Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der erste wissenschaftliche Sozicilist.

Systems, eine sorgfältig abwägende Kritik desselben und eine Ableitung seiner
Lehre" aus den Ansichten früherer volkswirtschaftlicher Denker noch nicht existiren,
so verdient diese Studie entschieden Beachtung, und so weisen wir durch einige
Mitteilungen aus ihr auf sie hin.

Nvdbertus geht von folgenden philosophischen Grundnnschanuugcn aus.
Der Mensch ist ein dreieiniges Wesen, das aus Geist, Willen und materieller
Kraft besteht. Die Einigung der Individuen in diesen drei Elementen sührt zum
sozialen Organismus, d. h. zu Sprache und Wissenschaft, Sitte und Recht,
Teilung der Arbeit und nationaler Wirtschaft. Das Individuum lebt und wirkt
in dreifacher Lebensgemeinschaft mit seinesgleichen: in geistiger, ethischer und
materieller. Die Geschichte ist die einer vollkommner werdenden Ausbildung des
gesellschaftlichen Lebens, die sich so vollzieht, daß der niedere Organismus fort¬
während im höheren aufgeht. Dieselbe zerfällt in verschiedene Abstufungen: in
eine Familien- oder Stammperiode, eine Staatenperiode und eine Periode der
organisirten menschlichen Gesellschaft. Nach dem Grade ihrer größeren Voll¬
kommenheit sind die genannten Hanptperivden wieder in Ordnungen und Arten
zu teilen: die Staatenperiode in die heidnisch-antike, die christlich-germanische und
die noch höhere Staatenvrdnung der Zukunft, die heidnisch-antike Ordnung ihrer¬
seits wieder in die Arten Theokratie, Kastcnstaat, Scitrapie und Polis, die
christlich-germanische Ordnung in den kirchlichen Staat, den ständischen, den
bürokratischen und den Repräsentativstaat. Von diesen Staaten im weitern
Sinne muß man den Staat im engern Sinne unterscheiden, welcher die zentralen
Organe eines solchen sozialen Organismus bezeichnet, also nur einen Teil des
sozialen Körpers bedeutet; die übrigen Teile stehen im Systeme neben diesem
als Gesellschaft. Der Staat im engern Sinne verändert seine Gestalt nach den
Entwicklungsstufen seines Lebens, er nimmt an Umfang und Kraft zu, er wird
mannichfaltiger und übereinstimmender, d. h. einerseits wird jede Funktion mehr
und mehr an ein besonderes Organ gebunden, andrerseits werden die einzelnen
Organe von Stufe zu Stufe abhängiger von einem Zentralorgane. Infolge
dessen, wegen der Wechselnden Natur des Staates im engern Sinne, läßt sich
sein Begriff nicht endgiltig gegen den der Gesellschaft abgrenzen. Daraus folgt
auch, daß die Konstruktion des Staates g. priori, das Suchen nach der besten
Verfassung ein vergebliches Bemühen ist. Der Staat ist immer nur das äußer¬
liche Ergebnis der gerade bestehende" Gesellschaft, seine Form wird durch den
veränderten Gesellschaftszustand bestimmt.

Nach Rodbertus hat sich ferner das ethische Gebiet ebenso wie das der
Wissenschaft und der Wirtschaft erst allmählich entwickelt. Ursprünglich, in der Fa¬
milie, fallen Sittlichkeit und Recht noch in der einer Sitte zusammen, die den positiven
Geboten der erste" sozialen Gewalt, des Familienhauptes entspringt und des¬
halb nur einen positiven Inhalt und einen gebietenden, objektiven Charakter an
sich trägt, in welchen: sie einzig und allein durch den Zwang der sozialen


Der erste wissenschaftliche Sozicilist.

Systems, eine sorgfältig abwägende Kritik desselben und eine Ableitung seiner
Lehre» aus den Ansichten früherer volkswirtschaftlicher Denker noch nicht existiren,
so verdient diese Studie entschieden Beachtung, und so weisen wir durch einige
Mitteilungen aus ihr auf sie hin.

Nvdbertus geht von folgenden philosophischen Grundnnschanuugcn aus.
Der Mensch ist ein dreieiniges Wesen, das aus Geist, Willen und materieller
Kraft besteht. Die Einigung der Individuen in diesen drei Elementen sührt zum
sozialen Organismus, d. h. zu Sprache und Wissenschaft, Sitte und Recht,
Teilung der Arbeit und nationaler Wirtschaft. Das Individuum lebt und wirkt
in dreifacher Lebensgemeinschaft mit seinesgleichen: in geistiger, ethischer und
materieller. Die Geschichte ist die einer vollkommner werdenden Ausbildung des
gesellschaftlichen Lebens, die sich so vollzieht, daß der niedere Organismus fort¬
während im höheren aufgeht. Dieselbe zerfällt in verschiedene Abstufungen: in
eine Familien- oder Stammperiode, eine Staatenperiode und eine Periode der
organisirten menschlichen Gesellschaft. Nach dem Grade ihrer größeren Voll¬
kommenheit sind die genannten Hanptperivden wieder in Ordnungen und Arten
zu teilen: die Staatenperiode in die heidnisch-antike, die christlich-germanische und
die noch höhere Staatenvrdnung der Zukunft, die heidnisch-antike Ordnung ihrer¬
seits wieder in die Arten Theokratie, Kastcnstaat, Scitrapie und Polis, die
christlich-germanische Ordnung in den kirchlichen Staat, den ständischen, den
bürokratischen und den Repräsentativstaat. Von diesen Staaten im weitern
Sinne muß man den Staat im engern Sinne unterscheiden, welcher die zentralen
Organe eines solchen sozialen Organismus bezeichnet, also nur einen Teil des
sozialen Körpers bedeutet; die übrigen Teile stehen im Systeme neben diesem
als Gesellschaft. Der Staat im engern Sinne verändert seine Gestalt nach den
Entwicklungsstufen seines Lebens, er nimmt an Umfang und Kraft zu, er wird
mannichfaltiger und übereinstimmender, d. h. einerseits wird jede Funktion mehr
und mehr an ein besonderes Organ gebunden, andrerseits werden die einzelnen
Organe von Stufe zu Stufe abhängiger von einem Zentralorgane. Infolge
dessen, wegen der Wechselnden Natur des Staates im engern Sinne, läßt sich
sein Begriff nicht endgiltig gegen den der Gesellschaft abgrenzen. Daraus folgt
auch, daß die Konstruktion des Staates g. priori, das Suchen nach der besten
Verfassung ein vergebliches Bemühen ist. Der Staat ist immer nur das äußer¬
liche Ergebnis der gerade bestehende» Gesellschaft, seine Form wird durch den
veränderten Gesellschaftszustand bestimmt.

