Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
England und Rußland in Asien.

und ist jetzt, soweit sie nicht auswanderte und in der Türkei sich ansiedelte,
für Rußland völlig unschädlich geworden. Dasselbe gilt von den Lazen, die
gleichfalls die Heimat verließen und gegenwärtig in Kleinasien, wie es scheint,
nicht leben und nicht sterben können. Im Nordwesten des alten Armeniens, wo
dessen Gebiet an den Kaukasus stößt, geht Nußland damit um. den Anfang zu
einem großen Neuarmenien unter seiner Herrschaft zu schaffen -- ein Plan,
dessen Ausführung zu verhindern die Engländer allein oder bloß im Bunde mit
den Türken außer stände sein werden. In den Besitz der armenischen Hoch¬
ebene gelangt, die immer den besten Schutz gegen einen von Norden her vor¬
dringenden Eroberer darbot, würde Nußland verhältnismäßig geringen Schwierig¬
keiten begegnen, wenn es schon in nächster Zukunft den Versuch unternehmen
wollte, nach den südlichen Vorbergen, nach dem Quellgebiete des Murad Tschai
und von dort in Stationen langsam nach den Ebenen Mesopotamiens zu ge¬
langen. Schon seit fünf Dezennien befindet sich seine Politik im Vorgehen nach
diesem Ziele, und eine gute Strecke des Weges ist schon zurückgelegt. Seit
die Festung Kars, der Schlusses Armeniens, eine russische Stadt geworden ist
und die beiden andern Hauptbollwerke der Pforte in diesem Landstriche, Bajazid
und Erzerum, nicht mehr weit von der Grenze des Zarenreiches liegen, ist der
Tag erheblich näher gerückt, an dem die den armenischen Unterthanen des Sultaus
von russischer Seite zugewendeten Sympathien die Früchte tragen werden, welche
mit ihnen beabsichtigt sind; jene Sympathien werden auf armenischer Seite
dankbar empfunden und erwiedert. Nur Unbekanntschaft mit den Verhältnissen
oder bewußte Täuschung durch Jnteressirte kann die den Russen günstige Stim¬
mung der Mehrzahl in Armenien leugnen und von allgemein verbreitetem Russen-
hcisse unter derselben sprechen, und von der Sehnsucht nach einem selbständigen
Armenien, von einem armenischen Nationalstaate träumen vielleicht ein paar
Dutzend Söhne armenischer Bankiers und Großhändler, die sich europäische
Ideen und Phrasen angeeignet haben, aber ihr eignes Volk nicht kennen; die
Masse des letztern denkt an dergleichen Phantasiegebilde nicht entfernt, sondern
erhofft eine bessere Zukunft einzig und allem von Nußland. Hier ist nach ihrer
Meinung ihr Trost über die Mißwirtschaft der Türken, ihr Schutz und ihr
Heil; von hier kommt ihre Erlösung -- so wird ihnen auf Anregung des
Hauptes ihrer Kirche im Kloster Edschmiazin von ihren Wartabets bis nach
Diarbekir hin gepredigt, und alle Welt sagt Amen dazu. Von diesem Glanben
und dieser Hoffnung droht der Türkenherrschaft in Asien die größte Gefahr,
und darin liegt der hauptsächlichste der Gründe, welche den Sultan zögern lassen,
M Armenien Reformen einzuführen und der dortigen christlichen Bevölkerung
Freiheiten und Rechte zu gewähren. Allerdings ist er dazu durch den Berliner
Vertrag von 1878 verpflichtet, aber die türkischen Staatsmänner sind überzeugt,
daß eine den Armeniern gewährte Autonomie gleichbedeutend mit baldigem An¬
schluß derselben an Nußland sein würde.


England und Rußland in Asien.

