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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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selige Emanzipirte den Schriftstellernamen Spielhagen gewählt habe. Auch hier
die schlechte Kopie der neuesten Franzosen, die krampfhaften Anstrengungen, in
der deutschen Gesellschaft dieselben Fäulnissymptome zu entdecken, wie in der
französischen und russischen, das ängstliche Suchen nach den gemeinen Seiten
der menschlichen Natur. Dabei scheint der Verfasser einen Unterschied garnicht
zu bemerken. Daudet z. B. lehrt uus seine Menschen kennen, wie sie von
andern gesehen sein wollen; nach und nach, durch ihre Handlungen, gewinnen
wir Einblick in ihr Inneres. Spielhagcns Herren und Damen wollen um keinen
Preis verkannt sein, weder von den Nebenpersonen, noch von uns, gleich schlechten
Schauspielern, die Bösewichter zu spielen haben, und fürchten, der Zuschauer
könne ihre tugendhaften Reden für Ernst nehmen. Die Intriganten verschwören
sich, das Glück des Guten zu untergraben, und man meint den Präsidenten und
seinen Sekretär in Schillers Jngenddrama zu hören; ihre Opfer aber spielen
so erbarmungswürdige Figuren, daß jedermann ihnen ihr Schicksal gönnen muß
und nur über die Zumutung staunt, sich für sie interessiren, ihrer langsamen
Hinrichtung vielleicht durch mehrere Bände beiwohnen zu sollen. Wir haben
Spiclhagen niemals hoch stellen können, hätten jedoch nicht erwartet, daß er
auf ein solches Niveau sinken würde.

Um nicht mißverstanden zu werden: dem unersättlichen Lesehunger der
großen Menge ist mit gediegener Kost niemals gedient. Er muß Massen zum
Verschlingen haben, leicht verdauliches Futter. Welche Autoren waren die all¬
gemeinen Lieblinge, als Schiller kaum gestorben war und Goethe noch in voller
Schaffenskraft dastand! Wir wollen also deshalb unsrer Zeit nichts böses nach¬
sagen, weil auch sie ihre van der Velde und Henriette Hänke braucht. Aber
die van der Velde und Hänke waren nicht nur bescheidne Leute, welche die
Grenzen ihrer Begabung erkannten, sie haben auch nicht schädlich gewirkt. Und
vergleichen wir genan, so überzeugen wir uns mit Bedanern, daß ihre Nachfolger
noch außerdem viel flacher find.

Auch eine neue Gattung von Dichtungen in gebundener Rede fordert den
Vergleich mit Erscheinungen vor einem halben Jahrhundert heraus. Jugend¬
liche Poeten, von beneidenswerten Selbstgefühl erfüllt, machen aus ihren "großen
Schmerzen" teils "kleine Lieder" mit ebensoviel Affektation, doch etwas weniger
Talent als Heine, oder verkünden in Epen, Mysterien u. dergl. neue Heilswahr¬
heiten in so schwülstigen Tone, daß eine gewisse Ähnlichkeit mit der Apokalypse
sich nicht verleugnen läßt. Der fruchtbarste scheint Richard Kraut zu sein,
aus dem wohl noch etwas werden kann, falls er eine Krisis durchmacht, wie
Herr Amandus von Nebelstern in Hoffmanns "Königsbraut." Dem kam nämlich
nach einer (allerdings etwas drastischen) Erschütterung sein bisheriges poetisches
Streben albern und verkehrt vor (Hoffmann drückt sich stärker aus), er "ver¬
tiefte sich in die Werke der großen und wahren Dichter der ältern und neuern
Zeit," sodaß "kein Platz übrig blieb für einen Gedanken an sein eignes Ich,


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selige Emanzipirte den Schriftstellernamen Spielhagen gewählt habe. Auch hier
die schlechte Kopie der neuesten Franzosen, die krampfhaften Anstrengungen, in
der deutschen Gesellschaft dieselben Fäulnissymptome zu entdecken, wie in der
französischen und russischen, das ängstliche Suchen nach den gemeinen Seiten
der menschlichen Natur. Dabei scheint der Verfasser einen Unterschied garnicht
zu bemerken. Daudet z. B. lehrt uus seine Menschen kennen, wie sie von
andern gesehen sein wollen; nach und nach, durch ihre Handlungen, gewinnen
wir Einblick in ihr Inneres. Spielhagcns Herren und Damen wollen um keinen
Preis verkannt sein, weder von den Nebenpersonen, noch von uns, gleich schlechten
Schauspielern, die Bösewichter zu spielen haben, und fürchten, der Zuschauer
könne ihre tugendhaften Reden für Ernst nehmen. Die Intriganten verschwören
sich, das Glück des Guten zu untergraben, und man meint den Präsidenten und
seinen Sekretär in Schillers Jngenddrama zu hören; ihre Opfer aber spielen
so erbarmungswürdige Figuren, daß jedermann ihnen ihr Schicksal gönnen muß
und nur über die Zumutung staunt, sich für sie interessiren, ihrer langsamen
Hinrichtung vielleicht durch mehrere Bände beiwohnen zu sollen. Wir haben
Spiclhagen niemals hoch stellen können, hätten jedoch nicht erwartet, daß er
auf ein solches Niveau sinken würde.

Um nicht mißverstanden zu werden: dem unersättlichen Lesehunger der
großen Menge ist mit gediegener Kost niemals gedient. Er muß Massen zum
Verschlingen haben, leicht verdauliches Futter. Welche Autoren waren die all¬
gemeinen Lieblinge, als Schiller kaum gestorben war und Goethe noch in voller
Schaffenskraft dastand! Wir wollen also deshalb unsrer Zeit nichts böses nach¬
sagen, weil auch sie ihre van der Velde und Henriette Hänke braucht. Aber
die van der Velde und Hänke waren nicht nur bescheidne Leute, welche die
Grenzen ihrer Begabung erkannten, sie haben auch nicht schädlich gewirkt. Und
vergleichen wir genan, so überzeugen wir uns mit Bedanern, daß ihre Nachfolger
noch außerdem viel flacher find.

Auch eine neue Gattung von Dichtungen in gebundener Rede fordert den
Vergleich mit Erscheinungen vor einem halben Jahrhundert heraus. Jugend¬
liche Poeten, von beneidenswerten Selbstgefühl erfüllt, machen aus ihren „großen
Schmerzen" teils „kleine Lieder" mit ebensoviel Affektation, doch etwas weniger
Talent als Heine, oder verkünden in Epen, Mysterien u. dergl. neue Heilswahr¬
heiten in so schwülstigen Tone, daß eine gewisse Ähnlichkeit mit der Apokalypse
sich nicht verleugnen läßt. Der fruchtbarste scheint Richard Kraut zu sein,
aus dem wohl noch etwas werden kann, falls er eine Krisis durchmacht, wie
Herr Amandus von Nebelstern in Hoffmanns „Königsbraut." Dem kam nämlich
nach einer (allerdings etwas drastischen) Erschütterung sein bisheriges poetisches
Streben albern und verkehrt vor (Hoffmann drückt sich stärker aus), er „ver¬
tiefte sich in die Werke der großen und wahren Dichter der ältern und neuern
Zeit," sodaß „kein Platz übrig blieb für einen Gedanken an sein eignes Ich,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/688>, abgerufen am 22.07.2024.