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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Afghanistan und die Afghanen.

und erschienen in Mekka, um sich zum Islam zu bekennen. Kais erhielt den
Ehrentitel "Sohn des Gerechten," und alle Adlichen wurden fortan Maul,
König, genannt. In der Glaubenstreue würden sie, so sagte der Engel Gabriel
dem Propheten, stärker sein als alle andern Völker der Erde, und in ihrer
Festigkeit sollten sie dem Holze Pathan gleichen, aus dem der Kiel neuer Schiffe
gezimmert wird. Darum möge ihr Volk auch hinfort Pathan heißen. Kais
kehrte dann mit seinen Genossen heim und bekehrte sein Volk, und seine Nach¬
kommen mehrten sich dermaßen, daß aus ihnen dreihundertfttnfundneunzig Stämme
hervorgingen.

Die Afghanen sind meist von hohem Wuchs und dunkler Gesichtsfarbe.
Ihr schwarzes Haar bleibt von der Scheere unberührt, und die Vornehmen
Pflegen den Bart nach persischer Sitte ganz oder teilweise rot zu färben. Der
Religion nach sind sie sunnitische Muslime, und zwar sehr fanatische, sodaß sie
nicht nur die christlichen und heidnischen Kafirs, sondern auch die unter ihnen
lebenden Schiiten verabscheuen. Sie haben ein cholerisches Temperament, sind
leicht zu erregen und händelsüchtig, grausam und treulos dem Fremden gegen¬
über, im Kriege unerschrocken und ausdauernd, und zeigen sich immer geneigt
zu Parteiungen und zur Auflehnung gegen ihre Herrscher. Die ansässigen
wohnen in Lehmhütten und Häusern aus Backsteinen mit flachen Dächern, die
nomadisirenden in Zelten aus Filztuch. An den Abhängen der Berge trifft
man viele kleine Kastelle mit Türmchen. Fensterscheiben, Tische und Stühle,
Kamine und Tapeten finden sich selbst in den Wohnungen der Reichen und
Vornehmen selten. Das Weib gilt hier mehr als sonst im Orient, auch unter
den höhern Klassen, die in Bigamie leben, und die Lieblingsfran schir Alis
übte eine Zeit lang Einfluß auch auf dessen Politik.

Die Monarchie steht in Afghanistan auf schwachen Füßen und vermag,
obwohl sie despotisch gehandhabt wird, ihre Macht und ihren Willen keineswegs
immer und überall zur Geltung zu bringen. Obwohl die Emire Dose Mu¬
hammed und schir Ali viel für die Einheit des Reiches gethan und mancherlei
in dieser Richtung erreicht haben, sind viele der Stämme und Fürsten desselben
doch von der Zentralregierung in Kabul noch halb und unter Umständen ganz
unabhängig, und die einzelnen Stämme und deren Unterabteilungen verwalten
ihre Angelegenheiten durchaus selbständig. Die hauptsächlichsten dieser Stämme
sind die im Nordosten wohnenden und großenteils von Feld- und Gartenbau
lebenden Berdurani, die Gildschi, die sich westlich an diese anschließen und bis
über Gasnah hinaus sitzen, und die noch weiter im Westen hausenden Durani,
welche meist ein Nomadenleben führen. Ein jeder Stamm der Afghanen, oder,
wie sie selbst sagen, ein jeder Mus, zerfällt in eine Anzahl von Chans oder
Klane, diese teilen sich in Gaugenossenschaften und letztere wieder in Gemeinden.
Dazu kommen bei einigen Stämmen noch Vereine, deren Teilnehmer sich gegen¬
seitig zu Schutz und Abwehr von Gewaltthat eidlich verbunden haben. Jeder


Afghanistan und die Afghanen.

und erschienen in Mekka, um sich zum Islam zu bekennen. Kais erhielt den
Ehrentitel „Sohn des Gerechten," und alle Adlichen wurden fortan Maul,
König, genannt. In der Glaubenstreue würden sie, so sagte der Engel Gabriel
dem Propheten, stärker sein als alle andern Völker der Erde, und in ihrer
Festigkeit sollten sie dem Holze Pathan gleichen, aus dem der Kiel neuer Schiffe
gezimmert wird. Darum möge ihr Volk auch hinfort Pathan heißen. Kais
kehrte dann mit seinen Genossen heim und bekehrte sein Volk, und seine Nach¬
kommen mehrten sich dermaßen, daß aus ihnen dreihundertfttnfundneunzig Stämme
hervorgingen.

Die Afghanen sind meist von hohem Wuchs und dunkler Gesichtsfarbe.
Ihr schwarzes Haar bleibt von der Scheere unberührt, und die Vornehmen
Pflegen den Bart nach persischer Sitte ganz oder teilweise rot zu färben. Der
Religion nach sind sie sunnitische Muslime, und zwar sehr fanatische, sodaß sie
nicht nur die christlichen und heidnischen Kafirs, sondern auch die unter ihnen
lebenden Schiiten verabscheuen. Sie haben ein cholerisches Temperament, sind
leicht zu erregen und händelsüchtig, grausam und treulos dem Fremden gegen¬
über, im Kriege unerschrocken und ausdauernd, und zeigen sich immer geneigt
zu Parteiungen und zur Auflehnung gegen ihre Herrscher. Die ansässigen
wohnen in Lehmhütten und Häusern aus Backsteinen mit flachen Dächern, die
nomadisirenden in Zelten aus Filztuch. An den Abhängen der Berge trifft
man viele kleine Kastelle mit Türmchen. Fensterscheiben, Tische und Stühle,
Kamine und Tapeten finden sich selbst in den Wohnungen der Reichen und
Vornehmen selten. Das Weib gilt hier mehr als sonst im Orient, auch unter
den höhern Klassen, die in Bigamie leben, und die Lieblingsfran schir Alis
übte eine Zeit lang Einfluß auch auf dessen Politik.

