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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Nachahmung leider meist zu äußerlich aufgefaßt und ist dabei immer tiefer
in die Ab- und Irrwege geraten, zu denen es neigt und verleitet.
Mau verkannte den Unterschied zwischen der Natur in der Wirklichkeit und der
Kunst. Man suchte das Natürliche, das Malerische, die realistische und histo¬
rische Treue in Dingen, die mit der Natur und dem Charakter des Vor¬
ganges, welchen man darstellte, oft garnichts zu thun hatten, ja demselben
sogar widersprachen. Mau machte von den Belcuchtuugseffekten einen über¬
triebenen, ja oft einen geradezu widersinnigen Gebrauch. Eine oft sinnlose
Überhäufung der Bühne mit unnötigen Ausstattungsgegenständcn griff Platz.
Die Schauspieler bewegten sich bisweilen auf ihr, als ob es die hier aufge¬
stellten Sofas und Stühle sämtlich durchzuprobiren gälte, oder als ob sie zu
zeigen hätten, daß sie für alles andre, nur nicht für den Zuschauer da seien.
Der überladene Ausstattungspruuk, die geschlossenen oder durchbrochenen Deko¬
rationen, der zeitraubende Kostümwechsel haben die Bühne trotz der Fortschritte
des Maschinenwesens immer schwerfälliger gemacht. Ein Dekorationswechsel bei
offener Szene scheint kaum noch möglich. Der Zwischenvorhang, den man nur
im äußersten Notfalle zur Anwendung bringen sollte, zerreißt bei Stücken, in
denen dergleichen Verwandlungen nötig sind, den Akt wieder in ebensoviele
einzelne Akte. Die laugen Pausen, die hierbei erfordert werden, spannen das
Publikum ab und nötigen oft zu widersinnigen Kürzungen der Stücke. Dies
alles konnte auf die neue Bühnendichtung nicht ohne Einfluß bleiben. Sie suchte
die Vorteile dieser neuen Bühnentechnik nach Möglichkeit auszunutzen und ihren
Nachteilen aus dem Wege zu gehen. Die Einteilung der Stücke wurde fast all¬
gemein von fünf ans vier Akte herabgesetzt, die Verwandlung im Akte völlig ver¬
mieden. Jeder Akt ist ein Bild. Was in diesem Bilde nicht Raum hat, muß er¬
zählt werden. Die Verwicklung der Voraussetzungen, die Schwäche der Motivirung,
denen mau so häufig in den neuen Stücken begegnet, sind die Folge davon.

Fassen wir alles zusammen, so fehlt es der neuesten Entwicklung der Bühne
zwar gewiß nicht an Lichtseiten und Vorzügen. Sie werden jedoch weit von
den Nachteilen und Schattenseiten überwogen. Sollten wir nun alles gehen
lassen, wie es ebeu geht? oder nach dem frühern, scheinbar bessern Zustande
zurückgreifen? Weder das Eine, noch, selbst wenn es sich thun ließe, das Andre.
Vielmehr gilt es, das Gute, das in dem gegenwärtigen Zustande liegt, möglichst
weiter zu entwickeln, das Schlechte dagegen zu bekämpfen und auszuscheiden.
Daß dies keine kurze und leichte Arbeit ist, läßt sich schon aus der Mannich-
faltigkeit und Verwicklung der Ursachen erkennen, die diesen Zustand herbei¬
geführt haben, uoch mehr jedoch aus der Thatsache, daß das Interesse der
hieran Beteiligten weit mehr an dem Mißbräuche, als an einer gesunden und
wahrhaft künstlerischen Entwicklung der Bühne hängt. Versucht muß es nichts¬
destoweniger werden. Um aber Übelstände beseitigen und Schäden heilen zu
können, bedarf es vor allem einer klaren Erkenntnis der Ursachen.




Nachahmung leider meist zu äußerlich aufgefaßt und ist dabei immer tiefer
in die Ab- und Irrwege geraten, zu denen es neigt und verleitet.
Mau verkannte den Unterschied zwischen der Natur in der Wirklichkeit und der
Kunst. Man suchte das Natürliche, das Malerische, die realistische und histo¬
rische Treue in Dingen, die mit der Natur und dem Charakter des Vor¬
ganges, welchen man darstellte, oft garnichts zu thun hatten, ja demselben
sogar widersprachen. Mau machte von den Belcuchtuugseffekten einen über¬
triebenen, ja oft einen geradezu widersinnigen Gebrauch. Eine oft sinnlose
Überhäufung der Bühne mit unnötigen Ausstattungsgegenständcn griff Platz.
Die Schauspieler bewegten sich bisweilen auf ihr, als ob es die hier aufge¬
stellten Sofas und Stühle sämtlich durchzuprobiren gälte, oder als ob sie zu
zeigen hätten, daß sie für alles andre, nur nicht für den Zuschauer da seien.
Der überladene Ausstattungspruuk, die geschlossenen oder durchbrochenen Deko¬
rationen, der zeitraubende Kostümwechsel haben die Bühne trotz der Fortschritte
des Maschinenwesens immer schwerfälliger gemacht. Ein Dekorationswechsel bei
offener Szene scheint kaum noch möglich. Der Zwischenvorhang, den man nur
im äußersten Notfalle zur Anwendung bringen sollte, zerreißt bei Stücken, in
denen dergleichen Verwandlungen nötig sind, den Akt wieder in ebensoviele
einzelne Akte. Die laugen Pausen, die hierbei erfordert werden, spannen das
Publikum ab und nötigen oft zu widersinnigen Kürzungen der Stücke. Dies
alles konnte auf die neue Bühnendichtung nicht ohne Einfluß bleiben. Sie suchte
die Vorteile dieser neuen Bühnentechnik nach Möglichkeit auszunutzen und ihren
Nachteilen aus dem Wege zu gehen. Die Einteilung der Stücke wurde fast all¬
gemein von fünf ans vier Akte herabgesetzt, die Verwandlung im Akte völlig ver¬
mieden. Jeder Akt ist ein Bild. Was in diesem Bilde nicht Raum hat, muß er¬
zählt werden. Die Verwicklung der Voraussetzungen, die Schwäche der Motivirung,
denen mau so häufig in den neuen Stücken begegnet, sind die Folge davon.

Fassen wir alles zusammen, so fehlt es der neuesten Entwicklung der Bühne
zwar gewiß nicht an Lichtseiten und Vorzügen. Sie werden jedoch weit von
den Nachteilen und Schattenseiten überwogen. Sollten wir nun alles gehen
lassen, wie es ebeu geht? oder nach dem frühern, scheinbar bessern Zustande
zurückgreifen? Weder das Eine, noch, selbst wenn es sich thun ließe, das Andre.
Vielmehr gilt es, das Gute, das in dem gegenwärtigen Zustande liegt, möglichst
weiter zu entwickeln, das Schlechte dagegen zu bekämpfen und auszuscheiden.
Daß dies keine kurze und leichte Arbeit ist, läßt sich schon aus der Mannich-
faltigkeit und Verwicklung der Ursachen erkennen, die diesen Zustand herbei¬
geführt haben, uoch mehr jedoch aus der Thatsache, daß das Interesse der
hieran Beteiligten weit mehr an dem Mißbräuche, als an einer gesunden und
wahrhaft künstlerischen Entwicklung der Bühne hängt. Versucht muß es nichts¬
destoweniger werden. Um aber Übelstände beseitigen und Schäden heilen zu
können, bedarf es vor allem einer klaren Erkenntnis der Ursachen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/93>, abgerufen am 22.07.2024.