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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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ersehnt, Aufgebung des Ichs, Befreiung, Der kalte Stahl, der in das Herz
des Helden fährt, welchen wir durch alle Phasen des Gefühls geleitet haben,
der Gifttrank, den er an die Lippen setzt, ja schon der Entschluß, zu sterben,
den wir bestätigt hören, scheidet uns von ihm; wir sind nicht mehr er selbst,
wir haben aufgehört, mit ihm zu leiden, aber alle Gnaden seines Todes werden
uns dennoch zuteil, die Erlösung von dem Druck der Existenz, die Erhebung
über des Menschen Qual, Dies und nichts andres ist der "Grund des Ver¬
gnügens an tragischen Gegenständen," hierin nur ist die Erklärung zu suchen
für die auffällige Erscheinung, daß die Menschen zu allen Zeiten den sonst so
gefttrchteten, rätselhaften Feind ihres Daseins sich immer und immer wieder in
drastischer Thatsächlichkeit vor Augen geführt haben.

Aber auf welche Weise?

Die Griechen, dieses bei allem Heldenmute doch so zartnervige, feinfühlende
Volk, haben den Tod nicht auf die Szene gebracht. Der Sieger von Marathon,
dem man gewiß keine weibische Schwäche vorwerfen wird, läßt seine Helden
nicht vor seinen Blicken sterben. Ein Publikum, dem der Anblick eines Furien¬
chors Schauder einjagte, wie sie dem modernen Hörer des Gluckschen "Orpheus"
wohl im allgemeinen unverständlich sind, konnte das zuckende Martyrium der
sich von ihren Banden losringenden Psyche nicht ertragen. Es verlangt, daß
das Opfer hinter die Szene getrieben werde (das Gebüsch im "Ajax"), wo sein
Aufschrei seinen Fall verkündet, oder es läßt sich denselben durch Boten, die oft
das gräßlichste Detail nicht sparen ("König Ödipus," "Antigone"), mehr oder
weniger ausführlich berichten. Woher dieser Widerspruch?

Wo man eine Erörterung des Unterschiedes der Phantasieschilderung und
der realen Darstellung des Gräßlichen, des /,<,."^>"v, zu suchen habe, brauche
ich dem gebildeten Leser nicht zu sagen. Aber ums unsern besondern Fall, das
Sterben auf der Bühne, betrifft, so möchte ich, da man für ihn auf keine der¬
artige Behandlung hinweisen kann, einige Gedanken hiermit zur Prüfung vor¬
legen. Körperliche Qualen auf der Bühne kannten die Griechen sehr wohl
(Herakles, Philoktet). Sie sind durchaus nicht untragisch. Der Physische Schmerz
ist uun einmal das größte der menschlichen Leiden, von einem gewissen Grade
an stärker als selbst der gewaltigste psychische Schmerz. Das ist auch in der
Dichtung wahr, so viel auch gerade durch den Mund dichterischer Gestalten
uns das Gegenteil versichert werden mag. Aber diese Schmerzen sind keine
Todesqualen. Sie sind dramatisches Motiv wie jedes andre, um das entsetz¬
liche Loos eines vom höchsten Unrecht betroffenen, verstoßenen Kriegers, das
traurige Ende des Gewaltigsten aller Helden lebhast zu illustriren, der der ver¬
derblichen Eifersucht eines Weibes zum Opfer fällt. Die Schmerzen kommen vor
unsern Augen und gehen wieder; wir können aufatmen, und sorgliche Gemüter
beruhigt die Prophezeiung ihres Endes, selbst bei dem bis zum Schluß ge¬
quälten Übermenschen, dem gefesselten Prometheus. Der Tod im Drama hat


ersehnt, Aufgebung des Ichs, Befreiung, Der kalte Stahl, der in das Herz
des Helden fährt, welchen wir durch alle Phasen des Gefühls geleitet haben,
der Gifttrank, den er an die Lippen setzt, ja schon der Entschluß, zu sterben,
den wir bestätigt hören, scheidet uns von ihm; wir sind nicht mehr er selbst,
wir haben aufgehört, mit ihm zu leiden, aber alle Gnaden seines Todes werden
uns dennoch zuteil, die Erlösung von dem Druck der Existenz, die Erhebung
über des Menschen Qual, Dies und nichts andres ist der „Grund des Ver¬
gnügens an tragischen Gegenständen," hierin nur ist die Erklärung zu suchen
für die auffällige Erscheinung, daß die Menschen zu allen Zeiten den sonst so
gefttrchteten, rätselhaften Feind ihres Daseins sich immer und immer wieder in
drastischer Thatsächlichkeit vor Augen geführt haben.

Aber auf welche Weise?

Die Griechen, dieses bei allem Heldenmute doch so zartnervige, feinfühlende
Volk, haben den Tod nicht auf die Szene gebracht. Der Sieger von Marathon,
dem man gewiß keine weibische Schwäche vorwerfen wird, läßt seine Helden
nicht vor seinen Blicken sterben. Ein Publikum, dem der Anblick eines Furien¬
chors Schauder einjagte, wie sie dem modernen Hörer des Gluckschen „Orpheus"
wohl im allgemeinen unverständlich sind, konnte das zuckende Martyrium der
sich von ihren Banden losringenden Psyche nicht ertragen. Es verlangt, daß
das Opfer hinter die Szene getrieben werde (das Gebüsch im „Ajax"), wo sein
Aufschrei seinen Fall verkündet, oder es läßt sich denselben durch Boten, die oft
das gräßlichste Detail nicht sparen („König Ödipus," „Antigone"), mehr oder
weniger ausführlich berichten. Woher dieser Widerspruch?

Wo man eine Erörterung des Unterschiedes der Phantasieschilderung und
der realen Darstellung des Gräßlichen, des /,<,.«^>»v, zu suchen habe, brauche
ich dem gebildeten Leser nicht zu sagen. Aber ums unsern besondern Fall, das
Sterben auf der Bühne, betrifft, so möchte ich, da man für ihn auf keine der¬
artige Behandlung hinweisen kann, einige Gedanken hiermit zur Prüfung vor¬
legen. Körperliche Qualen auf der Bühne kannten die Griechen sehr wohl
(Herakles, Philoktet). Sie sind durchaus nicht untragisch. Der Physische Schmerz
ist uun einmal das größte der menschlichen Leiden, von einem gewissen Grade
an stärker als selbst der gewaltigste psychische Schmerz. Das ist auch in der
Dichtung wahr, so viel auch gerade durch den Mund dichterischer Gestalten
uns das Gegenteil versichert werden mag. Aber diese Schmerzen sind keine
Todesqualen. Sie sind dramatisches Motiv wie jedes andre, um das entsetz¬
liche Loos eines vom höchsten Unrecht betroffenen, verstoßenen Kriegers, das
traurige Ende des Gewaltigsten aller Helden lebhast zu illustriren, der der ver¬
derblichen Eifersucht eines Weibes zum Opfer fällt. Die Schmerzen kommen vor
unsern Augen und gehen wieder; wir können aufatmen, und sorgliche Gemüter
beruhigt die Prophezeiung ihres Endes, selbst bei dem bis zum Schluß ge¬
quälten Übermenschen, dem gefesselten Prometheus. Der Tod im Drama hat


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/690>, abgerufen am 22.07.2024.