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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die österreichischen Wahlen.

nieine Menschenverstand hat niemals begriffen, weshalb die Partei, welche ge¬
zwungen ist für ihre Nationalität zu kämpfen, und welche auf konstitutionellem
Wege an das Staatsruder gelangen möchte, Stammesgenossen, die ebenso für die
Nationalität eintreten und deren Unterstützung allein ihr wieder zur Mehrheit
verhelfen konnte, förmlich mit den Füßen von sich stoßen müsse, weil jene Nach¬
barn in Fragen, welche mit dem Deutschtum nichts zu thun haben, sich zu
andern Ansichten bekennen als die Linke; und in Böhmen wurde auch zum
Teil für das Zusammengehen aller Deutschen ohne Rücksicht auf die Konfession
und den Grad der Gläubigkeit agitirt. Aber gegen solche Bestrebungen schäumte
förmlich die tonangebende Journalistik; denn das Deutschtum ist uur Aushänge¬
schild, in Wahrheit führt mau die Geschäfte einer ganz andern Nationalität, welche
von den Konservativen nichts Gutes für sich erwartet. Lieber soll der absolut
aussichtslose Kampf fortgesetzt werden; die Partei, welche eine nicht unerhebliche
Anzahl von Sitzen teils an die slawisch-feudal-klerikale Mehrheit, teils an mehr
links stehende Parteien verloren hat, soll eigensinnig auf ihrem Programm
bestehen, bis -- was eintritt? Bis die Regierung sich mit der Majorität über¬
wirft, bis Graf Taaffe müde wird, bis der Kaiser sich zu einem kleinen Staats¬
streiche herbeiläßt, ein Ministerium ans der Minderheit wählt und demselben
alle Befugnisse erteilt, eine künstliche Majorität für sich herzustellen! Auf was
die Herren sonst warten, ist nicht abzusehen. Vorläufig trösten sie sich mit dem-
Gedanken, daß die Regierungspartei die Zweidrittelmehrheit nicht erlangt hat,
also Verfassungsgesetze nicht ändern kann, und mit der Hoffnung ans Zwistig-
keiten innerhalb jener Partei, eine Hoffnung, welche sie noch jedesmal im Stiche
gelassen hat.

Vielleicht kommt mit dem neuen Blute auch mehr politischer Verstand in
die Versammlung. Auf jeden Fall hat die Diktatur der erbgesessenen Mandats-
inhaber nud ihrer journalistischen Verbündeten, welche unter Einigkeit willen¬
lose Unterwerfung unter ihr Gebot verstehen, einen Stoß erlitten, und das ist
immerhin ein Erfolg.




Die österreichischen Wahlen.

nieine Menschenverstand hat niemals begriffen, weshalb die Partei, welche ge¬
zwungen ist für ihre Nationalität zu kämpfen, und welche auf konstitutionellem
Wege an das Staatsruder gelangen möchte, Stammesgenossen, die ebenso für die
Nationalität eintreten und deren Unterstützung allein ihr wieder zur Mehrheit
verhelfen konnte, förmlich mit den Füßen von sich stoßen müsse, weil jene Nach¬
barn in Fragen, welche mit dem Deutschtum nichts zu thun haben, sich zu
andern Ansichten bekennen als die Linke; und in Böhmen wurde auch zum
Teil für das Zusammengehen aller Deutschen ohne Rücksicht auf die Konfession
und den Grad der Gläubigkeit agitirt. Aber gegen solche Bestrebungen schäumte
förmlich die tonangebende Journalistik; denn das Deutschtum ist uur Aushänge¬
schild, in Wahrheit führt mau die Geschäfte einer ganz andern Nationalität, welche
von den Konservativen nichts Gutes für sich erwartet. Lieber soll der absolut
aussichtslose Kampf fortgesetzt werden; die Partei, welche eine nicht unerhebliche
Anzahl von Sitzen teils an die slawisch-feudal-klerikale Mehrheit, teils an mehr
links stehende Parteien verloren hat, soll eigensinnig auf ihrem Programm
bestehen, bis — was eintritt? Bis die Regierung sich mit der Majorität über¬
wirft, bis Graf Taaffe müde wird, bis der Kaiser sich zu einem kleinen Staats¬
streiche herbeiläßt, ein Ministerium ans der Minderheit wählt und demselben
alle Befugnisse erteilt, eine künstliche Majorität für sich herzustellen! Auf was
die Herren sonst warten, ist nicht abzusehen. Vorläufig trösten sie sich mit dem-
Gedanken, daß die Regierungspartei die Zweidrittelmehrheit nicht erlangt hat,
also Verfassungsgesetze nicht ändern kann, und mit der Hoffnung ans Zwistig-
keiten innerhalb jener Partei, eine Hoffnung, welche sie noch jedesmal im Stiche
gelassen hat.