und ist jetzt, soweit sie nicht auswanderte und in der Türkei sich ansiedelte,
für Rußland völlig unschädlich geworden. Dasselbe gilt von den Lazen, die
gleichfalls die Heimat verließen und gegenwärtig in Kleinasien, wie es scheint,
nicht leben und nicht sterben können. Im Nordwesten des alten Armeniens, wo
dessen Gebiet an den Kaukasus stößt, geht Nußland damit um. den Anfang zu
einem großen Neuarmenien unter seiner Herrschaft zu schaffen — ein Plan,
dessen Ausführung zu verhindern die Engländer allein oder bloß im Bunde mit
den Türken außer stände sein werden. In den Besitz der armenischen Hoch¬
ebene gelangt, die immer den besten Schutz gegen einen von Norden her vor¬
dringenden Eroberer darbot, würde Nußland verhältnismäßig geringen Schwierig¬
keiten begegnen, wenn es schon in nächster Zukunft den Versuch unternehmen
wollte, nach den südlichen Vorbergen, nach dem Quellgebiete des Murad Tschai
und von dort in Stationen langsam nach den Ebenen Mesopotamiens zu ge¬
langen. Schon seit fünf Dezennien befindet sich seine Politik im Vorgehen nach
diesem Ziele, und eine gute Strecke des Weges ist schon zurückgelegt. Seit
die Festung Kars, der Schlusses Armeniens, eine russische Stadt geworden ist
und die beiden andern Hauptbollwerke der Pforte in diesem Landstriche, Bajazid
und Erzerum, nicht mehr weit von der Grenze des Zarenreiches liegen, ist der
Tag erheblich näher gerückt, an dem die den armenischen Unterthanen des Sultaus
von russischer Seite zugewendeten Sympathien die Früchte tragen werden, welche
mit ihnen beabsichtigt sind; jene Sympathien werden auf armenischer Seite
dankbar empfunden und erwiedert. Nur Unbekanntschaft mit den Verhältnissen
oder bewußte Täuschung durch Jnteressirte kann die den Russen günstige Stim¬
mung der Mehrzahl in Armenien leugnen und von allgemein verbreitetem Russen-
hcisse unter derselben sprechen, und von der Sehnsucht nach einem selbständigen
Armenien, von einem armenischen Nationalstaate träumen vielleicht ein paar
Dutzend Söhne armenischer Bankiers und Großhändler, die sich europäische
Ideen und Phrasen angeeignet haben, aber ihr eignes Volk nicht kennen; die
Masse des letztern denkt an dergleichen Phantasiegebilde nicht entfernt, sondern
erhofft eine bessere Zukunft einzig und allem von Nußland. Hier ist nach ihrer
Meinung ihr Trost über die Mißwirtschaft der Türken, ihr Schutz und ihr
Heil; von hier kommt ihre Erlösung — so wird ihnen auf Anregung des
Hauptes ihrer Kirche im Kloster Edschmiazin von ihren Wartabets bis nach
Diarbekir hin gepredigt, und alle Welt sagt Amen dazu. Von diesem Glanben
und dieser Hoffnung droht der Türkenherrschaft in Asien die größte Gefahr,
und darin liegt der hauptsächlichste der Gründe, welche den Sultan zögern lassen,
M Armenien Reformen einzuführen und der dortigen christlichen Bevölkerung
Freiheiten und Rechte zu gewähren. Allerdings ist er dazu durch den Berliner
Vertrag von 1878 verpflichtet, aber die türkischen Staatsmänner sind überzeugt,
daß eine den Armeniern gewährte Autonomie gleichbedeutend mit baldigem An¬
schluß derselben an Nußland sein würde.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0281" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194957"/>
          <fw type="header" place="top"> England und Rußland in Asien.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1012" prev="#ID_1011"> und ist jetzt, soweit sie nicht auswanderte und in der Türkei sich ansiedelte,<lb/>
für Rußland völlig unschädlich geworden. Dasselbe gilt von den Lazen, die<lb/>
gleichfalls die Heimat verließen und gegenwärtig in Kleinasien, wie es scheint,<lb/>
nicht leben und nicht sterben können. Im Nordwesten des alten Armeniens, wo<lb/>
dessen Gebiet an den Kaukasus stößt, geht Nußland damit um. den Anfang zu<lb/>
einem großen Neuarmenien unter seiner Herrschaft zu schaffen &#x2014; ein Plan,<lb/>
dessen Ausführung zu verhindern die Engländer allein oder bloß im Bunde mit<lb/>
den Türken außer stände sein werden. In den Besitz der armenischen Hoch¬<lb/>
ebene gelangt, die immer den besten Schutz gegen einen von Norden her vor¬<lb/>
dringenden Eroberer darbot, würde Nußland verhältnismäßig geringen Schwierig¬<lb/>
keiten begegnen, wenn es schon in nächster Zukunft den Versuch unternehmen<lb/>
wollte, nach den südlichen Vorbergen, nach dem Quellgebiete des Murad Tschai<lb/>
und von dort in Stationen langsam nach den Ebenen Mesopotamiens zu ge¬<lb/>
langen. Schon seit fünf Dezennien befindet sich seine Politik im Vorgehen nach<lb/>
diesem Ziele, und eine gute Strecke des Weges ist schon zurückgelegt. Seit<lb/>
die Festung Kars, der Schlusses Armeniens, eine russische Stadt geworden ist<lb/>
und die beiden andern Hauptbollwerke der Pforte in diesem Landstriche, Bajazid<lb/>
und Erzerum, nicht mehr weit von der Grenze des Zarenreiches liegen, ist der<lb/>
Tag erheblich näher gerückt, an dem die den armenischen Unterthanen des Sultaus<lb/>
von russischer Seite zugewendeten Sympathien die Früchte tragen werden, welche<lb/>
