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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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muß, nachher nimmer. Ja, schau Dirn', vermocht sich nur ein jeder zu be¬
zwingen, kein' Schlechtigkeit güb's mehr in der Welt, kein' Sund nit! Freilich,
mein' liebe Dirn', kann ich nach dem kurz'u Aug'röcheln nit wissen, wie weit
du über dich selbst Herr bist, aber du giebst dir das Altsch'n, wie eins, das
sich bei sich selber in Respekt zu setzen weiß, und dasselbe g'lassenc Wesen wirkt
auch auf andre, denn wenn die Ärzte sag'n -- du magst baden oder trinken --,
daß sich vom Wasser mitteilt, was drein steckt und dich g'sunt oder krank macht,
so mehr wird sich doch, was in ein' Menschen Gut's oder Übels steckt, ein'in
andern mitteilen, der mit ihm häufig Umgang hat! Soweit wär's mir Wohl
recht, du thät'se dich entschließen und gingst mit mir und schautest dir unser'
Kleine an. Denn hast auch so ruhig's, bedeutsam's G'schau; das is eine
Gottesgab', wann eins mit den Augen reden kann -- wo oft keine tausend
Wort flecken, hilft dös."

Auf dieses Zureden unterbricht die Leni ihre Fahrt, der "Ehrt" nimmt sie
gleich auf seinem Wagen nach Föhrndorf mit, und unter den glücklichsten Auspi¬
zien tritt sie in den Dienst des Grasbodcnbauers. Denn die Burgerl, das
kranke Kind, faßt gleich eine Vorliebe für die neue Pflegerin; die Selbstüber¬
windung, welche der Alte an ihr pries, läßt sie deu gräßlichen Anblick der
Anfülle des kranken Mädchens ertragen, Und das allein schon gereicht diesem
zum Heile, da es in seiner Frühreife die liebevolle Teilnahme am meisten
vermißte.

Man errät leicht, daß die heilbringende Pflegerin des Töchtcrchens auch
dem verwitweten jungen Vater nicht lange fremd bleibe" kann, und daß gar bald
das Band der Liebe diese vereinigen muß. Von dem Augenblicke an, wo Leni
erfahren hat, daß ihr geliebter Florian ihr Bruder ist, siud alle bräutlichen
Gefühle gegen ihn erloschen. Für Florian aber werden diese Erfahrungen der
Anlaß zu einem weltschmerzlichen Verzweifeln an jeder sittlichen Ordnung; er
stürzt sich in ein Lumpculebeu und kommt dabei um. Der Verbindung Magda-
lcuens mit dem Grasbvdenbauer steht nun nichts mehr im Wege; ihn hindert
auch nicht die Mitteilung von ihrem "Schandfleck," sie zu seinem ehrlichen Weibe
zu macheu.

Dies die Haupthandlung des Romans mit Ausschluß all der zahlreichen
Fäden, die damit parallel laufen. Von der eigenartigen Schönheit desselben
giebt unsre Skizze freilich keinen Begriff, denn diese liegt ganz und gar in der
Ausführung. Auf die Entfaltung der Charaktere, auf das behagliche Sich-
nuslcben der Menschen legt Anzcngruber sein Hauptgewicht, und die Freude, die
einem so ein geschwätziges Sichausleben der Gestalten, die Fülle von Detailzügen,
welche der Dichter unerschöpflich anzubringen weiß, bereitet, bedarf keiner nähern
Erklärung. Kommt ja doch alles in der Erzählung auf diese Behaglichkeit
an, in der man zur vollen Vertrautheit mit ihren Gestalten geführt wird; eine
Fabel mag noch fo schlicht sein, wenn sie nur dazu dient, uus eigenartige,


muß, nachher nimmer. Ja, schau Dirn', vermocht sich nur ein jeder zu be¬
zwingen, kein' Schlechtigkeit güb's mehr in der Welt, kein' Sund nit! Freilich,
mein' liebe Dirn', kann ich nach dem kurz'u Aug'röcheln nit wissen, wie weit
du über dich selbst Herr bist, aber du giebst dir das Altsch'n, wie eins, das
sich bei sich selber in Respekt zu setzen weiß, und dasselbe g'lassenc Wesen wirkt
auch auf andre, denn wenn die Ärzte sag'n — du magst baden oder trinken —,
daß sich vom Wasser mitteilt, was drein steckt und dich g'sunt oder krank macht,
so mehr wird sich doch, was in ein' Menschen Gut's oder Übels steckt, ein'in
andern mitteilen, der mit ihm häufig Umgang hat! Soweit wär's mir Wohl
recht, du thät'se dich entschließen und gingst mit mir und schautest dir unser'
Kleine an. Denn hast auch so ruhig's, bedeutsam's G'schau; das is eine
Gottesgab', wann eins mit den Augen reden kann — wo oft keine tausend
Wort flecken, hilft dös."

Auf dieses Zureden unterbricht die Leni ihre Fahrt, der „Ehrt" nimmt sie
gleich auf seinem Wagen nach Föhrndorf mit, und unter den glücklichsten Auspi¬
zien tritt sie in den Dienst des Grasbodcnbauers. Denn die Burgerl, das
kranke Kind, faßt gleich eine Vorliebe für die neue Pflegerin; die Selbstüber¬
windung, welche der Alte an ihr pries, läßt sie deu gräßlichen Anblick der
Anfülle des kranken Mädchens ertragen, Und das allein schon gereicht diesem
zum Heile, da es in seiner Frühreife die liebevolle Teilnahme am meisten
vermißte.

Man errät leicht, daß die heilbringende Pflegerin des Töchtcrchens auch
dem verwitweten jungen Vater nicht lange fremd bleibe» kann, und daß gar bald
das Band der Liebe diese vereinigen muß. Von dem Augenblicke an, wo Leni
erfahren hat, daß ihr geliebter Florian ihr Bruder ist, siud alle bräutlichen
Gefühle gegen ihn erloschen. Für Florian aber werden diese Erfahrungen der
Anlaß zu einem weltschmerzlichen Verzweifeln an jeder sittlichen Ordnung; er
stürzt sich in ein Lumpculebeu und kommt dabei um. Der Verbindung Magda-
lcuens mit dem Grasbvdenbauer steht nun nichts mehr im Wege; ihn hindert
auch nicht die Mitteilung von ihrem „Schandfleck," sie zu seinem ehrlichen Weibe
zu macheu.

Dies die Haupthandlung des Romans mit Ausschluß all der zahlreichen
Fäden, die damit parallel laufen. Von der eigenartigen Schönheit desselben
giebt unsre Skizze freilich keinen Begriff, denn diese liegt ganz und gar in der
Ausführung. Auf die Entfaltung der Charaktere, auf das behagliche Sich-
nuslcben der Menschen legt Anzcngruber sein Hauptgewicht, und die Freude, die
einem so ein geschwätziges Sichausleben der Gestalten, die Fülle von Detailzügen,
welche der Dichter unerschöpflich anzubringen weiß, bereitet, bedarf keiner nähern
Erklärung. Kommt ja doch alles in der Erzählung auf diese Behaglichkeit
an, in der man zur vollen Vertrautheit mit ihren Gestalten geführt wird; eine
Fabel mag noch fo schlicht sein, wenn sie nur dazu dient, uus eigenartige,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/99>, abgerufen am 22.07.2024.