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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Hat die deutsche Renaissance eine Zukunft?

stieg in dem Grade von ihrem Gipfel herab, als der malerische Stil oder eine ge¬
wisse Richtung desselben das Gemeingut mehrerer oder ganzer Schulen wurde.
Gerade der Reichtum an künstlerischen Individualitäten und die Auflehnung
derselben gegen jeden Schulzwang und jeden Schulzusammenhang haben der
Malerei in unserm Jahrhundert ihre bevorzugte Stellung vor den Schwester¬
künsten geschaffen. Auch der Plastik, die noch länger als die Malerei der Über¬
lieferung folgte und daher dem Walten der Individualität keinen so freien
Spielraum gewährte, hat es seit den Zeiten der Renaissance nicht an starken,
bahnbrechenden Geistern gefehlt. Aber der Stoff, mit welchem die Bildnerkunst
zu rechnen hat, kommt der Entfaltung des subjektiven Elements bei weitem nicht
so sehr entgegen wie die ungleich mehr gefügige Farbe. In der Plastik wirkte
auch die Formenüberlieferung mehr nach als in der Malerei, und die Renaissance,
welche sonst auf andern Gebieten das Signal zu einer freieren Bewegung gab, hat
für die Plastik die Überlieferung insofern noch mehr befestigt, als der Anschluß an
die Antike, welcher im Laufe des Mittelalters immer lockerer geworden war, von
neuem gewonnen wurde. Seit dem sechzehnten Jahrhundert hat dann die Plastik
ungefähr dieselben Stilwandlungen durchgemacht wie die Architektur, welche,
wen" man so sagen darf, die am wenigsten persönliche von allen Künsten ist.
Insbesondre entbehren die Schöpfungen der gothischen Baukunst so sehr eines
individuellen Charakters, daß man sie höchstens nur nach gewissen lokalen und
landschaftlichen Eigentümlichkeiten gruppiren kann. Einen gewissen Umschwung
führte die Renaissance auch für die Baukunst herbei. Besonders in Italien
lösen sich bestimmte Persönlichkeiten, wie Bramante, Michelangelo, Sammicheli,
Sansovino, Palladio u. a., ans der Menge heraus. Sobald aber erst die
unter dem Einfluß dieser Meister nach der Antike gebildeten Formen den
Vautunstlcrn cillgemeiu geläufig geworden waren, treten die Personen wieder
in das Dunkel zurück. Mau spricht vou einem genuesischen, florentinischen und
römischen Palaststil, von dem Palladiostil, der allmählich von ganz Italien
Besitz nahm; aber der Versuch, bestimmte Namen an bestimmte Bauwerke zu
knüpfen, erhebt sich nirgends über den Wert subjektiver Kritik. Die Entwicklung
der Architektur wie der Plastik vollzieht sich fortan nach großen Stilepochen,
von denen jede die genetischen Merkmale des Wachstums, der Blüte und des
Verfalls enthält.

Innerhalb der deutschen Renaissance ist die Macht der Persönlichkeit so
verschwindend gering, daß wir selbst da, wo die Urheber von Kunstwerken durch
Zeugnisse und Dokumente erwiesen sind, nnr mit Mühe die Kriterien eines
individuellen Stils zusammenbringen können. Die Schöpfungen der deutschen
Frührenaissance haben eine verwandte Physiognomie und die der Hoch- und
Spätrenaissance ebenfalls. Man kann auch innerhalb jeder Stilphase gewisse
Gruppen unterscheiden, welche sich um das Zentrum einer blühenden Stadt
oder einer üppigen Fürstenrcsidenz gebildet haben. Aber scharf ausgeprägte


Hat die deutsche Renaissance eine Zukunft?

stieg in dem Grade von ihrem Gipfel herab, als der malerische Stil oder eine ge¬
wisse Richtung desselben das Gemeingut mehrerer oder ganzer Schulen wurde.
Gerade der Reichtum an künstlerischen Individualitäten und die Auflehnung
derselben gegen jeden Schulzwang und jeden Schulzusammenhang haben der
Malerei in unserm Jahrhundert ihre bevorzugte Stellung vor den Schwester¬
künsten geschaffen. Auch der Plastik, die noch länger als die Malerei der Über¬
lieferung folgte und daher dem Walten der Individualität keinen so freien
Spielraum gewährte, hat es seit den Zeiten der Renaissance nicht an starken,
bahnbrechenden Geistern gefehlt. Aber der Stoff, mit welchem die Bildnerkunst
zu rechnen hat, kommt der Entfaltung des subjektiven Elements bei weitem nicht
so sehr entgegen wie die ungleich mehr gefügige Farbe. In der Plastik wirkte
auch die Formenüberlieferung mehr nach als in der Malerei, und die Renaissance,
welche sonst auf andern Gebieten das Signal zu einer freieren Bewegung gab, hat
für die Plastik die Überlieferung insofern noch mehr befestigt, als der Anschluß an
die Antike, welcher im Laufe des Mittelalters immer lockerer geworden war, von
neuem gewonnen wurde. Seit dem sechzehnten Jahrhundert hat dann die Plastik
ungefähr dieselben Stilwandlungen durchgemacht wie die Architektur, welche,
wen» man so sagen darf, die am wenigsten persönliche von allen Künsten ist.
Insbesondre entbehren die Schöpfungen der gothischen Baukunst so sehr eines
individuellen Charakters, daß man sie höchstens nur nach gewissen lokalen und
landschaftlichen Eigentümlichkeiten gruppiren kann. Einen gewissen Umschwung
führte die Renaissance auch für die Baukunst herbei. Besonders in Italien
lösen sich bestimmte Persönlichkeiten, wie Bramante, Michelangelo, Sammicheli,
Sansovino, Palladio u. a., ans der Menge heraus. Sobald aber erst die
unter dem Einfluß dieser Meister nach der Antike gebildeten Formen den
Vautunstlcrn cillgemeiu geläufig geworden waren, treten die Personen wieder
in das Dunkel zurück. Mau spricht vou einem genuesischen, florentinischen und
römischen Palaststil, von dem Palladiostil, der allmählich von ganz Italien
Besitz nahm; aber der Versuch, bestimmte Namen an bestimmte Bauwerke zu
knüpfen, erhebt sich nirgends über den Wert subjektiver Kritik. Die Entwicklung
der Architektur wie der Plastik vollzieht sich fortan nach großen Stilepochen,
von denen jede die genetischen Merkmale des Wachstums, der Blüte und des
Verfalls enthält.