mit ihnen beabsichtigt sind; jene Sympathien werden auf armenischer Seite<lb/>
dankbar empfunden und erwiedert. Nur Unbekanntschaft mit den Verhältnissen<lb/>
oder bewußte Täuschung durch Jnteressirte kann die den Russen günstige Stim¬<lb/>
mung der Mehrzahl in Armenien leugnen und von allgemein verbreitetem Russen-<lb/>
hcisse unter derselben sprechen, und von der Sehnsucht nach einem selbständigen<lb/>
Armenien, von einem armenischen Nationalstaate träumen vielleicht ein paar<lb/>
Dutzend Söhne armenischer Bankiers und Großhändler, die sich europäische<lb/>
Ideen und Phrasen angeeignet haben, aber ihr eignes Volk nicht kennen; die<lb/>
Masse des letztern denkt an dergleichen Phantasiegebilde nicht entfernt, sondern<lb/>
erhofft eine bessere Zukunft einzig und allem von Nußland. Hier ist nach ihrer<lb/>
Meinung ihr Trost über die Mißwirtschaft der Türken, ihr Schutz und ihr<lb/>
Heil; von hier kommt ihre Erlösung &#x2014; so wird ihnen auf Anregung des<lb/>
Hauptes ihrer Kirche im Kloster Edschmiazin von ihren Wartabets bis nach<lb/>
Diarbekir hin gepredigt, und alle Welt sagt Amen dazu. Von diesem Glanben<lb/>
und dieser Hoffnung droht der Türkenherrschaft in Asien die größte Gefahr,<lb/>
und darin liegt der hauptsächlichste der Gründe, welche den Sultan zögern lassen,<lb/>
M Armenien Reformen einzuführen und der dortigen christlichen Bevölkerung<lb/>
Freiheiten und Rechte zu gewähren. Allerdings ist er dazu durch den Berliner<lb/>
Vertrag von 1878 verpflichtet, aber die türkischen Staatsmänner sind überzeugt,<lb/>
daß eine den Armeniern gewährte Autonomie gleichbedeutend mit baldigem An¬<lb/>
schluß derselben an Nußland sein würde.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0281] England und Rußland in Asien. und ist jetzt, soweit sie nicht auswanderte und in der Türkei sich ansiedelte, für Rußland völlig unschädlich geworden. Dasselbe gilt von den Lazen, die gleichfalls die Heimat verließen und gegenwärtig in Kleinasien, wie es scheint, nicht leben und nicht sterben können. Im Nordwesten des alten Armeniens, wo dessen Gebiet an den Kaukasus stößt, geht Nußland damit um. den Anfang zu einem großen Neuarmenien unter seiner Herrschaft zu schaffen — ein Plan, dessen Ausführung zu verhindern die Engländer allein oder bloß im Bunde mit den Türken außer stände sein werden. In den Besitz der armenischen Hoch¬ ebene gelangt, die immer den besten Schutz gegen einen von Norden her vor¬ dringenden Eroberer darbot, würde Nußland verhältnismäßig geringen Schwierig¬ keiten begegnen, wenn es schon in nächster Zukunft den Versuch unternehmen wollte, nach den südlichen Vorbergen, nach dem Quellgebiete des Murad Tschai und von dort in Stationen langsam nach den Ebenen Mesopotamiens zu ge¬ langen. Schon seit fünf Dezennien befindet sich seine Politik im Vorgehen nach diesem Ziele, und eine gute Strecke des Weges ist schon zurückgelegt. Seit die Festung Kars, der Schlusses Armeniens, eine russische Stadt geworden ist und die beiden andern Hauptbollwerke der Pforte in diesem Landstriche, Bajazid und Erzerum, nicht mehr weit von der Grenze des Zarenreiches liegen, ist der Tag erheblich näher gerückt, an dem die den armenischen Unterthanen des Sultaus von russischer Seite zugewendeten Sympathien die Früchte tragen werden, welche mit ihnen beabsichtigt sind; jene Sympathien werden auf armenischer Seite dankbar empfunden und erwiedert. Nur Unbekanntschaft mit den Verhältnissen oder bewußte Täuschung durch Jnteressirte kann die den Russen günstige Stim¬ mung der Mehrzahl in Armenien leugnen und von allgemein verbreitetem Russen- hcisse unter derselben sprechen, und von der Sehnsucht nach einem selbständigen Armenien, von einem armenischen Nationalstaate träumen vielleicht ein paar Dutzend Söhne armenischer Bankiers und Großhändler, die sich europäische Ideen und Phrasen angeeignet haben, aber ihr eignes Volk nicht kennen; die Masse des letztern denkt an dergleichen Phantasiegebilde nicht entfernt, sondern erhofft eine bessere Zukunft einzig und allem von Nußland. Hier ist nach ihrer Meinung ihr Trost über die Mißwirtschaft der Türken, ihr Schutz und ihr Heil; von hier kommt ihre Erlösung — so wird ihnen auf Anregung des Hauptes ihrer Kirche im Kloster Edschmiazin von ihren Wartabets bis nach Diarbekir hin gepredigt, und alle Welt sagt Amen dazu. Von diesem Glanben und dieser Hoffnung droht der Türkenherrschaft in Asien die größte Gefahr, und darin liegt der hauptsächlichste der Gründe, welche den Sultan zögern lassen, M Armenien Reformen einzuführen und der dortigen christlichen Bevölkerung Freiheiten und Rechte zu gewähren. Allerdings ist er dazu durch den Berliner Vertrag von 1878 verpflichtet, aber die türkischen Staatsmänner sind überzeugt, daß eine den Armeniern gewährte Autonomie gleichbedeutend mit baldigem An¬ schluß derselben an Nußland sein würde.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/281
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/281>, abgerufen am 22.07.2024.