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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die Sebalds.

hat. da ihm kein in irgend einer derselben erwähnter Zug entgangen ist, der
sich, herausgerissen und entstellt durch Unterdrückung von Nebenumständen,
stempeln läßt zu einer menschlichen Schwäche, auch eine solche zuweilen wirklich
ist, während er sich hier wohl hütet, der naheliegenden Entschuldigung auch nur
mit einer Silbe zu gedenken, geschweige gar von den eben daselbst berichteten
edeln Beweggründen und bewunderungswürdigen Charakterzügeu auch nur das
Allermindeste verlauten zu lassen, desto verdammender ist mit Recht das Urteil
über diese Stücke ausgefallen. Auch wenn man den höchsten Grad zelotischer
Verblendung als Milderungsgrund gelten lassen wollte, die wissentliche Fälschung
bleibt eine haarsträubend arge. Daß ein Mann von unfraglich hoher Begabung
und anderweit bewiesenen Forschersinn sein Gewissen zu solcher Ruchlosigkeit
notzüchtigen konnte, wird nur begreiflich durch die Annahme, daß die Jesuiten¬
moral es löblich findet und gebietet, im Kampfe für eine vermeintlich gute
Sache selbst das unverschämteste und niederträchtigste Lügengewebe sür Geschichte
auszugeben."

In der That wären die Bemühungen des Jesuiten beinahe erfolgreich ge¬
worden, hätte nicht der Graf plötzlich eine Geschäftsreise nach Amerika mit seiner
Tochter unternehmen müssen, wodurch sie den Umgarnungen des schlauen Pro¬
fessors entrissen worden ist und -- wie es die Romanvorsehung nun einmal will --
in der neuen Welt einen ehrlicherem und besseren Lehrer in dem Bruder Ulrichs,
Arnulf Sebald, gefunden hat, welcher das begonnene Werk des Pastors, die
Bekehrung Hildegardens zur naturwissenschaftlichen Weltanschauung und zu
dem nach seinem Sinne entwickelten Christentum, vollendete. Arnulf Sebald
vertritt die andre Hälfte des Jordauschcn Systems, den Darwinismus, der bei
ihm eine so große Rolle spielt, die Lehre von der sich selbst erhaltenden, bil¬
denden und entwickelnden Welt. Die beiden Brüder waren nicht immer gleichen
Sinnes; sie studirten zusammen, und der Naturhistoriker drohte einen Augenblick
den Theologen ganz zu bewältigen; nur widerwillig und nur aus Ehrfurcht
vor der ererbten Pflicht war Ulrich Pastor gebliebe". Schließlich gelang es ihm
doch, Arnulf, den exakten Naturhistoriker, mit seiner Metaphysik zu versöhnen.
Diesen läßt Jordan die Brücke von der Natur zum Geiste schlagen, indem er
vorsichtig die Umrisse einer Weltentstehungsgeschichte entwirft, welche den Ge¬
danken eines Fortschrittes der Materie zum Bewußtsein und in der Menschheit
zur göttlichen Allmacht ausspricht, worauf er sich der oben zitirten Auffassung
Christi endlich anschließt.

"Mein Gleichnis, sagt Arnulf-Jordan, geboren aus dem Zwange der Alter¬
native (entweder: die Welt hat weder Anfang noch Ende, sie ist ewig, die Er¬
scheinung wechselt; oder, wenn wir den Glauben an ein göttliches Wesen nicht
aufgeben können: wir räumen ein, daß es einst in grauenhafter Einsamkeit
allein war im Weltraume), läßt diesen Gott also reden: "Ich ertrage mich so
nicht länger. Ich will Abwechslung; ich will schlafen, träumen und erwachen.


Die Sebalds.

hat. da ihm kein in irgend einer derselben erwähnter Zug entgangen ist, der
sich, herausgerissen und entstellt durch Unterdrückung von Nebenumständen,
stempeln läßt zu einer menschlichen Schwäche, auch eine solche zuweilen wirklich
ist, während er sich hier wohl hütet, der naheliegenden Entschuldigung auch nur
mit einer Silbe zu gedenken, geschweige gar von den eben daselbst berichteten
edeln Beweggründen und bewunderungswürdigen Charakterzügeu auch nur das
Allermindeste verlauten zu lassen, desto verdammender ist mit Recht das Urteil
über diese Stücke ausgefallen. Auch wenn man den höchsten Grad zelotischer
Verblendung als Milderungsgrund gelten lassen wollte, die wissentliche Fälschung
bleibt eine haarsträubend arge. Daß ein Mann von unfraglich hoher Begabung
und anderweit bewiesenen Forschersinn sein Gewissen zu solcher Ruchlosigkeit
notzüchtigen konnte, wird nur begreiflich durch die Annahme, daß die Jesuiten¬
moral es löblich findet und gebietet, im Kampfe für eine vermeintlich gute
Sache selbst das unverschämteste und niederträchtigste Lügengewebe sür Geschichte
auszugeben."

In der That wären die Bemühungen des Jesuiten beinahe erfolgreich ge¬
worden, hätte nicht der Graf plötzlich eine Geschäftsreise nach Amerika mit seiner
Tochter unternehmen müssen, wodurch sie den Umgarnungen des schlauen Pro¬
fessors entrissen worden ist und — wie es die Romanvorsehung nun einmal will —
in der neuen Welt einen ehrlicherem und besseren Lehrer in dem Bruder Ulrichs,
Arnulf Sebald, gefunden hat, welcher das begonnene Werk des Pastors, die
Bekehrung Hildegardens zur naturwissenschaftlichen Weltanschauung und zu
dem nach seinem Sinne entwickelten Christentum, vollendete. Arnulf Sebald
vertritt die andre Hälfte des Jordauschcn Systems, den Darwinismus, der bei
ihm eine so große Rolle spielt, die Lehre von der sich selbst erhaltenden, bil¬
denden und entwickelnden Welt. Die beiden Brüder waren nicht immer gleichen
Sinnes; sie studirten zusammen, und der Naturhistoriker drohte einen Augenblick
den Theologen ganz zu bewältigen; nur widerwillig und nur aus Ehrfurcht
vor der ererbten Pflicht war Ulrich Pastor gebliebe». Schließlich gelang es ihm
doch, Arnulf, den exakten Naturhistoriker, mit seiner Metaphysik zu versöhnen.
Diesen läßt Jordan die Brücke von der Natur zum Geiste schlagen, indem er
vorsichtig die Umrisse einer Weltentstehungsgeschichte entwirft, welche den Ge¬
danken eines Fortschrittes der Materie zum Bewußtsein und in der Menschheit
zur göttlichen Allmacht ausspricht, worauf er sich der oben zitirten Auffassung
Christi endlich anschließt.

„Mein Gleichnis, sagt Arnulf-Jordan, geboren aus dem Zwange der Alter¬
native (entweder: die Welt hat weder Anfang noch Ende, sie ist ewig, die Er¬
scheinung wechselt; oder, wenn wir den Glauben an ein göttliches Wesen nicht
aufgeben können: wir räumen ein, daß es einst in grauenhafter Einsamkeit
allein war im Weltraume), läßt diesen Gott also reden: »Ich ertrage mich so
nicht länger. Ich will Abwechslung; ich will schlafen, träumen und erwachen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/40>, abgerufen am 22.07.2024.