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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

erkannt, daß des Menschen allein würdig ein Weltbürgertum ist, welches nichts
so sehr fürchtet als den Vorwurf des Egoismus, und deshalb stets zu andern
höflich sagt: "Bitte, nach Ihnen!" Und keine höhere Befriedigung kennt der gute
freisinnige Mensch, als wenn er das Nachsehen hat, weil die andern unhöflich
alles für sich genommen haben. Wir frieren mit Lust, wenn wir dem bösen
Nachbar unsern Mantel um die Schultern hängen dürfen, und wir> halten
ihm freudig nicht nur die andre Wange, sondern auch den Rucke" hin, wenn
es ihn gelüstet, uns zu züchtigen. Das ist doch schriftmäßig christlich. Und
wieder ist der Prediger dieser Lehre, der treue Wächter für das Recht des
Auslandes, jener vielverlästerte Held, dessen tapfere Zunge die Hohenzollern
vor dein Schicksal der Merowinger bewahrt hat, und der diesmal noch Zeit
fand, nebenher die sonst ganz preisgegebene Ehre der Nation zu wahren.
Heil ihm!

Und dennoch ist er nicht der am weitesten Fortgeschrittene. Seine zen¬
tralen Freunde gehen über das Urchristentum hinaus, sie wachen, daß die Para¬
graphen der mosaischen Verfassung nicht verletzt werden. Der Reichskanzler, der
arge Heide, stellte sich auf den Standpunkt des Evangeliums, demzufolge die
Heiligung des Sonntags nicht verbietet, für des Leibes Nahrung und Notdurft
zu sorgen; er erinnerte sich wahrscheinlich an die Ähren und Schaubrote, und
meinte wohl, durch solche Autoritäten gedeckt zu sein. Aber er hatte die Rech¬
nung ohne die "Germania" gemacht. Mag ihn sonst nicht leicht etwas er¬
schüttern, durch diese flammende Strafpredigt muß er in den Zustand tiefster
Zerknirschung versetzt worden sein. Denn wenn Nathan der Prophet oder
Samuel in eigner Person die Leitartikel für die dentschgeschriebene "Roma"
verfaßten, könnten sie den Ton nicht besser treffen. Ja, ohne schmeicheln
zu wollen, der Geist Samuels ist über das fromme Blatt gekommen,
jenes Samuel, welcher im Auftrage seines Gottes den König absetzte, der
freventlich hatte Milde walten lassen gegen einen Amalekiter, da doch der
Gott Samuels dies Volk mit Stumpf und Stiel ausgerottet wissen wollte.
Wie wahr spricht der neue Prophet: "Wir verstehen uns nicht mehr. Sie
halten für erlaubt, was wir für unerlaubt und verderblich halten," und vios
vsrsg., hätte er hinzusetzen können. Mehr noch, "sie," nämlich Saul und sein
Anhang, halten für notwendig, was "uns," nämlich den Gottseligen, das aller-
unangenehmste ist. Sie steifen sich darauf, daß der Menfch soll unterthan sein
der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat, während doch der alte Gott der Juden
den Hohenpriester über die Obrigkeit gesetzt hat. Wir verstehen uns nicht mehr!
Sie sind und bleiben verstockt, sie wollen noch heute nicht begreifen, daß die
^.utos äg, to, und die Bartholomäusnacht, und die Zerstörung von Heidel¬
berg u. s. w. gottgefällige Werke gewesen sind, sogut wie die Hinschlachtung
der Weiber und Kinder der Amalekiter. Noch ermahnt der Prophet nur, noch
läßt er nur durchblicken, daß das sündliche Treiben Sauls ihm "den Fluch


Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

erkannt, daß des Menschen allein würdig ein Weltbürgertum ist, welches nichts
so sehr fürchtet als den Vorwurf des Egoismus, und deshalb stets zu andern
höflich sagt: „Bitte, nach Ihnen!" Und keine höhere Befriedigung kennt der gute
freisinnige Mensch, als wenn er das Nachsehen hat, weil die andern unhöflich
alles für sich genommen haben. Wir frieren mit Lust, wenn wir dem bösen
Nachbar unsern Mantel um die Schultern hängen dürfen, und wir> halten
ihm freudig nicht nur die andre Wange, sondern auch den Rucke» hin, wenn
es ihn gelüstet, uns zu züchtigen. Das ist doch schriftmäßig christlich. Und
wieder ist der Prediger dieser Lehre, der treue Wächter für das Recht des
Auslandes, jener vielverlästerte Held, dessen tapfere Zunge die Hohenzollern
vor dein Schicksal der Merowinger bewahrt hat, und der diesmal noch Zeit
fand, nebenher die sonst ganz preisgegebene Ehre der Nation zu wahren.
Heil ihm!

Und dennoch ist er nicht der am weitesten Fortgeschrittene. Seine zen¬
tralen Freunde gehen über das Urchristentum hinaus, sie wachen, daß die Para¬
graphen der mosaischen Verfassung nicht verletzt werden. Der Reichskanzler, der
arge Heide, stellte sich auf den Standpunkt des Evangeliums, demzufolge die
Heiligung des Sonntags nicht verbietet, für des Leibes Nahrung und Notdurft
zu sorgen; er erinnerte sich wahrscheinlich an die Ähren und Schaubrote, und
meinte wohl, durch solche Autoritäten gedeckt zu sein. Aber er hatte die Rech¬
nung ohne die „Germania" gemacht. Mag ihn sonst nicht leicht etwas er¬
schüttern, durch diese flammende Strafpredigt muß er in den Zustand tiefster
Zerknirschung versetzt worden sein. Denn wenn Nathan der Prophet oder
Samuel in eigner Person die Leitartikel für die dentschgeschriebene „Roma"
verfaßten, könnten sie den Ton nicht besser treffen. Ja, ohne schmeicheln
zu wollen, der Geist Samuels ist über das fromme Blatt gekommen,
jenes Samuel, welcher im Auftrage seines Gottes den König absetzte, der
freventlich hatte Milde walten lassen gegen einen Amalekiter, da doch der
Gott Samuels dies Volk mit Stumpf und Stiel ausgerottet wissen wollte.
Wie wahr spricht der neue Prophet: „Wir verstehen uns nicht mehr. Sie
halten für erlaubt, was wir für unerlaubt und verderblich halten," und vios
vsrsg., hätte er hinzusetzen können. Mehr noch, „sie," nämlich Saul und sein
Anhang, halten für notwendig, was „uns," nämlich den Gottseligen, das aller-
unangenehmste ist. Sie steifen sich darauf, daß der Menfch soll unterthan sein
der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat, während doch der alte Gott der Juden
den Hohenpriester über die Obrigkeit gesetzt hat. Wir verstehen uns nicht mehr!
Sie sind und bleiben verstockt, sie wollen noch heute nicht begreifen, daß die
^.utos äg, to, und die Bartholomäusnacht, und die Zerstörung von Heidel¬
berg u. s. w. gottgefällige Werke gewesen sind, sogut wie die Hinschlachtung
der Weiber und Kinder der Amalekiter. Noch ermahnt der Prophet nur, noch
läßt er nur durchblicken, daß das sündliche Treiben Sauls ihm „den Fluch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/431>, abgerufen am 22.07.2024.