Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.leitet worden sein, ihr die Stellung einer Gouvernante in einem vornehmen Hanse Wie wir gesehen haben, erfreuten sich aber die ersten Romane von Ossip Grenzboten II. IMS. 86
leitet worden sein, ihr die Stellung einer Gouvernante in einem vornehmen Hanse Wie wir gesehen haben, erfreuten sich aber die ersten Romane von Ossip Grenzboten II. IMS. 86
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0686" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196075"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_2503" prev="#ID_2502"> leitet worden sein, ihr die Stellung einer Gouvernante in einem vornehmen Hanse<lb/> zuzutrauen; doch in der Gegenwart werden die Erzieherinnen so strengen Prü¬<lb/> fungen unterzogen, daß von ihnen vorausgesetzt werden darf, sie würden richtig<lb/> zitiren und das Wörterbuch zurate ziehen, bevor sie nroMäs^u, mit „verzehrende<lb/> Glut" übersetzen u. dergl. in. Vielmehr fühlen wir uns in ein Dvmestiken-<lb/> zimmer versetzt, dessen Bewohner einander reuommistisch mitteilen, welche<lb/> Schwächen und Geheimnisse sie der Herrschaft abgelauscht haben wollen, und<lb/> gleichzeitig verzweifelte Anstrengungen machen, Manieren und Ausdrucksweise<lb/> eben jener Herrschaft nachzuahmen. In bevorzugter Stellung ist dabei natürlich<lb/> die Kammerjungfer, welche die gnädige Fran auf Reisen und in die Bäder be¬<lb/> gleitet, die Welt gesehen und mit Nutzen allerlei gelesen hat: Reisehandbücher,<lb/> welche heutzutage so gefällig sind, uns zu sagen, was wir bei dem Anblick eines<lb/> Kunstwerkes oder einer Gegend empfinden müssen, und alle Romane, die ans<lb/> dem Nachttische der „Gnädiger" liegen: Wilkic Collins und Augustus Sala,<lb/> Daudet, Zola und Claretie, Turgenjew, Dostojewski, Kraszewski u, s, w. Alls<lb/> solche Weise lernt man viel, wird bei einiger Anlage dazu eine kühne „Realistin,"<lb/> und das Auditorium, welchem mit solcher Geläufigkeit von Paris und Rom,<lb/> vom Kleiderschnitt und der Todesstarre der Medusa, von dem Zauber der Cam-<lb/> Pagna und den anstößigsten „Liaisons" erzählt und eine „geistreiche" Wendung<lb/> über die andre aufgetischt wird, wie „launenhafte Tabakswölkchen, langweiliger<lb/> Geruch, gedrückter Eindruck" — das Auditorium hat Recht, wenn es begeistert<lb/> ausruft, die Erzählerin" plaudere wie gedruckt, die Romanschreiber des Wochen¬<lb/> blättchens verstünden es nicht besser.</p><lb/> <p xml:id="ID_2504" next="#ID_2505"> Wie wir gesehen haben, erfreuten sich aber die ersten Romane von Ossip<lb/> Schubin eines viel größern Erfolges als die Romane im Wochenblättchen,<lb/> Das lag am Stoff — wir sagen ausdrücklich nicht an den Stoffen, denn der<lb/> Stoff ist immer derselbe. Das Gemisch von deutschen, slawischen, italienischen<lb/> und magyarischen und noch mancherlei Elementen, welches sich österreichische<lb/> Gesellschaft nennt, übt auf den deutschen Leser den Reiz des Exotischen aus.<lb/> Einen so starken Fremdenzuzng auch die böhmischen Bäder von altersher haben<lb/> und soviel auch jetzt die Alpengegenden bereist werden, so bestehen doch immer<lb/> noch ziemlich romanhafte Vorstellungen von jener Welt, in welcher endloser<lb/> Grundbesitz vom Hochgebirge bis in die Pnszta mit chronischer Geldverlegen¬<lb/> heit, Strenggläubigkeit mit Frivolität, Hochmut mit treuherzigem Entgegen¬<lb/> kommen, Schliff mit Unbildung, Ritterlichkeit mit Rohheit sich angeblich zu einer<lb/> an Zigeunermusik erinnernden Harmonie vereinigen sollen. Und derartigen<lb/> Vorstellungen entsprachen die Schilderungen Schubius, und der auf den be¬<lb/> kannten gemütlichen Dialekt gepfropfte Kavaliersjargon schien ihnen den echten<lb/> Lokalton zu geben. Leider erwies sich bald, daß an jedem neuen Buche eigentlich<lb/> nur der Titel neu war. Ein halb Dutzend Figuren, zwei bis drei „Stimmungen"<lb/> und eine recht widerwärtige Familiengeschichte werden immer wieder in etwas</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. IMS. 86</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0686]
