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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Zur Revision manchestorlicher Lehren.

Die Wahrheit ist, daß der Unternehmungsgeist darniederliegt, und daß
aus diesem Grunde die Industrie weder an das Kapital noch an die Arbeiter
hohe Ansprüche macht, daß also diese beiden Gehilfen des Unternehmers einer
wie der andre Mangel an Beschäftigung leiden müssen.

Forschen wir nun nach dem Grunde, warum Kapital in solcher Überfülle
vorhanden ist, so giebt uns die Vergangenheit eine genügende Erklärung.

England und die Niederlande hatten im siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hundert durch ihren Handel, mit dem sie Länder und Meere beherrschten, un¬
geheure Reichtümer (Kapitalien) angesammelt. England erfreute sich auch nach
den Kriege" im zweiten Jahrzehnt des laufenden Jahrhunderts, trotz der un¬
geheuern Schuldenlast, welche es sich in den Koalitionskriegen gegen den ersten
Napoleon aufgebürdet hatte und nun verzinsen mußte, der unbestrittenen poli¬
tischen, kommerziellen und industriellen Überlegenheit, welche der Gewinn jener
Kriege war, die seinen Boden niemals berührt, Industrie und Handel des Fest¬
landes zerstört und den Kolonialbesitz Frankreichs und der Niederlande fast
gänzlich in seine Hände gebracht hatten. Die vorhandenen Kapitalien, die Frucht
der Arbeit der Vergangenheit, genügten den Ansprüchen, welche Handel und
Industrie der Gegenwart an sie zu machen hatten; Nachfrage und Angebot
hielten sich ungefähr die Wage, und dieser gedeihliche Zustand fand in einem
mäßigen Zinsfuß seinen Ausdruck. Zwar traten unglaubliche Notstände unter
der arbeitenden Klasse ein; sie waren aber uicht Folge eines Darniederliegens
der Industrie oder gar des Mangels an Kapital, wie man nach der herrschenden
Lehre vermuten sollte, sondern sie wurde": durch die Höhe der Steuern erzeugt,
welche der Staat in Anspruch nehmen mußte, sowie durch die ungeheure Ver¬
wirrung, welche der niedere und fortwährend auf- und abschwankende Wert der
Banknoten hervorbrachte, die in jener Periode das einzige gesetzliche Zahlungs¬
mittel in England bildeten. Zu jenen Notständen trug ferner die Überstürzuug
bei, mit welcher die englische Industrie den wiedereröffueten, durch die Konti¬
nentalsperre lange verschlossen gewesenen Markt des Festlandes wieder zu er¬
obern trachtete, ohne zu bedenken, daß die Völker zu sehr verarmt waren, um
viel kaufe" zu können. Der Zinsfuß war damals in England, wie gesagt,
mäßig. Während die verarmten Staaten des Kontinents, namentlich Frank¬
reich, Osterreich, Rußland, zu hohen Zinsen borgen mußten, weil sie eben kapital¬
arm waren, konnte England schon 1818 ein Anlehen von 63 Millionen Pfund
Sterling zu 3^ Prozent aufnehmen. Ja trotz raschem und unaufhaltsamem
Steigen seines Handels und seiner Industrie war der Überfluß an Kapitalien
1824 so groß, d. h. der Zinsfuß so niedrig, daß eine wilde Spekulation ent¬
stand, welche mit dem üblichen Krach endigte.

Auch auf dem Kontinent war unmittelbar nach den Kriegen der Zinsfuß
nicht hoch. Es war dies aber kein Zeichen des Gedeihens, sondern eine Folge
des wirtschaftlichen Stillstandes. Das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert


Zur Revision manchestorlicher Lehren.

Die Wahrheit ist, daß der Unternehmungsgeist darniederliegt, und daß
aus diesem Grunde die Industrie weder an das Kapital noch an die Arbeiter
hohe Ansprüche macht, daß also diese beiden Gehilfen des Unternehmers einer
wie der andre Mangel an Beschäftigung leiden müssen.

Forschen wir nun nach dem Grunde, warum Kapital in solcher Überfülle
vorhanden ist, so giebt uns die Vergangenheit eine genügende Erklärung.

