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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Zur Revision manchesterlicher Lehren.

Nach George stimmt das Bevölkerungsgesetz mit dem Gesetz der geistigen
Entwicklung überein und ist demselben untergeordnet; die Gefahr, daß mensch¬
liche Wesen in eine Welt gesetzt werden könnten, wo nicht für sie gesorgt werden
kann, entstehe nicht aus den Satzungen der Natur, sondern aus soziale" Mi߬
verhältnissen, die inmitten des Reichtums Menschen zum Mangel verurteilen.

Die beiderlei Lehren unterscheiden sich also, abgesehen von den Aussichten
in die Zukunft, nur dadurch voneinander, daß die eine die Gesetze der Vor¬
sehung, die andre die Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft für das Übel
verantwortlich macht, daß demnach die eine aussichtslos ist, die andre aber die
Hoffnung auf Heilung nicht ausschließt.

Das Übel nun, um welches es sich handelt, heißt Übervölkerung. Malthus
nimmt sie mathematisch, d. h. er versteht darunter das numerische Überschießen
der Gesamtbevölkerung über die gesamten Nahrungsmittel. Er übersieht dabei,
daß es sich für die hungernden Menschen nicht um das Vorhandensein, sondern
um die Erreichbarkeit der Lebensmittel handelt. Die unendlichen Viehherden,
welche in Herrervland unbenutzt weiden, und die unerschöpflichen Früchte des
Pflanzenreiches, welche Immer-Afrika hervorbringt, vermögen den Hunger eines
Darbenden in London oder Paris so wenig zu stillen als die Delikatessen
hinter dem Schaufenster eines reich versehenen Ladens, an dem er vorübergeht.
Auch der größte Überfluß an Lebensmitteln in einem Lande schließt den Hunger
einer mehr oder weniger zahlreichen Klasse seiner Bewohner nicht aus. Es
kommt eben nur darauf an, daß jedem soviel als nötig von den vorhandenen
Lebens- und Unterhaltsmitteln erreichbar sei. Für den Wohlhabenden giebt
es keine Übervölkerung, für den Armen ist sie vorhanden, auch wenn die Volks¬
zahl stillsteht oder gar im Rückgange befindlich ist, denn die Verteilung der
Unterhaltsmittel geschieht ja nicht auf Grund eines Divisionsexempels. Wir
sehen an dem Beispiele Frankreichs, daß auch bei fast stillstehender Bevölkerungs¬
ziffer das Elend sehr weit verbreitet sein kann. Der ganze Begriff der Über¬
völkerung, wie er aufgefaßt wird, ist demnach unhaltbar, Übervölkerung besteht
immer mir für diejenige Klasse, und besteht für diese unter allen Formen der
Bevölkerungsbewegung, für welche die vorhandenen Lebensmittel nicht in ge¬
nügendem Maße erreichbar sind. Aus ylledem muß ich folgern, daß das soziale
Problem nicht, wie der anonyme englische Arzt glaubt, in einer Regelung des
Bevölkerungszuwachses besteht, sondern vielmehr in einer entsprechenderen Ver¬
teilung der Werte, welche die Produktion erzeugt. Wenn es wahr wäre, daß
Volk nicht soviel erarbeiten, nicht soviel Güter erzeugen könnte, wie zur
Erhaltung aller erforderlich ist, so wäre eine Überproduktion unmöglich, an
welcher wir doch allemal leiden, wenn die Not der Armen am größten ist. Es
könnte niemals eine Überproduktion geben, wenn alle, auch die letzten, imstande
wären, sich den zu ihrer Erhaltung direkt oder im Austausch erforderlichen Teil
""zueignen.


Zur Revision manchesterlicher Lehren.

Nach George stimmt das Bevölkerungsgesetz mit dem Gesetz der geistigen
Entwicklung überein und ist demselben untergeordnet; die Gefahr, daß mensch¬
liche Wesen in eine Welt gesetzt werden könnten, wo nicht für sie gesorgt werden
kann, entstehe nicht aus den Satzungen der Natur, sondern aus soziale» Mi߬
verhältnissen, die inmitten des Reichtums Menschen zum Mangel verurteilen.

Die beiderlei Lehren unterscheiden sich also, abgesehen von den Aussichten
in die Zukunft, nur dadurch voneinander, daß die eine die Gesetze der Vor¬
sehung, die andre die Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft für das Übel
verantwortlich macht, daß demnach die eine aussichtslos ist, die andre aber die
Hoffnung auf Heilung nicht ausschließt.

Das Übel nun, um welches es sich handelt, heißt Übervölkerung. Malthus
nimmt sie mathematisch, d. h. er versteht darunter das numerische Überschießen
der Gesamtbevölkerung über die gesamten Nahrungsmittel. Er übersieht dabei,
daß es sich für die hungernden Menschen nicht um das Vorhandensein, sondern
um die Erreichbarkeit der Lebensmittel handelt. Die unendlichen Viehherden,
welche in Herrervland unbenutzt weiden, und die unerschöpflichen Früchte des
Pflanzenreiches, welche Immer-Afrika hervorbringt, vermögen den Hunger eines
Darbenden in London oder Paris so wenig zu stillen als die Delikatessen
hinter dem Schaufenster eines reich versehenen Ladens, an dem er vorübergeht.
Auch der größte Überfluß an Lebensmitteln in einem Lande schließt den Hunger
einer mehr oder weniger zahlreichen Klasse seiner Bewohner nicht aus. Es
kommt eben nur darauf an, daß jedem soviel als nötig von den vorhandenen
Lebens- und Unterhaltsmitteln erreichbar sei. Für den Wohlhabenden giebt
es keine Übervölkerung, für den Armen ist sie vorhanden, auch wenn die Volks¬
zahl stillsteht oder gar im Rückgange befindlich ist, denn die Verteilung der
Unterhaltsmittel geschieht ja nicht auf Grund eines Divisionsexempels. Wir
sehen an dem Beispiele Frankreichs, daß auch bei fast stillstehender Bevölkerungs¬
ziffer das Elend sehr weit verbreitet sein kann. Der ganze Begriff der Über¬
völkerung, wie er aufgefaßt wird, ist demnach unhaltbar, Übervölkerung besteht
immer mir für diejenige Klasse, und besteht für diese unter allen Formen der
Bevölkerungsbewegung, für welche die vorhandenen Lebensmittel nicht in ge¬
nügendem Maße erreichbar sind. Aus ylledem muß ich folgern, daß das soziale
Problem nicht, wie der anonyme englische Arzt glaubt, in einer Regelung des
Bevölkerungszuwachses besteht, sondern vielmehr in einer entsprechenderen Ver¬
teilung der Werte, welche die Produktion erzeugt. Wenn es wahr wäre, daß
Volk nicht soviel erarbeiten, nicht soviel Güter erzeugen könnte, wie zur
Erhaltung aller erforderlich ist, so wäre eine Überproduktion unmöglich, an
welcher wir doch allemal leiden, wenn die Not der Armen am größten ist. Es
könnte niemals eine Überproduktion geben, wenn alle, auch die letzten, imstande
wären, sich den zu ihrer Erhaltung direkt oder im Austausch erforderlichen Teil
«"zueignen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/515>, abgerufen am 22.07.2024.