied des Parlaments, bildet er, dem das wichtige Departe¬
ment der indischen Angelegenheiten zugeteilt worden ist, das sensationelle Ele¬
ment in dem neuen Kabinet. Er ist ein recht eigentümlicher Konservativer,
dieser Lord, ein Vertreter des radikalen Torhtums. Wie die Whigs einen linken
Flügel haben, so haben die Tories in ihm und seinen Freunden, die sich neben
den Parnelliten, der „dritten Partei," als „vierte Partei" gefallen, ebenfalls
ein solches Nebenglied, das besonders sozialpolitische Zwecke verfolgt und, halb
aus Laune und zum Vergnügen, halb aus praktischen Erwägungen, das Loos
der Arbeiter zu verbessern strebt. Lord Churchill ist ein Feuerbrand, ein Stürmer
und Dränger, aber zugleich ein Talent, das eine Zukunft zu haben scheint.
Dieser brillante Rekrut der Altkonservativen mit dem sozialistischen Anfluge hat
sich die hohe Stelle, welche er jetzt einnimmt, ohne Zweifel mehr durch seinen
Einfluß außerhalb der Schranken des Parlaments als durch seine leidenschaft¬
liche und nicht selten maßlose Polemik im Hause der Gemeinen erworben. Das
Land schätzt und bewundert seine Unerschrockenheit, sein dreistes Auftreten, sein
Selbstvertrauen; sein vulkanisches Wesen imponirt, besonders neben der Weise
Northeotes, alles mit Sammethandschuhen anzufassen und sich ängstlich vor Ver¬
letzung zu hüten, seine Reden werden von Freund und Feind mit Begier an¬
gehört und gelesen, und trotz mancher Stellen, welche die Klugheit bedauern mag,
ist nicht zu leugnen, daß der geistvolle Spott und Tadel, mit dem er, in dieser
Beziehung an den Bismarck der Revolutionszeit und der Jahre des Konflikts
erinnernd, die Gegner überschüttete, seiner Partei sehr nützliche Dienste geleistet
und manchem ein Licht über die Schwachen und Thorheiten der Liberalen auf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/11>, abgerufen am 24.11.2024.