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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

die Bauern von Spnßkojc-Lntowinvwo richtete. Die letzteren hatten ihm brief¬
lich ihr Bedauern darüber ausgedrückt, daß seine Krankheit ihn hindere, nach
Spaßkoje zu kommen. Turgenjew dankt ihnen für ihre Teilnahme und fährt
dann fort: "Ich habe gehört, daß bei euch seit einiger Zeit weit weniger
Branntwein getrunken wird. Das hat mich sehr erfreut, und ich hoffe, daß
ihr auch in Zukunft euch desselben enthalten werdet, denn für einen Bauern
ist die Trunksucht der Anfang des Elends. Was ich jedoch bedaure. ist, daß
eure Kinder, wie man mir sagte, die Schule sehr wenig besuchen. Bedenket
doch, daß in der jetzigen Zeit ein Mensch ohne Schulbildung dasselbe ist, wie
ein Blinder oder ein Mensch ohne Arme! Wie alljährlich, so schenke ich
euch auch in diesem Jahre eine Desjätine Wald, die Euch mein Verwalter
Schtscheplin anweisen wird. . . . Somit grüße ich euch alle, ihr Bauern von
Spasskojc, und wünsche euch alles Gute. Euer früherer Gutsherr."

In den Briefen werden einige interessante Gestalten von Leibeignen er¬
wähnt, die zu Turgenjew in näher Beziehung gestände" haben. Das Verhalten
des Dichters zu diesen originellen Erscheinungen ist für seine Denkweise be¬
zeichnend. In Spaßkoje lebte ein Halbbruder Turgenjews, Pvrfiri Timofejewitsch
Kudrjaschew, ein Sohn Sergej Turgenjews, des Vaters, und eiuer Leibeignen.
Nach russischem Rechte war Pvrfiri Leibeigner. Madame Turgenjew gab deu
jungen Kudrjaschew dem Sohne als Groom ins Ausland mit. Iwan Serge-
jewitsch, der in seinem Halbbruder und Diener gute Anlagen zu bemerken
glaubte, nahm sich seiner Ausbildung an, bereitete ihn selber zum Studium
vor und schickte ihn auf eine deutsche Universität, damit er Medizin studirte.
Turgenjew bestritt Kudrjcischews Studium ganz aus eigner Tasche, was ihm
damals nicht leicht fiel, da seine Mutter ihm selbst mir kärgliche Mittel zu¬
fließen ließ und jedenfalls die Verwendung derselben zu Kudrjcischews Nutzen
arg mißbilligt hätte. Turgenjew wußte, daß seine Mutter dem Zeugen der
verbotenen Liebe ihres Gatten uicht sehr zugethan war. Er beschwor seinen
Halbbruder, im freien Deutschland zu bleiben und seine medizinische Ansbildmig
auf alle Fälle zu vollenden. Kudrjaschew versprach dies umsolieber, als er sich
mit eiuer jungen Deutschen verlobt hatte und bald zu heiraten gedachte. Wie
erstaunte daher Turgenjew, als er auf der Poststation, von der er selber ab¬
fahren wollte, plötzlich auf Kudrjaschew stieß, der, den Quersack auf dem Rücken
und ein Reisebündel in der Hand, eben am Billctschalter stand.

Wohin denn, Pvrfiri? fragte Turgenjew verwundert.

Nach Nußland.

Wie, am Vorabend deiner Hochzeit? Willst dn deine Braut verlassen?

Der Herr mag sie trösten, meine Braut. Die Heimat ist mir lieber.

Aber das ist ja schmähliche Flucht. Pvrfiri! Weißt du denn nicht, daß
meine Mutter dich ohne weiteres zum Knechte degradiren wird, wenn sie dich
nicht gar unter die Soldaten steckt?


Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

die Bauern von Spnßkojc-Lntowinvwo richtete. Die letzteren hatten ihm brief¬
lich ihr Bedauern darüber ausgedrückt, daß seine Krankheit ihn hindere, nach
Spaßkoje zu kommen. Turgenjew dankt ihnen für ihre Teilnahme und fährt
dann fort: „Ich habe gehört, daß bei euch seit einiger Zeit weit weniger
Branntwein getrunken wird. Das hat mich sehr erfreut, und ich hoffe, daß
ihr auch in Zukunft euch desselben enthalten werdet, denn für einen Bauern
ist die Trunksucht der Anfang des Elends. Was ich jedoch bedaure. ist, daß
eure Kinder, wie man mir sagte, die Schule sehr wenig besuchen. Bedenket
doch, daß in der jetzigen Zeit ein Mensch ohne Schulbildung dasselbe ist, wie
ein Blinder oder ein Mensch ohne Arme! Wie alljährlich, so schenke ich
euch auch in diesem Jahre eine Desjätine Wald, die Euch mein Verwalter
Schtscheplin anweisen wird. . . . Somit grüße ich euch alle, ihr Bauern von
Spasskojc, und wünsche euch alles Gute. Euer früherer Gutsherr."

