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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Englands Mittel zur Verteidigung Indiens.

gefahr zwei Fünftel des Landes einnehmen, und die hier über fünfzig Millionen
Menschen gebieten. Ein derartiger Staat ist das durch seine Lage im Nord-
Westen wichtige Kaschmir. Dann gehören hierher die Radschputenstaaten und
südlich davon die zentralindischen Fürstentümer, unter welchen das Reich des
Nisams oder Hyderabad (etwa so groß wie Italien), Mysore (von der Größe
Baierns), Gwalior, Baroda und Indore die größten sind. Einige dieser Staaten
stellen, wie erwähnt, der suzeränen Regierung Kontingente von Soldaten, andre
zahlen ihr nur Tribut. In allen hat sie durch ihre politischen Agenten mehr
oder minder Einfluß ans die Verwaltung, auch nimmt sie das Recht in An¬
spruch, die Fürsten, die ihr nicht gefallen, abzusetzen, und vor zehn Jahren übte
sie dasselbe aus, indem der Vizekönig den Guikwar von Baroda, welcher des
Versuchs, den britischen Residenten an seinem Hofe zu vergiften, angeklagt, aber
von den eingebornen Mitgliedern des über ihn niedergesetzten Gerichts un¬
schuldig befunden worden war, für des Thrones verlustig erklärte, weil er sich
"notorisch übel aufgeführt, schlecht regiert und sich unfähig gezeigt habe, not¬
wendige Reformen zu stände zu bringen." Diese Maßregel machte damals
viel böses Vink, und zahlreiche Stimmen nahmen für den abgesetzten Guikwar
Mulhar Nao Partei, doch blieb es bei Worten, und es kam nicht einmal zu
lokaler Auflehnung. Gegenwärtig scheint die Stimmung der Fendalfürsten
gegenüber den Engländern durchweg eine gute zu sein. Aber auf die Treue
orientalischer Herrscher ist nur so lange zu bauen, als sie von der Macht des
andern Teils überzeugt sind, und wenn es einem auswärtigen Feinde gelingt,
den indischen Fürsten darzuthun, daß ihre Interessen mit den seinigen zusammen¬
fallen, und daß er mächtiger ist als Großbritannien, so kann ihm in ihnen ein
Zuwachs an Kräften zu teil werden, der nicht zu verachten ist. Mamulcch,
ein gründlicher Kenner Indiens aus eigner Anschauung, hat gesagt, die dortige
Herrschaft der Engländer ruhe einzig und allein auf dem Glauben der Inder,
die Briten seien ein Volk von Kriegern. Die jetzt als entschieden zu betrach¬
tende Niederlage derselben bei Chartum und die Erfolglosigkeit der Operationen
gegen Osman Digma werden dieses Prestige wo nicht ganz zu gründe gerichtet,
doch sehr erschüttert haben, zumal wenn man damit das stetige siegreiche Vor¬
dringen der Russen in Mittelasien verglichen hat.

Ein Vorgehen der Russen gegen Indien, das von der nächsten Stelle
ihrer jetzigen Grenze aus versucht würde, ist nicht zu befürchten. Diese Stelle
liegt in der Luftlinie nnr 62 geographische Meilen von der Grenze Britisch-
Jndiens, bei einem Marsche dahin aber wären unttbersteigbare Gebirgszüge
des Himalayci zu überschreite". Auch die Entfernung des russischen Gebietes
vom Thale des obern Indus beträgt, wenn man der großen Handelsstraße von
Samarkand über Chuler und Kabul nach Peschawer folgt, mit Einschluß der
durch die Pässe gebotenen Umwege nur 140 Meilen, aber jene Pässe erheben
sich über 10 000 Fuß, und so scheint auch dieser Weg für ein Kriegsheer nicht


Grenzboten II, 188S. 22
Englands Mittel zur Verteidigung Indiens.

gefahr zwei Fünftel des Landes einnehmen, und die hier über fünfzig Millionen
Menschen gebieten. Ein derartiger Staat ist das durch seine Lage im Nord-
Westen wichtige Kaschmir. Dann gehören hierher die Radschputenstaaten und
südlich davon die zentralindischen Fürstentümer, unter welchen das Reich des
Nisams oder Hyderabad (etwa so groß wie Italien), Mysore (von der Größe
Baierns), Gwalior, Baroda und Indore die größten sind. Einige dieser Staaten
stellen, wie erwähnt, der suzeränen Regierung Kontingente von Soldaten, andre
zahlen ihr nur Tribut. In allen hat sie durch ihre politischen Agenten mehr
oder minder Einfluß ans die Verwaltung, auch nimmt sie das Recht in An¬
spruch, die Fürsten, die ihr nicht gefallen, abzusetzen, und vor zehn Jahren übte
sie dasselbe aus, indem der Vizekönig den Guikwar von Baroda, welcher des
Versuchs, den britischen Residenten an seinem Hofe zu vergiften, angeklagt, aber
von den eingebornen Mitgliedern des über ihn niedergesetzten Gerichts un¬
schuldig befunden worden war, für des Thrones verlustig erklärte, weil er sich
„notorisch übel aufgeführt, schlecht regiert und sich unfähig gezeigt habe, not¬
wendige Reformen zu stände zu bringen." Diese Maßregel machte damals
viel böses Vink, und zahlreiche Stimmen nahmen für den abgesetzten Guikwar
Mulhar Nao Partei, doch blieb es bei Worten, und es kam nicht einmal zu
lokaler Auflehnung. Gegenwärtig scheint die Stimmung der Fendalfürsten
gegenüber den Engländern durchweg eine gute zu sein. Aber auf die Treue
orientalischer Herrscher ist nur so lange zu bauen, als sie von der Macht des
andern Teils überzeugt sind, und wenn es einem auswärtigen Feinde gelingt,
den indischen Fürsten darzuthun, daß ihre Interessen mit den seinigen zusammen¬
fallen, und daß er mächtiger ist als Großbritannien, so kann ihm in ihnen ein
Zuwachs an Kräften zu teil werden, der nicht zu verachten ist. Mamulcch,
ein gründlicher Kenner Indiens aus eigner Anschauung, hat gesagt, die dortige
Herrschaft der Engländer ruhe einzig und allein auf dem Glauben der Inder,
die Briten seien ein Volk von Kriegern. Die jetzt als entschieden zu betrach¬
tende Niederlage derselben bei Chartum und die Erfolglosigkeit der Operationen
gegen Osman Digma werden dieses Prestige wo nicht ganz zu gründe gerichtet,
doch sehr erschüttert haben, zumal wenn man damit das stetige siegreiche Vor¬
dringen der Russen in Mittelasien verglichen hat.

