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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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sprechen, wo aber bleibt die Erfindung, die schöpferische Kraft, die Phantasie
und Dichtung? Diese Herren vermögen nichts auszusinnen und freuen sich sogar
über ihre Unfähigkeit; umso näher, meinen sie, sind wir der Wahrheit. Die
Wahrheit ist allerdings die Luft, ohne die man nicht leben und atmen kann;
die Kunst aber ist ein Gewächs -- bisweilen sogar ein ziemlich launenhaftes
Gewächs --, das in jener Luft sich entwickelt und reift. Jene Herren freilich
haben kein Korn zur Aussaat -- was soll da bei ihnen wachsen?"

Der Aufenthalt im Auslande blieb nicht ohne Einfluß auf Turgenjews
Poetisches Schaffen. Er giebt es selber seinem Freunde Polvnski gegenüber zu,
daß er bei seiner Art zu produziren den Mangel an "Typen" stark empfinde;
er mußte schauen, um schaffen zu können. In der That sehen wir Turgenjews
sittenschildernde Thätigkeit durch anderthalb Jahrzehnte -- bis zum Erscheinen
der "Neuen Generation" -- fast gänzlich brachliegen. Gesellschaftliche
Charakteristiken in der Art des "Rudin," der "Väter und Söhne" vermissen
wir in dieser Periode. Dagegen erschien nun eine Reihe fein eingelegter und
subtil durchgeführter, zum Teil genialer Novelle" psychologisch-sozialen Inhalts,
die Turgenjews poetische Begabung, frei von aller Tendenz, in hellstes Licht
stellen. Es gehören hierher unter andern: "Der König Lear der Steppe,"
,>Frühlingöwogen," "Eine Unglückliche," "Die lebendige Leiche" u. s. w. In
den Augen der Russen, bei denen die Tendenz nachgerade an Stelle der Poesie
getreten war, hatten diese Dichtungen wenig Bedeutung. "Er pflegt jetzt die
Kunst um der Kunst willen" -- mit diesen Worten war der große russische
Erzähler gerichtet. Doch ließ sich Turgenjew durch solche Urteile durchaus
nicht beirren: "Solange, schreibt er an Polonski, gutmütige Redakteure meine
Arbeiten noch bezahlen, werde ich diesem Genre treu bleiben und getrost die
Verachtung der Herren Rezensenten ertragen." Im Jahre 1866 war der
^jost-iM ^ovrvM (Europäische Bote) gegründet worden, der alsbald die erste
russische Monatsrevue wurde und Turgenjew von Anfang an unter seine wenigen
Sterne ersten Ranges zählte.

Je weniger Turgenjew in den sechziger und siebziger Jahren den Beifall
seiner Landsleute fand, desto höher stieg er während dieser Zeit in den Augen
des westeuropäischen Publikums. Von Jahr zu Jahr wuchs in Deutschland,
Frankreich und England die Schar seiner Verehrer. Die französischen Realisten,
wie Flaubert, Daudet und Zoln, begrüßten in ihm den artverwandten Künstler,
die Deutschen bewunderten die tiefe psychologische Wahrheit und die Gcmüts-
innigkeit seiner Dichtungen, die Engländer luden ihn zu Jagden ein, gaben ihm
Bankette und machten ihn zum Oxforder Doktor. Eine amerikanische Revue
(MMtic, NoiiWs/) nannte ihn sogar ein Genie, wozu Turgenjew folgende
charakteristische Bemerkung macht: "Ich müßte lügen, wenn ich sagen sollte, daß
mich solche Lobeserhebungen gleichgiltig ließen; aber ebenso unwahr wäre die
Behauptung, daß sie mich besonders entzückten. Das alles ist nichts als Schatten,


Grenzboten II. 1885. 52

sprechen, wo aber bleibt die Erfindung, die schöpferische Kraft, die Phantasie
und Dichtung? Diese Herren vermögen nichts auszusinnen und freuen sich sogar
über ihre Unfähigkeit; umso näher, meinen sie, sind wir der Wahrheit. Die
Wahrheit ist allerdings die Luft, ohne die man nicht leben und atmen kann;
die Kunst aber ist ein Gewächs — bisweilen sogar ein ziemlich launenhaftes
Gewächs —, das in jener Luft sich entwickelt und reift. Jene Herren freilich
haben kein Korn zur Aussaat — was soll da bei ihnen wachsen?"

Der Aufenthalt im Auslande blieb nicht ohne Einfluß auf Turgenjews
Poetisches Schaffen. Er giebt es selber seinem Freunde Polvnski gegenüber zu,
daß er bei seiner Art zu produziren den Mangel an „Typen" stark empfinde;
er mußte schauen, um schaffen zu können. In der That sehen wir Turgenjews
sittenschildernde Thätigkeit durch anderthalb Jahrzehnte — bis zum Erscheinen
der „Neuen Generation" — fast gänzlich brachliegen. Gesellschaftliche
Charakteristiken in der Art des „Rudin," der „Väter und Söhne" vermissen
wir in dieser Periode. Dagegen erschien nun eine Reihe fein eingelegter und
subtil durchgeführter, zum Teil genialer Novelle» psychologisch-sozialen Inhalts,
die Turgenjews poetische Begabung, frei von aller Tendenz, in hellstes Licht
stellen. Es gehören hierher unter andern: „Der König Lear der Steppe,"
,>Frühlingöwogen," „Eine Unglückliche," „Die lebendige Leiche" u. s. w. In
den Augen der Russen, bei denen die Tendenz nachgerade an Stelle der Poesie
getreten war, hatten diese Dichtungen wenig Bedeutung. „Er pflegt jetzt die
Kunst um der Kunst willen" — mit diesen Worten war der große russische
Erzähler gerichtet. Doch ließ sich Turgenjew durch solche Urteile durchaus
nicht beirren: „Solange, schreibt er an Polonski, gutmütige Redakteure meine
Arbeiten noch bezahlen, werde ich diesem Genre treu bleiben und getrost die
Verachtung der Herren Rezensenten ertragen." Im Jahre 1866 war der
^jost-iM ^ovrvM (Europäische Bote) gegründet worden, der alsbald die erste
russische Monatsrevue wurde und Turgenjew von Anfang an unter seine wenigen
Sterne ersten Ranges zählte.

Je weniger Turgenjew in den sechziger und siebziger Jahren den Beifall
seiner Landsleute fand, desto höher stieg er während dieser Zeit in den Augen
des westeuropäischen Publikums. Von Jahr zu Jahr wuchs in Deutschland,
Frankreich und England die Schar seiner Verehrer. Die französischen Realisten,
wie Flaubert, Daudet und Zoln, begrüßten in ihm den artverwandten Künstler,
die Deutschen bewunderten die tiefe psychologische Wahrheit und die Gcmüts-
innigkeit seiner Dichtungen, die Engländer luden ihn zu Jagden ein, gaben ihm
Bankette und machten ihn zum Oxforder Doktor. Eine amerikanische Revue
(MMtic, NoiiWs/) nannte ihn sogar ein Genie, wozu Turgenjew folgende
charakteristische Bemerkung macht: „Ich müßte lügen, wenn ich sagen sollte, daß
mich solche Lobeserhebungen gleichgiltig ließen; aber ebenso unwahr wäre die
Behauptung, daß sie mich besonders entzückten. Das alles ist nichts als Schatten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/414>, abgerufen am 22.07.2024.