England und die Niederlande hatten im siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hundert durch ihren Handel, mit dem sie Länder und Meere beherrschten, un¬
geheure Reichtümer (Kapitalien) angesammelt. England erfreute sich auch nach
den Kriege» im zweiten Jahrzehnt des laufenden Jahrhunderts, trotz der un¬
geheuern Schuldenlast, welche es sich in den Koalitionskriegen gegen den ersten
Napoleon aufgebürdet hatte und nun verzinsen mußte, der unbestrittenen poli¬
tischen, kommerziellen und industriellen Überlegenheit, welche der Gewinn jener
Kriege war, die seinen Boden niemals berührt, Industrie und Handel des Fest¬
landes zerstört und den Kolonialbesitz Frankreichs und der Niederlande fast
gänzlich in seine Hände gebracht hatten. Die vorhandenen Kapitalien, die Frucht
der Arbeit der Vergangenheit, genügten den Ansprüchen, welche Handel und
Industrie der Gegenwart an sie zu machen hatten; Nachfrage und Angebot
hielten sich ungefähr die Wage, und dieser gedeihliche Zustand fand in einem
mäßigen Zinsfuß seinen Ausdruck. Zwar traten unglaubliche Notstände unter
der arbeitenden Klasse ein; sie waren aber uicht Folge eines Darniederliegens
der Industrie oder gar des Mangels an Kapital, wie man nach der herrschenden
Lehre vermuten sollte, sondern sie wurde«: durch die Höhe der Steuern erzeugt,
welche der Staat in Anspruch nehmen mußte, sowie durch die ungeheure Ver¬
wirrung, welche der niedere und fortwährend auf- und abschwankende Wert der
Banknoten hervorbrachte, die in jener Periode das einzige gesetzliche Zahlungs¬
mittel in England bildeten. Zu jenen Notständen trug ferner die Überstürzuug
bei, mit welcher die englische Industrie den wiedereröffueten, durch die Konti¬
nentalsperre lange verschlossen gewesenen Markt des Festlandes wieder zu er¬
obern trachtete, ohne zu bedenken, daß die Völker zu sehr verarmt waren, um
viel kaufe» zu können. Der Zinsfuß war damals in England, wie gesagt,
mäßig. Während die verarmten Staaten des Kontinents, namentlich Frank¬
reich, Osterreich, Rußland, zu hohen Zinsen borgen mußten, weil sie eben kapital¬
arm waren, konnte England schon 1818 ein Anlehen von 63 Millionen Pfund
Sterling zu 3^ Prozent aufnehmen. Ja trotz raschem und unaufhaltsamem
Steigen seines Handels und seiner Industrie war der Überfluß an Kapitalien
1824 so groß, d. h. der Zinsfuß so niedrig, daß eine wilde Spekulation ent¬
stand, welche mit dem üblichen Krach endigte.

Auch auf dem Kontinent war unmittelbar nach den Kriegen der Zinsfuß
nicht hoch. Es war dies aber kein Zeichen des Gedeihens, sondern eine Folge
des wirtschaftlichen Stillstandes. Das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert


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[0460] Zur Revision manchestorlicher Lehren. Die Wahrheit ist, daß der Unternehmungsgeist darniederliegt, und daß aus diesem Grunde die Industrie weder an das Kapital noch an die Arbeiter hohe Ansprüche macht, daß also diese beiden Gehilfen des Unternehmers einer wie der andre Mangel an Beschäftigung leiden müssen. Forschen wir nun nach dem Grunde, warum Kapital in solcher Überfülle vorhanden ist, so giebt uns die Vergangenheit eine genügende Erklärung. England und die Niederlande hatten im siebzehnten und achtzehnten Jahr¬ hundert durch ihren Handel, mit dem sie Länder und Meere beherrschten, un¬ geheure Reichtümer (Kapitalien) angesammelt. England erfreute sich auch nach den Kriege» im zweiten Jahrzehnt des laufenden Jahrhunderts, trotz der un¬ geheuern Schuldenlast, welche es sich in den Koalitionskriegen gegen den ersten Napoleon aufgebürdet hatte und nun verzinsen mußte, der unbestrittenen poli¬ tischen, kommerziellen und industriellen Überlegenheit, welche der Gewinn jener Kriege war, die seinen Boden niemals berührt, Industrie und Handel des Fest¬ landes zerstört und den Kolonialbesitz Frankreichs und der Niederlande fast gänzlich in seine Hände gebracht hatten. Die vorhandenen Kapitalien, die Frucht der Arbeit der Vergangenheit, genügten den Ansprüchen, welche Handel und Industrie der Gegenwart an sie zu machen hatten; Nachfrage und Angebot hielten sich ungefähr die Wage, und dieser gedeihliche Zustand fand in einem mäßigen Zinsfuß seinen Ausdruck. Zwar traten unglaubliche Notstände unter der arbeitenden Klasse ein; sie waren aber uicht Folge eines Darniederliegens der Industrie oder gar des Mangels an Kapital, wie man nach der herrschenden Lehre vermuten sollte, sondern sie wurde«: durch die Höhe der Steuern erzeugt, welche der Staat in Anspruch nehmen mußte, sowie durch die ungeheure Ver¬ wirrung, welche der niedere und fortwährend auf- und abschwankende Wert der Banknoten hervorbrachte, die in jener Periode das einzige gesetzliche Zahlungs¬ mittel in England bildeten. Zu jenen Notständen trug ferner die Überstürzuug bei, mit welcher die englische Industrie den wiedereröffueten, durch die Konti¬ nentalsperre lange verschlossen gewesenen Markt des Festlandes wieder zu er¬ obern trachtete, ohne zu bedenken, daß die Völker zu sehr verarmt waren, um viel kaufe» zu können. Der Zinsfuß war damals in England, wie gesagt, mäßig. Während die verarmten Staaten des Kontinents, namentlich Frank¬ reich, Osterreich, Rußland, zu hohen Zinsen borgen mußten, weil sie eben kapital¬ arm waren, konnte England schon 1818 ein Anlehen von 63 Millionen Pfund Sterling zu 3^ Prozent aufnehmen. Ja trotz raschem und unaufhaltsamem Steigen seines Handels und seiner Industrie war der Überfluß an Kapitalien 1824 so groß, d. h. der Zinsfuß so niedrig, daß eine wilde Spekulation ent¬ stand, welche mit dem üblichen Krach endigte. Auch auf dem Kontinent war unmittelbar nach den Kriegen der Zinsfuß nicht hoch. Es war dies aber kein Zeichen des Gedeihens, sondern eine Folge des wirtschaftlichen Stillstandes. Das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/460>, abgerufen am 22.07.2024.