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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die dramatische Kunst E. von IVildonbruchs.

schied Von vielen Werken unsrer großen Meister, worin sie wesentliche Vorteile
vor diesen voraus haben. Denn wenn man gleich nicht glauben darf, daß Schiller
und Goethe durchaus ohne Rücksicht auf die realen Bedürfnisse des Theaters
gedichtet haben, so waren doch andrerseits die Anforderungen von dieser Seite
häusig derart, daß jene Männer sie nicht erfüllen zu dürfen glaubten, ohne
wichtige Ehrenrechte des Dichters zu gunsten eines andern, den sie tief unter
sich sahen, zu opfern. Es fehlte eben damals in Deutschland nur zu oft an
der geeigneten Vermittlung, um in möglichst objektiver Abwägung der idealen
und realen Momente beide ins richtige Verhältnis zu einander zu setzen. Die
örtlichen und zeitlichen Bedingungen, welche die Bühne nicht bloß in Rücksicht
auf das Publikum und die Kräfte des Schauspielers, sondern auch in Absicht
auf deu Effekt stellen muß, wurden deshalb vielfach weniger berücksichtigt, und
so kommt es, daß nicht wenige Bühnenstücke aus der Blütezeit unsrer Literatur,
und häufig gerade diejenigen, denen wir den höchsten Wert beilegen, nur auf
das Ziel der vollsten Ausgestaltung der zu gründe liegenden Idee hin ge¬
schaffen zu sein scheinen. Auch diese Werke, ans dem deutschen Volke hervor¬
gegangen, tragen die Signatur jener Periode unsers nationalen Lebens an sich,
selbstvergessenes Versinken in die Welt der Gedanken und des Empfindens,
beklagenswerter Mangel an Praxis den Anforderungen des wirklichen Lebens
gegenüber. Das ist nun anders, und wie das deutsche Volk bei aller möglichen
Pflege des Idealen doch uicht mehr gewillt ist, die auf dem Markte des Lebens
ausgestellten realen Güter sich von andern vorwegnehmen zu lassen, so hat
auch speziell die Arbeit auf dem Gebiete der Ideen einen auf das Praktische
gerichteten Zug erhalten. Man kann dies in der That auch an Wildenbruchs
Dramen beobachten, und ihm sowohl selbst als auch uns dürfen wir Glück
wünschen, daß er, wenn es ihm überhaupt um ein Vorbild zu thun war, nicht
bei Schiller, sondern bei Shakespeare in die Schule gegangen ist. In der
Anlage seiner Stücke liegt vor allem die Stärke Wildenbruchs. Der Aufbau
der Szenen ist ein durchaus folgerichtiger, der Fortgang der Handlung wird
durch nichts unterbrochen, was nicht streng in den logischen Zusammenhang der
Dinge gehörte. Da ist überall der knappste Zuschnitt. Nicht mehr Personen
als notwendig sind, und diese sprechen nicht mehr als hinreicht, um ihre
Stellung im Ensemble der wirkenden Kräfte zu kennzeichnen. Aber auch nicht
weniger. Der Gedanke, die Empfindung, die Stimmung finden überall den
ansreichendften Ausdruck, und das in jener Sprache, von der des Rühmens
genug geschehen ist. So geht die Handlung ihren bald ruhigen, bald stürmischen,
aber immer sichern Gang dem Ziele zu, das ihr der Dichter gesteckt hat. Da¬
durch wird das Interesse des Lesers oder Hörers immer rege gehalten und
steigert sich im anhebenden Wirbel der Leidenschaften bis zur höchsten Spannung.
Wildenbruch gebietet über ein außerordentliches Maß von Pathos. Wenn
Erwartung, Furcht, Schrecken, wenn Mitleid, Liebe, Haß in wilder Entfesselung


Die dramatische Kunst E. von IVildonbruchs.

schied Von vielen Werken unsrer großen Meister, worin sie wesentliche Vorteile
vor diesen voraus haben. Denn wenn man gleich nicht glauben darf, daß Schiller
und Goethe durchaus ohne Rücksicht auf die realen Bedürfnisse des Theaters
gedichtet haben, so waren doch andrerseits die Anforderungen von dieser Seite
häusig derart, daß jene Männer sie nicht erfüllen zu dürfen glaubten, ohne
wichtige Ehrenrechte des Dichters zu gunsten eines andern, den sie tief unter
sich sahen, zu opfern. Es fehlte eben damals in Deutschland nur zu oft an
der geeigneten Vermittlung, um in möglichst objektiver Abwägung der idealen
und realen Momente beide ins richtige Verhältnis zu einander zu setzen. Die
örtlichen und zeitlichen Bedingungen, welche die Bühne nicht bloß in Rücksicht
auf das Publikum und die Kräfte des Schauspielers, sondern auch in Absicht
auf deu Effekt stellen muß, wurden deshalb vielfach weniger berücksichtigt, und
so kommt es, daß nicht wenige Bühnenstücke aus der Blütezeit unsrer Literatur,
und häufig gerade diejenigen, denen wir den höchsten Wert beilegen, nur auf
das Ziel der vollsten Ausgestaltung der zu gründe liegenden Idee hin ge¬
schaffen zu sein scheinen. Auch diese Werke, ans dem deutschen Volke hervor¬
gegangen, tragen die Signatur jener Periode unsers nationalen Lebens an sich,
selbstvergessenes Versinken in die Welt der Gedanken und des Empfindens,
beklagenswerter Mangel an Praxis den Anforderungen des wirklichen Lebens
gegenüber. Das ist nun anders, und wie das deutsche Volk bei aller möglichen
Pflege des Idealen doch uicht mehr gewillt ist, die auf dem Markte des Lebens
ausgestellten realen Güter sich von andern vorwegnehmen zu lassen, so hat
auch speziell die Arbeit auf dem Gebiete der Ideen einen auf das Praktische
gerichteten Zug erhalten. Man kann dies in der That auch an Wildenbruchs
Dramen beobachten, und ihm sowohl selbst als auch uns dürfen wir Glück
wünschen, daß er, wenn es ihm überhaupt um ein Vorbild zu thun war, nicht
bei Schiller, sondern bei Shakespeare in die Schule gegangen ist. In der
Anlage seiner Stücke liegt vor allem die Stärke Wildenbruchs. Der Aufbau
der Szenen ist ein durchaus folgerichtiger, der Fortgang der Handlung wird
durch nichts unterbrochen, was nicht streng in den logischen Zusammenhang der
Dinge gehörte. Da ist überall der knappste Zuschnitt. Nicht mehr Personen
als notwendig sind, und diese sprechen nicht mehr als hinreicht, um ihre
Stellung im Ensemble der wirkenden Kräfte zu kennzeichnen. Aber auch nicht
weniger. Der Gedanke, die Empfindung, die Stimmung finden überall den
ansreichendften Ausdruck, und das in jener Sprache, von der des Rühmens
genug geschehen ist. So geht die Handlung ihren bald ruhigen, bald stürmischen,
aber immer sichern Gang dem Ziele zu, das ihr der Dichter gesteckt hat. Da¬
durch wird das Interesse des Lesers oder Hörers immer rege gehalten und
steigert sich im anhebenden Wirbel der Leidenschaften bis zur höchsten Spannung.
Wildenbruch gebietet über ein außerordentliches Maß von Pathos. Wenn
Erwartung, Furcht, Schrecken, wenn Mitleid, Liebe, Haß in wilder Entfesselung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/519>, abgerufen am 22.07.2024.