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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Line neue Schiller-Biographie.

wie Schiller ihn nennt, nicht gewesen. Allein wenn Schiller, der Sohn einer
bürgerlichen protestantischen Familie, uns als Vertreter deutscher Stammesart
erscheint, so tritt uns in dem katholischen Herzog des protestantischen Landes der
Herrscher nach französischer Schablone entgegen. Der edle Markgraf Friedrich Karl
von Baden scherzte einmal: "Ich gebe mir alle Mühe, mein Land emporzubringen,
lind der Herzog von Würtemberg läßt sich's sauer werden, das seinige zu ruiniren."
Dieser Herzog hat Schillers Erziehung geleitet, der von ihm geübte Druck rief
in dem Karlsschüler den oppositionellen Geist hervor, welcher in den "Räubern"
und in der "Luise Millerin" seinen monumentalen Ausdruck gefunden hat. Weltrich
hätte sich in der Schilderung der Militärakademie etwas kürzer fassen können; von
Wiederholungen ist sein Buch auch sonst nicht frei, vielleicht Spuren der öftern
Umarbeitttugen, welche der gewissenhafte Autor vorgenommen hat. Doch werden
gerade sein drittes und viertes Kapitel im gauzen als musterhafte Leistungen
betrachtet werden dürfen. Die praktische Erfahrung, welche er als Lehrer an
militärischen Anstalten gesammelt, giebt seinem Urteile über Studiengang, Disziplin
und Wert der hohen Karlsschule Selbständigkeit und treffende Sicherheit. Eine
bessere wissenschaftliche Ausbildung hätte zur gleichem Zeit leine andre Unterrichts¬
anstalt dein jungen Schiller bieten können, aber in dieser nur fürstlichem Egois-
mus dienenden Akademie herrschte keine pädagogische Einsicht, der freie Geist,
welcher die gemeinsame Arbeit von Lehrer und Schüler beleben soll, konnte in
dieser Schöpfung fürstlicher Willkür nicht gedeihen.

Schillers Festrede" und medizinisch-philosophische Abhandlungen, die in der
Karlsschnle entstanden, unterzieht Weltrich einer eingehenden Zergliederung, für
die ihm Tomaschek und Überweg Vorarbeiter waren. Schillers medizinische
Kenntnis erklärt er wohl mit Recht für gründlicher, als man gewöhnlich an¬
nimmt. Auf die allgemeinen literarischen Verhältnisse wird nur ein sehr be¬
schränkter Ausblick gegeben; trat doch die Poesie dem Eleven der medizinischen
Abteilung nur verstohlen mit einzelnen Werken nahe. Für die Entstehungs¬
geschichte der "Räuber" unterscheidet Weltrich zwei Perioden. 1777 habe Schubarts
Erzählung "Zur Geschichte des menschlichen Herzens" (im Januarhefte des
"Schwäbischen Magazins" 1775 erschienen, von Weltrich wieder abgedruckt)
und das biblische Motiv vom Verlornen Sohn zusammengewirkt. Motive aus
Shakespeares "Lear," Kliugcrs "Zwillingen," Lcisewitzcns "Julius von Tarent"
und "Den beiden Alten" von Lenz schmolzen mit den Motiven zusammen,
welche Schiller bereits 1776 in seinem Trauerspiele "Kvsmus vou Medici"
verwertet hatte. "Der Accent liegt noch auf einem christlich-religiösen Gedanken,
wenn auch der Antagonismus zweier Charaktere den Dichter beschäftigt." Im
zweiten Stadium der Erfindung aber -- 1780 -- ward "das Schwergewicht
des Stückes vom Psychologischen auf das Soziale verlegt. Jetzt erst wächst
der Bau zu seiner Riesengröße, Erfahrungen über die wirkliche Welt, in welcher
Schiller lebte, Einblicknahme (!) in sozialpolitische Zustände lind eine energische


Line neue Schiller-Biographie.

wie Schiller ihn nennt, nicht gewesen. Allein wenn Schiller, der Sohn einer
bürgerlichen protestantischen Familie, uns als Vertreter deutscher Stammesart
erscheint, so tritt uns in dem katholischen Herzog des protestantischen Landes der
Herrscher nach französischer Schablone entgegen. Der edle Markgraf Friedrich Karl
von Baden scherzte einmal: „Ich gebe mir alle Mühe, mein Land emporzubringen,
lind der Herzog von Würtemberg läßt sich's sauer werden, das seinige zu ruiniren."
Dieser Herzog hat Schillers Erziehung geleitet, der von ihm geübte Druck rief
in dem Karlsschüler den oppositionellen Geist hervor, welcher in den „Räubern"
und in der „Luise Millerin" seinen monumentalen Ausdruck gefunden hat. Weltrich
hätte sich in der Schilderung der Militärakademie etwas kürzer fassen können; von
Wiederholungen ist sein Buch auch sonst nicht frei, vielleicht Spuren der öftern
Umarbeitttugen, welche der gewissenhafte Autor vorgenommen hat. Doch werden
gerade sein drittes und viertes Kapitel im gauzen als musterhafte Leistungen
betrachtet werden dürfen. Die praktische Erfahrung, welche er als Lehrer an
militärischen Anstalten gesammelt, giebt seinem Urteile über Studiengang, Disziplin
und Wert der hohen Karlsschule Selbständigkeit und treffende Sicherheit. Eine
bessere wissenschaftliche Ausbildung hätte zur gleichem Zeit leine andre Unterrichts¬
anstalt dein jungen Schiller bieten können, aber in dieser nur fürstlichem Egois-
mus dienenden Akademie herrschte keine pädagogische Einsicht, der freie Geist,
welcher die gemeinsame Arbeit von Lehrer und Schüler beleben soll, konnte in
dieser Schöpfung fürstlicher Willkür nicht gedeihen.