Innerhalb der deutschen Renaissance ist die Macht der Persönlichkeit so
verschwindend gering, daß wir selbst da, wo die Urheber von Kunstwerken durch
Zeugnisse und Dokumente erwiesen sind, nnr mit Mühe die Kriterien eines
individuellen Stils zusammenbringen können. Die Schöpfungen der deutschen
Frührenaissance haben eine verwandte Physiognomie und die der Hoch- und
Spätrenaissance ebenfalls. Man kann auch innerhalb jeder Stilphase gewisse
Gruppen unterscheiden, welche sich um das Zentrum einer blühenden Stadt
oder einer üppigen Fürstenrcsidenz gebildet haben. Aber scharf ausgeprägte


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[0048] Hat die deutsche Renaissance eine Zukunft? stieg in dem Grade von ihrem Gipfel herab, als der malerische Stil oder eine ge¬ wisse Richtung desselben das Gemeingut mehrerer oder ganzer Schulen wurde. Gerade der Reichtum an künstlerischen Individualitäten und die Auflehnung derselben gegen jeden Schulzwang und jeden Schulzusammenhang haben der Malerei in unserm Jahrhundert ihre bevorzugte Stellung vor den Schwester¬ künsten geschaffen. Auch der Plastik, die noch länger als die Malerei der Über¬ lieferung folgte und daher dem Walten der Individualität keinen so freien Spielraum gewährte, hat es seit den Zeiten der Renaissance nicht an starken, bahnbrechenden Geistern gefehlt. Aber der Stoff, mit welchem die Bildnerkunst zu rechnen hat, kommt der Entfaltung des subjektiven Elements bei weitem nicht so sehr entgegen wie die ungleich mehr gefügige Farbe. In der Plastik wirkte auch die Formenüberlieferung mehr nach als in der Malerei, und die Renaissance, welche sonst auf andern Gebieten das Signal zu einer freieren Bewegung gab, hat für die Plastik die Überlieferung insofern noch mehr befestigt, als der Anschluß an die Antike, welcher im Laufe des Mittelalters immer lockerer geworden war, von neuem gewonnen wurde. Seit dem sechzehnten Jahrhundert hat dann die Plastik ungefähr dieselben Stilwandlungen durchgemacht wie die Architektur, welche, wen» man so sagen darf, die am wenigsten persönliche von allen Künsten ist. Insbesondre entbehren die Schöpfungen der gothischen Baukunst so sehr eines individuellen Charakters, daß man sie höchstens nur nach gewissen lokalen und landschaftlichen Eigentümlichkeiten gruppiren kann. Einen gewissen Umschwung führte die Renaissance auch für die Baukunst herbei. Besonders in Italien lösen sich bestimmte Persönlichkeiten, wie Bramante, Michelangelo, Sammicheli, Sansovino, Palladio u. a., ans der Menge heraus. Sobald aber erst die unter dem Einfluß dieser Meister nach der Antike gebildeten Formen den Vautunstlcrn cillgemeiu geläufig geworden waren, treten die Personen wieder in das Dunkel zurück. Mau spricht vou einem genuesischen, florentinischen und römischen Palaststil, von dem Palladiostil, der allmählich von ganz Italien Besitz nahm; aber der Versuch, bestimmte Namen an bestimmte Bauwerke zu knüpfen, erhebt sich nirgends über den Wert subjektiver Kritik. Die Entwicklung der Architektur wie der Plastik vollzieht sich fortan nach großen Stilepochen, von denen jede die genetischen Merkmale des Wachstums, der Blüte und des Verfalls enthält. Innerhalb der deutschen Renaissance ist die Macht der Persönlichkeit so verschwindend gering, daß wir selbst da, wo die Urheber von Kunstwerken durch Zeugnisse und Dokumente erwiesen sind, nnr mit Mühe die Kriterien eines individuellen Stils zusammenbringen können. Die Schöpfungen der deutschen Frührenaissance haben eine verwandte Physiognomie und die der Hoch- und Spätrenaissance ebenfalls. Man kann auch innerhalb jeder Stilphase gewisse Gruppen unterscheiden, welche sich um das Zentrum einer blühenden Stadt oder einer üppigen Fürstenrcsidenz gebildet haben. Aber scharf ausgeprägte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/48>, abgerufen am 22.07.2024.