Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.so verständnislos. In der Meinung ostpreußischer Gasthaus- und Bahuhvf- Die Nachbarschaft und langjährige Herrschaft des Slawentums ist und Summa: es ist zwar anch in dieser Hinsicht in Ostpreußen auszuhalten, aber Grenzboten II. 1886. 71
so verständnislos. In der Meinung ostpreußischer Gasthaus- und Bahuhvf- Die Nachbarschaft und langjährige Herrschaft des Slawentums ist und Summa: es ist zwar anch in dieser Hinsicht in Ostpreußen auszuhalten, aber Grenzboten II. 1886. 71
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0566" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195955"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_2009" prev="#ID_2008"> so verständnislos. In der Meinung ostpreußischer Gasthaus- und Bahuhvf-<lb/> rcstauratiouskelluer sind Dessert und Käse vollständige Synonyme, und wenn<lb/> man süßes Dessert verlangt, so bekommt man höchstens Kinderuäschereicn. Nun<lb/> gehört ja Käse ebensogut wie Kaffee zu einer guten Mahlzeit, aber Dessert<lb/> ist er doch nicht, da das Dessert doch ans die mittels der Mahlzeit uentrcilisirten<lb/> Geschmacksnerven angenehm wirken, also ihnen etwas Süßes bieten soll; gewiß<lb/> wird ein schlechtes Essen durch das massenhafteste und feinste Dessert nicht besser,<lb/> aber jeder Kenner wird bestätigen, daß auch eine einfache, aber gute Mahlzeit<lb/> durch ein gutes Dessert ungemein gehoben wird. Aber das ist dem Durch¬<lb/> schnittsostpreußen ebenso uuverstnudlich wie das Zufußcgeheu, Seine» letzten<lb/> Grund hat dies alles darin, daß wir uns von Berlin an mehr und mehr dem<lb/> Lande der sauern Gurke, Rußland, nähern. Wer die saure Gurke zu jeder<lb/> Jahreszeit und zu jeder Mahlzeit konsumirt, der kann allerdings für feine<lb/> Süßigkeit keinen Sinn haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_2010"> Die Nachbarschaft und langjährige Herrschaft des Slawentums ist und<lb/> bleibt eben für alle ostpreußischen Verhältnisse von der höchsten Bedeutung.<lb/> Am tiefsten hat das polalische Wesen sich in gewissen Erscheinungen und Ge¬<lb/> wöhnungen des häuslichen und geselligen Lebens eingenistet, so z. B. in der<lb/> Allgemeinheit der Anrede „gnädige Fran," „gnädiges Fräulein" (heutzutage,<lb/> wo die alten Formen geschwunden sind und die angeborne Neigung zutage<lb/> treten kann, läßt sich in Ostpreußen jede ordentlich angezogene Schnstersfran von<lb/> ihrem Dienstmädchen und von den Leuten, bei denen sie ihre Einkäufe macht,<lb/> gnädige Fran tituliren), dann aber auch darin, daß selbst in feinen Familien<lb/> auf Größe und Beschaffenheit der Schlafzimmer kein sonderlicher Wert gelegt<lb/> wird, wenn nur die „Gesellschaftsräume" stattlich und elegant sind. Auf demselben<lb/> Blatte steht es, daß das Fehlen einer Müdchenlammer sogar in Königsberg die<lb/> Regel ist, die Dienstmädchen also degvntautcr Weise in der Küche schlafen müssen<lb/> (wobei selbst der in Berlin wenigstens übliche „Hängeboden" in Wegfall kommt),<lb/> und daß sehr viele, mich bessere Familien überhaupt kein Schlafzimmer haben,<lb/> sondern jeden Abend das Bett „aufschlagen," wo es ihnen gerade paßt. Von<lb/> selbst versteht es sich, daß dies keine Betten nach deutschem Begriffe, sondern,<lb/> Sofabetten oder die sogenannten „Spannbettcn" sind, d. h. Nachtlager, deren<lb/> Unterlage aus einem einfachen Gerüste mit dazwischen ausgespannten dickem,<lb/> grobem Leinenzeug besteht (derartige Betten findet man auch in kleinen Hotels,<lb/> in den kleinen Badeorten des Strandes u. s. w. sehr häufig). Tagsüber ver¬<lb/> schwindet diese Einrichtung, und die Wohnung erscheint also weit größer und<lb/> „reprüsentativnsfähiger," als sie dies bei uns sein würde. Aber selbst ordentliche<lb/> Familien unsers deutschen Kleinbürgerstandes würden sich für ein solches Wesen<lb/> bedanken!</p><lb/> <p xml:id="ID_2011" next="#ID_2012"> Summa: es ist zwar anch in dieser Hinsicht in Ostpreußen auszuhalten, aber<lb/> gerade hier liegt es deutlich vor Angen, daß das Land noch mitten in einer</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1886. 71</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0566]