Ein Vorgehen der Russen gegen Indien, das von der nächsten Stelle
ihrer jetzigen Grenze aus versucht würde, ist nicht zu befürchten. Diese Stelle
liegt in der Luftlinie nnr 62 geographische Meilen von der Grenze Britisch-
Jndiens, bei einem Marsche dahin aber wären unttbersteigbare Gebirgszüge
des Himalayci zu überschreite». Auch die Entfernung des russischen Gebietes
vom Thale des obern Indus beträgt, wenn man der großen Handelsstraße von
Samarkand über Chuler und Kabul nach Peschawer folgt, mit Einschluß der
durch die Pässe gebotenen Umwege nur 140 Meilen, aber jene Pässe erheben
sich über 10 000 Fuß, und so scheint auch dieser Weg für ein Kriegsheer nicht


Grenzboten II, 188S. 22
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[0174] Englands Mittel zur Verteidigung Indiens. gefahr zwei Fünftel des Landes einnehmen, und die hier über fünfzig Millionen Menschen gebieten. Ein derartiger Staat ist das durch seine Lage im Nord- Westen wichtige Kaschmir. Dann gehören hierher die Radschputenstaaten und südlich davon die zentralindischen Fürstentümer, unter welchen das Reich des Nisams oder Hyderabad (etwa so groß wie Italien), Mysore (von der Größe Baierns), Gwalior, Baroda und Indore die größten sind. Einige dieser Staaten stellen, wie erwähnt, der suzeränen Regierung Kontingente von Soldaten, andre zahlen ihr nur Tribut. In allen hat sie durch ihre politischen Agenten mehr oder minder Einfluß ans die Verwaltung, auch nimmt sie das Recht in An¬ spruch, die Fürsten, die ihr nicht gefallen, abzusetzen, und vor zehn Jahren übte sie dasselbe aus, indem der Vizekönig den Guikwar von Baroda, welcher des Versuchs, den britischen Residenten an seinem Hofe zu vergiften, angeklagt, aber von den eingebornen Mitgliedern des über ihn niedergesetzten Gerichts un¬ schuldig befunden worden war, für des Thrones verlustig erklärte, weil er sich „notorisch übel aufgeführt, schlecht regiert und sich unfähig gezeigt habe, not¬ wendige Reformen zu stände zu bringen." Diese Maßregel machte damals viel böses Vink, und zahlreiche Stimmen nahmen für den abgesetzten Guikwar Mulhar Nao Partei, doch blieb es bei Worten, und es kam nicht einmal zu lokaler Auflehnung. Gegenwärtig scheint die Stimmung der Fendalfürsten gegenüber den Engländern durchweg eine gute zu sein. Aber auf die Treue orientalischer Herrscher ist nur so lange zu bauen, als sie von der Macht des andern Teils überzeugt sind, und wenn es einem auswärtigen Feinde gelingt, den indischen Fürsten darzuthun, daß ihre Interessen mit den seinigen zusammen¬ fallen, und daß er mächtiger ist als Großbritannien, so kann ihm in ihnen ein Zuwachs an Kräften zu teil werden, der nicht zu verachten ist. Mamulcch, ein gründlicher Kenner Indiens aus eigner Anschauung, hat gesagt, die dortige Herrschaft der Engländer ruhe einzig und allein auf dem Glauben der Inder, die Briten seien ein Volk von Kriegern. Die jetzt als entschieden zu betrach¬ tende Niederlage derselben bei Chartum und die Erfolglosigkeit der Operationen gegen Osman Digma werden dieses Prestige wo nicht ganz zu gründe gerichtet, doch sehr erschüttert haben, zumal wenn man damit das stetige siegreiche Vor¬ dringen der Russen in Mittelasien verglichen hat. Ein Vorgehen der Russen gegen Indien, das von der nächsten Stelle ihrer jetzigen Grenze aus versucht würde, ist nicht zu befürchten. Diese Stelle liegt in der Luftlinie nnr 62 geographische Meilen von der Grenze Britisch- Jndiens, bei einem Marsche dahin aber wären unttbersteigbare Gebirgszüge des Himalayci zu überschreite». Auch die Entfernung des russischen Gebietes vom Thale des obern Indus beträgt, wenn man der großen Handelsstraße von Samarkand über Chuler und Kabul nach Peschawer folgt, mit Einschluß der durch die Pässe gebotenen Umwege nur 140 Meilen, aber jene Pässe erheben sich über 10 000 Fuß, und so scheint auch dieser Weg für ein Kriegsheer nicht Grenzboten II, 188S. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/174>, abgerufen am 22.07.2024.