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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Um eine perle.

über ihr Denkvermögen hinaus, und doch war sie dadurch tiefinnerlich beruhigt
worden.

Sie fühlte nach ihrem Puls. Er ging so gleichmäßig wie neulich, als
der Arzt sie für genesen erklärt hatte. Und ich bin ja jetzt in Wahrheit genesen!
rief sie, o welch eine unverdiente Gnade des Himmels! Mir das! Mir!

Thränen entstürzten ihren Augen.

Aber wenn ihr Puls auch ebenmäßig ging, sie war doch durch die
Krankheit und jetzt durch das Wahngebilde, welches in der Form eines Traumes
über sie Gewalt gewonnen hatte, so geschwächt, daß ihr Geist gegen nichts
Widerstand zu leisten vermochte. Wie er eben freudetrunken seinen Flug gen
Himmel genommen hatte, fo warf ihn der Zweifel gleich darauf mit geknickter
Schwinge auf die Erde herab.

Unweit des Zodiacv-Gäßchens lag das Kloster der Minimi. In allen
Zimmern des stillen Palastes hörte man Tag für Tag von der Matutina bis
zum Kompletorium alle zu den sieben Gcbetstunden in ihrem Kirchlein gesungenen
Psalmen, Hymnen und Autiphonien. Auch Florida war in dem Mithersagen
dieser Gebete aufgewachsen. Erst seit dem Ritt nach Verona -- S. Aloisiv
mußte es ganz übersehen haben -- hatte sie diese Gewohnheit öfter verabsäumt.
Dennoch war ihr früher oft eingeprägt worden, daß solche Säumnis eine sehr
strafbare Unterlassung sei; bezog sich die Zahl der sieben Gcbetstunden doch ans
Dinge, denen sich nichts beliebig abknappen ließ: auf die sieben Schöpfungstage,
auf die sieben Stunden, welche das Erlösungswerk gedauert hatte, auf die sieben
Bitten. Ein Mönch, Severianus mit Namen, das wußte sie, erduldete seit
langem Qualen in der Hölle, weil er einmal das Ende des Gebets nicht ab¬
gewartet hatte.

Das alles siel ihr aufs Herz, als plötzlich das Psalmiren der Mönche wie
eine vorwurfsvolle Mahnung mitten in ihre Frendenstimmuug hereinbrach; und
da kamen ihr Zweifel, ja es schien ihr je länger je mehr geradezu eine Un¬
möglichkeit, daß sie, die Säumige, die Strafbare, jener Vision wirklich durch
die Gnade des Himmels gewürdigt worden sein könne.

In entsetzlicher Beklemmung lag sie eine Weile zitternd da und starrte
aufwärts gegen die Decke ihres Zimmers. Die darauf gemalten zwölf Zeichen
des Tierkreises hatten sie nie gestört; jetzt erschienen sie ihr unheilig und
fratzenhaft wie die Ungetüme, deren Nähe den säumigen Mönch Severianus in
der Hölle beängstigen mochten.

Und wenn nun jene Vision, rief sie aus, ein Teufelsspuk gewesen ist, von
dem Bösen ersonnen, um mich vollends in seine Gewalt zu bringen?

Sie erhob sich vou ihrem Lager, warf sich aus die Kniee vor dem Bilde
der Ng,lor äolorosa, und flehte um Erleuchtung.

Seit jenein Schreckensabend hatte sie nicht wieder zu dem Bilde aufzu¬
blicken vermocht. Auch jetzt ging es über ihre Kraft. Ein andres Schwert


Um eine perle.

über ihr Denkvermögen hinaus, und doch war sie dadurch tiefinnerlich beruhigt
worden.

Sie fühlte nach ihrem Puls. Er ging so gleichmäßig wie neulich, als
der Arzt sie für genesen erklärt hatte. Und ich bin ja jetzt in Wahrheit genesen!
rief sie, o welch eine unverdiente Gnade des Himmels! Mir das! Mir!

Thränen entstürzten ihren Augen.

Aber wenn ihr Puls auch ebenmäßig ging, sie war doch durch die
Krankheit und jetzt durch das Wahngebilde, welches in der Form eines Traumes
über sie Gewalt gewonnen hatte, so geschwächt, daß ihr Geist gegen nichts
Widerstand zu leisten vermochte. Wie er eben freudetrunken seinen Flug gen
Himmel genommen hatte, fo warf ihn der Zweifel gleich darauf mit geknickter
Schwinge auf die Erde herab.

Unweit des Zodiacv-Gäßchens lag das Kloster der Minimi. In allen
Zimmern des stillen Palastes hörte man Tag für Tag von der Matutina bis
zum Kompletorium alle zu den sieben Gcbetstunden in ihrem Kirchlein gesungenen
Psalmen, Hymnen und Autiphonien. Auch Florida war in dem Mithersagen
dieser Gebete aufgewachsen. Erst seit dem Ritt nach Verona — S. Aloisiv
mußte es ganz übersehen haben — hatte sie diese Gewohnheit öfter verabsäumt.
Dennoch war ihr früher oft eingeprägt worden, daß solche Säumnis eine sehr
strafbare Unterlassung sei; bezog sich die Zahl der sieben Gcbetstunden doch ans
Dinge, denen sich nichts beliebig abknappen ließ: auf die sieben Schöpfungstage,
auf die sieben Stunden, welche das Erlösungswerk gedauert hatte, auf die sieben
Bitten. Ein Mönch, Severianus mit Namen, das wußte sie, erduldete seit
langem Qualen in der Hölle, weil er einmal das Ende des Gebets nicht ab¬
gewartet hatte.