leitet worden sein, ihr die Stellung einer Gouvernante in einem vornehmen Hanse
zuzutrauen; doch in der Gegenwart werden die Erzieherinnen so strengen Prü¬
fungen unterzogen, daß von ihnen vorausgesetzt werden darf, sie würden richtig
zitiren und das Wörterbuch zurate ziehen, bevor sie nroMäs^u, mit „verzehrende
Glut" übersetzen u. dergl. in. Vielmehr fühlen wir uns in ein Dvmestiken-
zimmer versetzt, dessen Bewohner einander reuommistisch mitteilen, welche
Schwächen und Geheimnisse sie der Herrschaft abgelauscht haben wollen, und
gleichzeitig verzweifelte Anstrengungen machen, Manieren und Ausdrucksweise
eben jener Herrschaft nachzuahmen. In bevorzugter Stellung ist dabei natürlich
die Kammerjungfer, welche die gnädige Fran auf Reisen und in die Bäder be¬
gleitet, die Welt gesehen und mit Nutzen allerlei gelesen hat: Reisehandbücher,
welche heutzutage so gefällig sind, uns zu sagen, was wir bei dem Anblick eines
Kunstwerkes oder einer Gegend empfinden müssen, und alle Romane, die ans
dem Nachttische der „Gnädiger" liegen: Wilkic Collins und Augustus Sala,
Daudet, Zola und Claretie, Turgenjew, Dostojewski, Kraszewski u, s, w. Alls
solche Weise lernt man viel, wird bei einiger Anlage dazu eine kühne „Realistin,"
und das Auditorium, welchem mit solcher Geläufigkeit von Paris und Rom,
vom Kleiderschnitt und der Todesstarre der Medusa, von dem Zauber der Cam-
Pagna und den anstößigsten „Liaisons" erzählt und eine „geistreiche" Wendung
über die andre aufgetischt wird, wie „launenhafte Tabakswölkchen, langweiliger
Geruch, gedrückter Eindruck" — das Auditorium hat Recht, wenn es begeistert
ausruft, die Erzählerin" plaudere wie gedruckt, die Romanschreiber des Wochen¬
blättchens verstünden es nicht besser.
Wie wir gesehen haben, erfreuten sich aber die ersten Romane von Ossip
Schubin eines viel größern Erfolges als die Romane im Wochenblättchen,
Das lag am Stoff — wir sagen ausdrücklich nicht an den Stoffen, denn der
Stoff ist immer derselbe. Das Gemisch von deutschen, slawischen, italienischen
und magyarischen und noch mancherlei Elementen, welches sich österreichische
Gesellschaft nennt, übt auf den deutschen Leser den Reiz des Exotischen aus.
Einen so starken Fremdenzuzng auch die böhmischen Bäder von altersher haben
und soviel auch jetzt die Alpengegenden bereist werden, so bestehen doch immer
noch ziemlich romanhafte Vorstellungen von jener Welt, in welcher endloser
Grundbesitz vom Hochgebirge bis in die Pnszta mit chronischer Geldverlegen¬
heit, Strenggläubigkeit mit Frivolität, Hochmut mit treuherzigem Entgegen¬
kommen, Schliff mit Unbildung, Ritterlichkeit mit Rohheit sich angeblich zu einer
an Zigeunermusik erinnernden Harmonie vereinigen sollen. Und derartigen
Vorstellungen entsprachen die Schilderungen Schubius, und der auf den be¬
kannten gemütlichen Dialekt gepfropfte Kavaliersjargon schien ihnen den echten
Lokalton zu geben. Leider erwies sich bald, daß an jedem neuen Buche eigentlich
nur der Titel neu war. Ein halb Dutzend Figuren, zwei bis drei „Stimmungen"
und eine recht widerwärtige Familiengeschichte werden immer wieder in etwas
Grenzboten II. IMS. 86
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