Vielleicht kommt mit dem neuen Blute auch mehr politischer Verstand in
die Versammlung. Auf jeden Fall hat die Diktatur der erbgesessenen Mandats-
inhaber nud ihrer journalistischen Verbündeten, welche unter Einigkeit willen¬
lose Unterwerfung unter ihr Gebot verstehen, einen Stoß erlitten, und das ist
immerhin ein Erfolg.




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[0641] Die österreichischen Wahlen. nieine Menschenverstand hat niemals begriffen, weshalb die Partei, welche ge¬ zwungen ist für ihre Nationalität zu kämpfen, und welche auf konstitutionellem Wege an das Staatsruder gelangen möchte, Stammesgenossen, die ebenso für die Nationalität eintreten und deren Unterstützung allein ihr wieder zur Mehrheit verhelfen konnte, förmlich mit den Füßen von sich stoßen müsse, weil jene Nach¬ barn in Fragen, welche mit dem Deutschtum nichts zu thun haben, sich zu andern Ansichten bekennen als die Linke; und in Böhmen wurde auch zum Teil für das Zusammengehen aller Deutschen ohne Rücksicht auf die Konfession und den Grad der Gläubigkeit agitirt. Aber gegen solche Bestrebungen schäumte förmlich die tonangebende Journalistik; denn das Deutschtum ist uur Aushänge¬ schild, in Wahrheit führt mau die Geschäfte einer ganz andern Nationalität, welche von den Konservativen nichts Gutes für sich erwartet. Lieber soll der absolut aussichtslose Kampf fortgesetzt werden; die Partei, welche eine nicht unerhebliche Anzahl von Sitzen teils an die slawisch-feudal-klerikale Mehrheit, teils an mehr links stehende Parteien verloren hat, soll eigensinnig auf ihrem Programm bestehen, bis — was eintritt? Bis die Regierung sich mit der Majorität über¬ wirft, bis Graf Taaffe müde wird, bis der Kaiser sich zu einem kleinen Staats¬ streiche herbeiläßt, ein Ministerium ans der Minderheit wählt und demselben alle Befugnisse erteilt, eine künstliche Majorität für sich herzustellen! Auf was die Herren sonst warten, ist nicht abzusehen. Vorläufig trösten sie sich mit dem- Gedanken, daß die Regierungspartei die Zweidrittelmehrheit nicht erlangt hat, also Verfassungsgesetze nicht ändern kann, und mit der Hoffnung ans Zwistig- keiten innerhalb jener Partei, eine Hoffnung, welche sie noch jedesmal im Stiche gelassen hat. Vielleicht kommt mit dem neuen Blute auch mehr politischer Verstand in die Versammlung. Auf jeden Fall hat die Diktatur der erbgesessenen Mandats- inhaber nud ihrer journalistischen Verbündeten, welche unter Einigkeit willen¬ lose Unterwerfung unter ihr Gebot verstehen, einen Stoß erlitten, und das ist immerhin ein Erfolg.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/641>, abgerufen am 22.07.2024.