In den Briefen werden einige interessante Gestalten von Leibeignen er¬
wähnt, die zu Turgenjew in näher Beziehung gestände» haben. Das Verhalten
des Dichters zu diesen originellen Erscheinungen ist für seine Denkweise be¬
zeichnend. In Spaßkoje lebte ein Halbbruder Turgenjews, Pvrfiri Timofejewitsch
Kudrjaschew, ein Sohn Sergej Turgenjews, des Vaters, und eiuer Leibeignen.
Nach russischem Rechte war Pvrfiri Leibeigner. Madame Turgenjew gab deu
jungen Kudrjaschew dem Sohne als Groom ins Ausland mit. Iwan Serge-
jewitsch, der in seinem Halbbruder und Diener gute Anlagen zu bemerken
glaubte, nahm sich seiner Ausbildung an, bereitete ihn selber zum Studium
vor und schickte ihn auf eine deutsche Universität, damit er Medizin studirte.
Turgenjew bestritt Kudrjcischews Studium ganz aus eigner Tasche, was ihm
damals nicht leicht fiel, da seine Mutter ihm selbst mir kärgliche Mittel zu¬
fließen ließ und jedenfalls die Verwendung derselben zu Kudrjcischews Nutzen
arg mißbilligt hätte. Turgenjew wußte, daß seine Mutter dem Zeugen der
verbotenen Liebe ihres Gatten uicht sehr zugethan war. Er beschwor seinen
Halbbruder, im freien Deutschland zu bleiben und seine medizinische Ansbildmig
auf alle Fälle zu vollenden. Kudrjaschew versprach dies umsolieber, als er sich
mit eiuer jungen Deutschen verlobt hatte und bald zu heiraten gedachte. Wie
erstaunte daher Turgenjew, als er auf der Poststation, von der er selber ab¬
fahren wollte, plötzlich auf Kudrjaschew stieß, der, den Quersack auf dem Rücken
und ein Reisebündel in der Hand, eben am Billctschalter stand.

Wohin denn, Pvrfiri? fragte Turgenjew verwundert.

Nach Nußland.

Wie, am Vorabend deiner Hochzeit? Willst dn deine Braut verlassen?

Der Herr mag sie trösten, meine Braut. Die Heimat ist mir lieber.

Aber das ist ja schmähliche Flucht. Pvrfiri! Weißt du denn nicht, daß
meine Mutter dich ohne weiteres zum Knechte degradiren wird, wenn sie dich
nicht gar unter die Soldaten steckt?


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[0362] Iwan Turgenjew in seinen Briefen. die Bauern von Spnßkojc-Lntowinvwo richtete. Die letzteren hatten ihm brief¬ lich ihr Bedauern darüber ausgedrückt, daß seine Krankheit ihn hindere, nach Spaßkoje zu kommen. Turgenjew dankt ihnen für ihre Teilnahme und fährt dann fort: „Ich habe gehört, daß bei euch seit einiger Zeit weit weniger Branntwein getrunken wird. Das hat mich sehr erfreut, und ich hoffe, daß ihr auch in Zukunft euch desselben enthalten werdet, denn für einen Bauern ist die Trunksucht der Anfang des Elends. Was ich jedoch bedaure. ist, daß eure Kinder, wie man mir sagte, die Schule sehr wenig besuchen. Bedenket doch, daß in der jetzigen Zeit ein Mensch ohne Schulbildung dasselbe ist, wie ein Blinder oder ein Mensch ohne Arme! Wie alljährlich, so schenke ich euch auch in diesem Jahre eine Desjätine Wald, die Euch mein Verwalter Schtscheplin anweisen wird. . . . Somit grüße ich euch alle, ihr Bauern von Spasskojc, und wünsche euch alles Gute. Euer früherer Gutsherr." In den Briefen werden einige interessante Gestalten von Leibeignen er¬ wähnt, die zu Turgenjew in näher Beziehung gestände» haben. Das Verhalten des Dichters zu diesen originellen Erscheinungen ist für seine Denkweise be¬ zeichnend. In Spaßkoje lebte ein Halbbruder Turgenjews, Pvrfiri Timofejewitsch Kudrjaschew, ein Sohn Sergej Turgenjews, des Vaters, und eiuer Leibeignen. Nach russischem Rechte war Pvrfiri Leibeigner. Madame Turgenjew gab deu jungen Kudrjaschew dem Sohne als Groom ins Ausland mit. Iwan Serge- jewitsch, der in seinem Halbbruder und Diener gute Anlagen zu bemerken glaubte, nahm sich seiner Ausbildung an, bereitete ihn selber zum Studium vor und schickte ihn auf eine deutsche Universität, damit er Medizin studirte. Turgenjew bestritt Kudrjcischews Studium ganz aus eigner Tasche, was ihm damals nicht leicht fiel, da seine Mutter ihm selbst mir kärgliche Mittel zu¬ fließen ließ und jedenfalls die Verwendung derselben zu Kudrjcischews Nutzen arg mißbilligt hätte. Turgenjew wußte, daß seine Mutter dem Zeugen der verbotenen Liebe ihres Gatten uicht sehr zugethan war. Er beschwor seinen Halbbruder, im freien Deutschland zu bleiben und seine medizinische Ansbildmig auf alle Fälle zu vollenden. Kudrjaschew versprach dies umsolieber, als er sich mit eiuer jungen Deutschen verlobt hatte und bald zu heiraten gedachte. Wie erstaunte daher Turgenjew, als er auf der Poststation, von der er selber ab¬ fahren wollte, plötzlich auf Kudrjaschew stieß, der, den Quersack auf dem Rücken und ein Reisebündel in der Hand, eben am Billctschalter stand. Wohin denn, Pvrfiri? fragte Turgenjew verwundert. Nach Nußland. Wie, am Vorabend deiner Hochzeit? Willst dn deine Braut verlassen? Der Herr mag sie trösten, meine Braut. Die Heimat ist mir lieber. Aber das ist ja schmähliche Flucht. Pvrfiri! Weißt du denn nicht, daß meine Mutter dich ohne weiteres zum Knechte degradiren wird, wenn sie dich nicht gar unter die Soldaten steckt?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/362>, abgerufen am 22.07.2024.