Die Monarchie steht in Afghanistan auf schwachen Füßen und vermag,
obwohl sie despotisch gehandhabt wird, ihre Macht und ihren Willen keineswegs
immer und überall zur Geltung zu bringen. Obwohl die Emire Dose Mu¬
hammed und schir Ali viel für die Einheit des Reiches gethan und mancherlei
in dieser Richtung erreicht haben, sind viele der Stämme und Fürsten desselben
doch von der Zentralregierung in Kabul noch halb und unter Umständen ganz
unabhängig, und die einzelnen Stämme und deren Unterabteilungen verwalten
ihre Angelegenheiten durchaus selbständig. Die hauptsächlichsten dieser Stämme
sind die im Nordosten wohnenden und großenteils von Feld- und Gartenbau
lebenden Berdurani, die Gildschi, die sich westlich an diese anschließen und bis
über Gasnah hinaus sitzen, und die noch weiter im Westen hausenden Durani,
welche meist ein Nomadenleben führen. Ein jeder Stamm der Afghanen, oder,
wie sie selbst sagen, ein jeder Mus, zerfällt in eine Anzahl von Chans oder
Klane, diese teilen sich in Gaugenossenschaften und letztere wieder in Gemeinden.
Dazu kommen bei einigen Stämmen noch Vereine, deren Teilnehmer sich gegen¬
seitig zu Schutz und Abwehr von Gewaltthat eidlich verbunden haben. Jeder


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[0602] Afghanistan und die Afghanen. und erschienen in Mekka, um sich zum Islam zu bekennen. Kais erhielt den Ehrentitel „Sohn des Gerechten," und alle Adlichen wurden fortan Maul, König, genannt. In der Glaubenstreue würden sie, so sagte der Engel Gabriel dem Propheten, stärker sein als alle andern Völker der Erde, und in ihrer Festigkeit sollten sie dem Holze Pathan gleichen, aus dem der Kiel neuer Schiffe gezimmert wird. Darum möge ihr Volk auch hinfort Pathan heißen. Kais kehrte dann mit seinen Genossen heim und bekehrte sein Volk, und seine Nach¬ kommen mehrten sich dermaßen, daß aus ihnen dreihundertfttnfundneunzig Stämme hervorgingen. Die Afghanen sind meist von hohem Wuchs und dunkler Gesichtsfarbe. Ihr schwarzes Haar bleibt von der Scheere unberührt, und die Vornehmen Pflegen den Bart nach persischer Sitte ganz oder teilweise rot zu färben. Der Religion nach sind sie sunnitische Muslime, und zwar sehr fanatische, sodaß sie nicht nur die christlichen und heidnischen Kafirs, sondern auch die unter ihnen lebenden Schiiten verabscheuen. Sie haben ein cholerisches Temperament, sind leicht zu erregen und händelsüchtig, grausam und treulos dem Fremden gegen¬ über, im Kriege unerschrocken und ausdauernd, und zeigen sich immer geneigt zu Parteiungen und zur Auflehnung gegen ihre Herrscher. Die ansässigen wohnen in Lehmhütten und Häusern aus Backsteinen mit flachen Dächern, die nomadisirenden in Zelten aus Filztuch. An den Abhängen der Berge trifft man viele kleine Kastelle mit Türmchen. Fensterscheiben, Tische und Stühle, Kamine und Tapeten finden sich selbst in den Wohnungen der Reichen und Vornehmen selten. Das Weib gilt hier mehr als sonst im Orient, auch unter den höhern Klassen, die in Bigamie leben, und die Lieblingsfran schir Alis übte eine Zeit lang Einfluß auch auf dessen Politik. Die Monarchie steht in Afghanistan auf schwachen Füßen und vermag, obwohl sie despotisch gehandhabt wird, ihre Macht und ihren Willen keineswegs immer und überall zur Geltung zu bringen. Obwohl die Emire Dose Mu¬ hammed und schir Ali viel für die Einheit des Reiches gethan und mancherlei in dieser Richtung erreicht haben, sind viele der Stämme und Fürsten desselben doch von der Zentralregierung in Kabul noch halb und unter Umständen ganz unabhängig, und die einzelnen Stämme und deren Unterabteilungen verwalten ihre Angelegenheiten durchaus selbständig. Die hauptsächlichsten dieser Stämme sind die im Nordosten wohnenden und großenteils von Feld- und Gartenbau lebenden Berdurani, die Gildschi, die sich westlich an diese anschließen und bis über Gasnah hinaus sitzen, und die noch weiter im Westen hausenden Durani, welche meist ein Nomadenleben führen. Ein jeder Stamm der Afghanen, oder, wie sie selbst sagen, ein jeder Mus, zerfällt in eine Anzahl von Chans oder Klane, diese teilen sich in Gaugenossenschaften und letztere wieder in Gemeinden. Dazu kommen bei einigen Stämmen noch Vereine, deren Teilnehmer sich gegen¬ seitig zu Schutz und Abwehr von Gewaltthat eidlich verbunden haben. Jeder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/602>, abgerufen am 22.07.2024.