Schillers Festrede» und medizinisch-philosophische Abhandlungen, die in der
Karlsschnle entstanden, unterzieht Weltrich einer eingehenden Zergliederung, für
die ihm Tomaschek und Überweg Vorarbeiter waren. Schillers medizinische
Kenntnis erklärt er wohl mit Recht für gründlicher, als man gewöhnlich an¬
nimmt. Auf die allgemeinen literarischen Verhältnisse wird nur ein sehr be¬
schränkter Ausblick gegeben; trat doch die Poesie dem Eleven der medizinischen
Abteilung nur verstohlen mit einzelnen Werken nahe. Für die Entstehungs¬
geschichte der „Räuber" unterscheidet Weltrich zwei Perioden. 1777 habe Schubarts
Erzählung „Zur Geschichte des menschlichen Herzens" (im Januarhefte des
„Schwäbischen Magazins" 1775 erschienen, von Weltrich wieder abgedruckt)
und das biblische Motiv vom Verlornen Sohn zusammengewirkt. Motive aus
Shakespeares „Lear," Kliugcrs „Zwillingen," Lcisewitzcns „Julius von Tarent"
und „Den beiden Alten" von Lenz schmolzen mit den Motiven zusammen,
welche Schiller bereits 1776 in seinem Trauerspiele „Kvsmus vou Medici"
verwertet hatte. „Der Accent liegt noch auf einem christlich-religiösen Gedanken,
wenn auch der Antagonismus zweier Charaktere den Dichter beschäftigt." Im
zweiten Stadium der Erfindung aber — 1780 — ward „das Schwergewicht
des Stückes vom Psychologischen auf das Soziale verlegt. Jetzt erst wächst
der Bau zu seiner Riesengröße, Erfahrungen über die wirkliche Welt, in welcher
Schiller lebte, Einblicknahme (!) in sozialpolitische Zustände lind eine energische


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[0683] Line neue Schiller-Biographie. wie Schiller ihn nennt, nicht gewesen. Allein wenn Schiller, der Sohn einer bürgerlichen protestantischen Familie, uns als Vertreter deutscher Stammesart erscheint, so tritt uns in dem katholischen Herzog des protestantischen Landes der Herrscher nach französischer Schablone entgegen. Der edle Markgraf Friedrich Karl von Baden scherzte einmal: „Ich gebe mir alle Mühe, mein Land emporzubringen, lind der Herzog von Würtemberg läßt sich's sauer werden, das seinige zu ruiniren." Dieser Herzog hat Schillers Erziehung geleitet, der von ihm geübte Druck rief in dem Karlsschüler den oppositionellen Geist hervor, welcher in den „Räubern" und in der „Luise Millerin" seinen monumentalen Ausdruck gefunden hat. Weltrich hätte sich in der Schilderung der Militärakademie etwas kürzer fassen können; von Wiederholungen ist sein Buch auch sonst nicht frei, vielleicht Spuren der öftern Umarbeitttugen, welche der gewissenhafte Autor vorgenommen hat. Doch werden gerade sein drittes und viertes Kapitel im gauzen als musterhafte Leistungen betrachtet werden dürfen. Die praktische Erfahrung, welche er als Lehrer an militärischen Anstalten gesammelt, giebt seinem Urteile über Studiengang, Disziplin und Wert der hohen Karlsschule Selbständigkeit und treffende Sicherheit. Eine bessere wissenschaftliche Ausbildung hätte zur gleichem Zeit leine andre Unterrichts¬ anstalt dein jungen Schiller bieten können, aber in dieser nur fürstlichem Egois- mus dienenden Akademie herrschte keine pädagogische Einsicht, der freie Geist, welcher die gemeinsame Arbeit von Lehrer und Schüler beleben soll, konnte in dieser Schöpfung fürstlicher Willkür nicht gedeihen. Schillers Festrede» und medizinisch-philosophische Abhandlungen, die in der Karlsschnle entstanden, unterzieht Weltrich einer eingehenden Zergliederung, für die ihm Tomaschek und Überweg Vorarbeiter waren. Schillers medizinische Kenntnis erklärt er wohl mit Recht für gründlicher, als man gewöhnlich an¬ nimmt. Auf die allgemeinen literarischen Verhältnisse wird nur ein sehr be¬ schränkter Ausblick gegeben; trat doch die Poesie dem Eleven der medizinischen Abteilung nur verstohlen mit einzelnen Werken nahe. Für die Entstehungs¬ geschichte der „Räuber" unterscheidet Weltrich zwei Perioden. 1777 habe Schubarts Erzählung „Zur Geschichte des menschlichen Herzens" (im Januarhefte des „Schwäbischen Magazins" 1775 erschienen, von Weltrich wieder abgedruckt) und das biblische Motiv vom Verlornen Sohn zusammengewirkt. Motive aus Shakespeares „Lear," Kliugcrs „Zwillingen," Lcisewitzcns „Julius von Tarent" und „Den beiden Alten" von Lenz schmolzen mit den Motiven zusammen, welche Schiller bereits 1776 in seinem Trauerspiele „Kvsmus vou Medici" verwertet hatte. „Der Accent liegt noch auf einem christlich-religiösen Gedanken, wenn auch der Antagonismus zweier Charaktere den Dichter beschäftigt." Im zweiten Stadium der Erfindung aber — 1780 — ward „das Schwergewicht des Stückes vom Psychologischen auf das Soziale verlegt. Jetzt erst wächst der Bau zu seiner Riesengröße, Erfahrungen über die wirkliche Welt, in welcher Schiller lebte, Einblicknahme (!) in sozialpolitische Zustände lind eine energische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/683>, abgerufen am 25.08.2024.