so verständnislos. In der Meinung ostpreußischer Gasthaus- und Bahuhvf-
rcstauratiouskelluer sind Dessert und Käse vollständige Synonyme, und wenn
man süßes Dessert verlangt, so bekommt man höchstens Kinderuäschereicn. Nun
gehört ja Käse ebensogut wie Kaffee zu einer guten Mahlzeit, aber Dessert
ist er doch nicht, da das Dessert doch ans die mittels der Mahlzeit uentrcilisirten
Geschmacksnerven angenehm wirken, also ihnen etwas Süßes bieten soll; gewiß
wird ein schlechtes Essen durch das massenhafteste und feinste Dessert nicht besser,
aber jeder Kenner wird bestätigen, daß auch eine einfache, aber gute Mahlzeit
durch ein gutes Dessert ungemein gehoben wird. Aber das ist dem Durch¬
schnittsostpreußen ebenso uuverstnudlich wie das Zufußcgeheu, Seine» letzten
Grund hat dies alles darin, daß wir uns von Berlin an mehr und mehr dem
Lande der sauern Gurke, Rußland, nähern. Wer die saure Gurke zu jeder
Jahreszeit und zu jeder Mahlzeit konsumirt, der kann allerdings für feine
Süßigkeit keinen Sinn haben.
Die Nachbarschaft und langjährige Herrschaft des Slawentums ist und
bleibt eben für alle ostpreußischen Verhältnisse von der höchsten Bedeutung.
Am tiefsten hat das polalische Wesen sich in gewissen Erscheinungen und Ge¬
wöhnungen des häuslichen und geselligen Lebens eingenistet, so z. B. in der
Allgemeinheit der Anrede „gnädige Fran," „gnädiges Fräulein" (heutzutage,
wo die alten Formen geschwunden sind und die angeborne Neigung zutage
treten kann, läßt sich in Ostpreußen jede ordentlich angezogene Schnstersfran von
ihrem Dienstmädchen und von den Leuten, bei denen sie ihre Einkäufe macht,
gnädige Fran tituliren), dann aber auch darin, daß selbst in feinen Familien
auf Größe und Beschaffenheit der Schlafzimmer kein sonderlicher Wert gelegt
wird, wenn nur die „Gesellschaftsräume" stattlich und elegant sind. Auf demselben
Blatte steht es, daß das Fehlen einer Müdchenlammer sogar in Königsberg die
Regel ist, die Dienstmädchen also degvntautcr Weise in der Küche schlafen müssen
(wobei selbst der in Berlin wenigstens übliche „Hängeboden" in Wegfall kommt),
und daß sehr viele, mich bessere Familien überhaupt kein Schlafzimmer haben,
sondern jeden Abend das Bett „aufschlagen," wo es ihnen gerade paßt. Von
selbst versteht es sich, daß dies keine Betten nach deutschem Begriffe, sondern,
Sofabetten oder die sogenannten „Spannbettcn" sind, d. h. Nachtlager, deren
Unterlage aus einem einfachen Gerüste mit dazwischen ausgespannten dickem,
grobem Leinenzeug besteht (derartige Betten findet man auch in kleinen Hotels,
in den kleinen Badeorten des Strandes u. s. w. sehr häufig). Tagsüber ver¬
schwindet diese Einrichtung, und die Wohnung erscheint also weit größer und
„reprüsentativnsfähiger," als sie dies bei uns sein würde. Aber selbst ordentliche
Familien unsers deutschen Kleinbürgerstandes würden sich für ein solches Wesen
bedanken!
Summa: es ist zwar anch in dieser Hinsicht in Ostpreußen auszuhalten, aber
gerade hier liegt es deutlich vor Angen, daß das Land noch mitten in einer
Grenzboten II. 1886. 71
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