Das alles siel ihr aufs Herz, als plötzlich das Psalmiren der Mönche wie
eine vorwurfsvolle Mahnung mitten in ihre Frendenstimmuug hereinbrach; und
da kamen ihr Zweifel, ja es schien ihr je länger je mehr geradezu eine Un¬
möglichkeit, daß sie, die Säumige, die Strafbare, jener Vision wirklich durch
die Gnade des Himmels gewürdigt worden sein könne.

In entsetzlicher Beklemmung lag sie eine Weile zitternd da und starrte
aufwärts gegen die Decke ihres Zimmers. Die darauf gemalten zwölf Zeichen
des Tierkreises hatten sie nie gestört; jetzt erschienen sie ihr unheilig und
fratzenhaft wie die Ungetüme, deren Nähe den säumigen Mönch Severianus in
der Hölle beängstigen mochten.

Und wenn nun jene Vision, rief sie aus, ein Teufelsspuk gewesen ist, von
dem Bösen ersonnen, um mich vollends in seine Gewalt zu bringen?

Sie erhob sich vou ihrem Lager, warf sich aus die Kniee vor dem Bilde
der Ng,lor äolorosa, und flehte um Erleuchtung.

Seit jenein Schreckensabend hatte sie nicht wieder zu dem Bilde aufzu¬
blicken vermocht. Auch jetzt ging es über ihre Kraft. Ein andres Schwert


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[0380] Um eine perle. über ihr Denkvermögen hinaus, und doch war sie dadurch tiefinnerlich beruhigt worden. Sie fühlte nach ihrem Puls. Er ging so gleichmäßig wie neulich, als der Arzt sie für genesen erklärt hatte. Und ich bin ja jetzt in Wahrheit genesen! rief sie, o welch eine unverdiente Gnade des Himmels! Mir das! Mir! Thränen entstürzten ihren Augen. Aber wenn ihr Puls auch ebenmäßig ging, sie war doch durch die Krankheit und jetzt durch das Wahngebilde, welches in der Form eines Traumes über sie Gewalt gewonnen hatte, so geschwächt, daß ihr Geist gegen nichts Widerstand zu leisten vermochte. Wie er eben freudetrunken seinen Flug gen Himmel genommen hatte, fo warf ihn der Zweifel gleich darauf mit geknickter Schwinge auf die Erde herab. Unweit des Zodiacv-Gäßchens lag das Kloster der Minimi. In allen Zimmern des stillen Palastes hörte man Tag für Tag von der Matutina bis zum Kompletorium alle zu den sieben Gcbetstunden in ihrem Kirchlein gesungenen Psalmen, Hymnen und Autiphonien. Auch Florida war in dem Mithersagen dieser Gebete aufgewachsen. Erst seit dem Ritt nach Verona — S. Aloisiv mußte es ganz übersehen haben — hatte sie diese Gewohnheit öfter verabsäumt. Dennoch war ihr früher oft eingeprägt worden, daß solche Säumnis eine sehr strafbare Unterlassung sei; bezog sich die Zahl der sieben Gcbetstunden doch ans Dinge, denen sich nichts beliebig abknappen ließ: auf die sieben Schöpfungstage, auf die sieben Stunden, welche das Erlösungswerk gedauert hatte, auf die sieben Bitten. Ein Mönch, Severianus mit Namen, das wußte sie, erduldete seit langem Qualen in der Hölle, weil er einmal das Ende des Gebets nicht ab¬ gewartet hatte. Das alles siel ihr aufs Herz, als plötzlich das Psalmiren der Mönche wie eine vorwurfsvolle Mahnung mitten in ihre Frendenstimmuug hereinbrach; und da kamen ihr Zweifel, ja es schien ihr je länger je mehr geradezu eine Un¬ möglichkeit, daß sie, die Säumige, die Strafbare, jener Vision wirklich durch die Gnade des Himmels gewürdigt worden sein könne. In entsetzlicher Beklemmung lag sie eine Weile zitternd da und starrte aufwärts gegen die Decke ihres Zimmers. Die darauf gemalten zwölf Zeichen des Tierkreises hatten sie nie gestört; jetzt erschienen sie ihr unheilig und fratzenhaft wie die Ungetüme, deren Nähe den säumigen Mönch Severianus in der Hölle beängstigen mochten. Und wenn nun jene Vision, rief sie aus, ein Teufelsspuk gewesen ist, von dem Bösen ersonnen, um mich vollends in seine Gewalt zu bringen? Sie erhob sich vou ihrem Lager, warf sich aus die Kniee vor dem Bilde der Ng,lor äolorosa, und flehte um Erleuchtung. Seit jenein Schreckensabend hatte sie nicht wieder zu dem Bilde aufzu¬ blicken vermocht. Auch jetzt ging es über ihre Kraft. Ein andres Schwert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/380>, abgerufen am 22.07.2024.