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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Grün führ, gelangte er an die Seitenwand zu einer denkwürdigen Mauernische,
Hier waren während der langen Jahre die Epheuranken fleißig nachgewachsen,
sie verdeckten jetzt beinahe den Eingang. Beim Eintreten in die Nische umfing
ihn ein eigentümlich moderiger Wnrzelgeruch, der ihn im Augenblicke fast körper¬
lich um fünfunddreißig Jahre zurück in seine Kindheit versetzte. Indem er wieder
hinaustrat, hob er das Epheugehänge und teilte es, um den ober" Nischenrand
freizulegen. Richtig, da stand noch die Aufschrift eingemeißelt, schwarzgefärbt
von der Hand des Archimedes, das vieldeutige horazische Wort: I>08e,iinur (Wir
werden verlangt!). Er betrachtete lange die halbverwitterten Züge. Das hatten
sie damals dem Lieblingslehrer zum Geburtstage besorgt, ihm seinen Lieblings¬
platz zu schmücken, dem er den Namen "Grotte des Horaz" gegeben hatte.

Unter der Inschrift fand er jetzt anch noch neuere Zeichenreste, weniger
dauerhafte; er unterschied im Mondenlichte ein schwarzes Kreuzlein, darunter
die Worte: Mag. H..t...b Novbr. 185., also des Lehrers Todesanzeige.

Magister Hartlieb war schon vor dreißig Jahren ein steinalter Mann ge¬
wesen, konnte also unmöglich jetzt noch am Leben sein; dennoch erschütterte der
eben gelesene Sterbebricf den so lebendig in die Jugendzeit zurückversetzten
einstigen Schiller. Thränen traten ihm in die Augen, und er ließ sich an dem
alten, morschen Eichentische auf das Nischenbrett nieder.

Ein tiefinniges Verhältnis hatte den alten Magister mit seinen Schülern
verknüpft; nicht bloß daß der Lehrer es verstanden hatte, die Schüler in den
Geist des Lehrgegenstandes einzuführen, ihnen Liebe zur Sache einzuflößen, er
hatte auch außerhalb der Schulstunden mit ihnen verkehrt. Der "blasse Heinrich"
aber, der xrimus mniüum, war sein Liebling gewesen, auf seine Gedanken war
er am liebsten eingegangen, den Hochflug seiner Pläne und Hoffnungen hatte
er am liebsten gefördert. Noch in den ersten Semestern seiner Universitätszeit
hatte der "blasse Heinrich" Briefe mit dem Alten gewechselt; dann war der
Verkehr durch die burschenschaftlichen Bestrebungen, denen er sich nach der
Meinung des Lehrers mit allzu großer Leidenschaftlichkeit hingegeben hatte,
unterbrochen worden. Später hatte er den Verkehr wieder anknüpfen und ihm
seine Dissertation zueignen wollen; die Verhältnisse hatten das vereitelt. In
der trüben Zeit seines mühseligen Brotverdienens aber hatte er es nicht über
sich gewonnen, vor seinen alten Gönner mit Klagen zu trete". So waren sie
einander aus dem Gesichtskreise gekommen. Aber es war dies doch nur schein¬
bar der Fall, denn in Wirklichkeit trug der Schüler das Vorbild des Meisters
stets in seinem Herzen, vor allem seine Erziehergabe hatte er sich zu eigen zu
machen gesucht, und das war es, wie er wohl fühlte, was ihm Kraft und zu¬
letzt Sieg im Daseinskampfe verschafft hatte. Dies trat ihm jetzt mit Klarheit
vor das Bewußtsein. Er brach in Lobsprüche auf den Abgeschiedenen aus,
und in der gehobenen Stimmung erstarkten seine Geister zu rühriger Gedanken¬
arbeit.


Grün führ, gelangte er an die Seitenwand zu einer denkwürdigen Mauernische,
Hier waren während der langen Jahre die Epheuranken fleißig nachgewachsen,
sie verdeckten jetzt beinahe den Eingang. Beim Eintreten in die Nische umfing
ihn ein eigentümlich moderiger Wnrzelgeruch, der ihn im Augenblicke fast körper¬
lich um fünfunddreißig Jahre zurück in seine Kindheit versetzte. Indem er wieder
hinaustrat, hob er das Epheugehänge und teilte es, um den ober» Nischenrand
freizulegen. Richtig, da stand noch die Aufschrift eingemeißelt, schwarzgefärbt
von der Hand des Archimedes, das vieldeutige horazische Wort: I>08e,iinur (Wir
werden verlangt!). Er betrachtete lange die halbverwitterten Züge. Das hatten
sie damals dem Lieblingslehrer zum Geburtstage besorgt, ihm seinen Lieblings¬
platz zu schmücken, dem er den Namen „Grotte des Horaz" gegeben hatte.

Unter der Inschrift fand er jetzt anch noch neuere Zeichenreste, weniger
dauerhafte; er unterschied im Mondenlichte ein schwarzes Kreuzlein, darunter
die Worte: Mag. H..t...b Novbr. 185., also des Lehrers Todesanzeige.

Magister Hartlieb war schon vor dreißig Jahren ein steinalter Mann ge¬
wesen, konnte also unmöglich jetzt noch am Leben sein; dennoch erschütterte der
eben gelesene Sterbebricf den so lebendig in die Jugendzeit zurückversetzten
einstigen Schiller. Thränen traten ihm in die Augen, und er ließ sich an dem
alten, morschen Eichentische auf das Nischenbrett nieder.

Ein tiefinniges Verhältnis hatte den alten Magister mit seinen Schülern
verknüpft; nicht bloß daß der Lehrer es verstanden hatte, die Schüler in den
Geist des Lehrgegenstandes einzuführen, ihnen Liebe zur Sache einzuflößen, er
hatte auch außerhalb der Schulstunden mit ihnen verkehrt. Der „blasse Heinrich"
aber, der xrimus mniüum, war sein Liebling gewesen, auf seine Gedanken war
er am liebsten eingegangen, den Hochflug seiner Pläne und Hoffnungen hatte
er am liebsten gefördert. Noch in den ersten Semestern seiner Universitätszeit
hatte der „blasse Heinrich" Briefe mit dem Alten gewechselt; dann war der
Verkehr durch die burschenschaftlichen Bestrebungen, denen er sich nach der
Meinung des Lehrers mit allzu großer Leidenschaftlichkeit hingegeben hatte,
unterbrochen worden. Später hatte er den Verkehr wieder anknüpfen und ihm
seine Dissertation zueignen wollen; die Verhältnisse hatten das vereitelt. In
der trüben Zeit seines mühseligen Brotverdienens aber hatte er es nicht über
sich gewonnen, vor seinen alten Gönner mit Klagen zu trete«. So waren sie
einander aus dem Gesichtskreise gekommen. Aber es war dies doch nur schein¬
bar der Fall, denn in Wirklichkeit trug der Schüler das Vorbild des Meisters
stets in seinem Herzen, vor allem seine Erziehergabe hatte er sich zu eigen zu
machen gesucht, und das war es, wie er wohl fühlte, was ihm Kraft und zu¬
letzt Sieg im Daseinskampfe verschafft hatte. Dies trat ihm jetzt mit Klarheit
vor das Bewußtsein. Er brach in Lobsprüche auf den Abgeschiedenen aus,
und in der gehobenen Stimmung erstarkten seine Geister zu rühriger Gedanken¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/372>, abgerufen am 22.07.2024.