Nach Rodbertus hat sich ferner das ethische Gebiet ebenso wie das der
Wissenschaft und der Wirtschaft erst allmählich entwickelt. Ursprünglich, in der Fa¬
milie, fallen Sittlichkeit und Recht noch in der einer Sitte zusammen, die den positiven
Geboten der erste» sozialen Gewalt, des Familienhauptes entspringt und des¬
halb nur einen positiven Inhalt und einen gebietenden, objektiven Charakter an
sich trägt, in welchen: sie einzig und allein durch den Zwang der sozialen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0072" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/154955"/>
          <fw type="header" place="top"> Der erste wissenschaftliche Sozicilist.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_225" prev="#ID_224"> Systems, eine sorgfältig abwägende Kritik desselben und eine Ableitung seiner<lb/>
Lehre» aus den Ansichten früherer volkswirtschaftlicher Denker noch nicht existiren,<lb/>
so verdient diese Studie entschieden Beachtung, und so weisen wir durch einige<lb/>
Mitteilungen aus ihr auf sie hin.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_226"> Nvdbertus geht von folgenden philosophischen Grundnnschanuugcn aus.<lb/>
Der Mensch ist ein dreieiniges Wesen, das aus Geist, Willen und materieller<lb/>
Kraft besteht. Die Einigung der Individuen in diesen drei Elementen sührt zum<lb/>
sozialen Organismus, d. h. zu Sprache und Wissenschaft, Sitte und Recht,<lb/>
Teilung der Arbeit und nationaler Wirtschaft. Das Individuum lebt und wirkt<lb/>
in dreifacher Lebensgemeinschaft mit seinesgleichen: in geistiger, ethischer und<lb/>
materieller. Die Geschichte ist die einer vollkommner werdenden Ausbildung des<lb/>
gesellschaftlichen Lebens, die sich so vollzieht, daß der niedere Organismus fort¬<lb/>
während im höheren aufgeht. Dieselbe zerfällt in verschiedene Abstufungen: in<lb/>
eine Familien- oder Stammperiode, eine Staatenperiode und eine Periode der<lb/>
organisirten menschlichen Gesellschaft. Nach dem Grade ihrer größeren Voll¬<lb/>
kommenheit sind die genannten Hanptperivden wieder in Ordnungen und Arten<lb/>
zu teilen: die Staatenperiode in die heidnisch-antike, die christlich-germanische und<lb/>
die noch höhere Staatenvrdnung der Zukunft, die heidnisch-antike Ordnung ihrer¬<lb/>
seits wieder in die Arten Theokratie, Kastcnstaat, Scitrapie und Polis, die<lb/>
christlich-germanische Ordnung in den kirchlichen Staat, den ständischen, den<lb/>
bürokratischen und den Repräsentativstaat. Von diesen Staaten im weitern<lb/>
Sinne muß man den Staat im engern Sinne unterscheiden, welcher die zentralen<lb/>
Organe eines solchen sozialen Organismus bezeichnet, also nur einen Teil des<lb/>
sozialen Körpers bedeutet; die übrigen Teile stehen im Systeme neben diesem<lb/>
als Gesellschaft. Der Staat im engern Sinne verändert seine Gestalt nach den<lb/>
Entwicklungsstufen seines Lebens, er nimmt an Umfang und Kraft zu, er wird<lb/>
mannichfaltiger und übereinstimmender, d. h. einerseits wird jede Funktion mehr<lb/>
und mehr an ein besonderes Organ gebunden, andrerseits werden die einzelnen<lb/>
Organe von Stufe zu Stufe abhängiger von einem Zentralorgane. Infolge<lb/>
dessen, wegen der Wechselnden Natur des Staates im engern Sinne, läßt sich<lb/>
sein Begriff nicht endgiltig gegen den der Gesellschaft abgrenzen. Daraus folgt<lb/>
auch, daß die Konstruktion des Staates g. priori, das Suchen nach der besten<lb/>
Verfassung ein vergebliches Bemühen ist. Der Staat ist immer nur das äußer¬<lb/>
liche Ergebnis der gerade bestehende» Gesellschaft, seine Form wird durch den<lb/>
veränderten Gesellschaftszustand bestimmt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_227" next="#ID_228"> Nach Rodbertus hat sich ferner das ethische Gebiet ebenso wie das der<lb/>
Wissenschaft und der Wirtschaft erst allmählich entwickelt. Ursprünglich, in der Fa¬<lb/>
milie, fallen Sittlichkeit und Recht noch in der einer Sitte zusammen, die den positiven<lb/>
Geboten der erste» sozialen Gewalt, des Familienhauptes entspringt und des¬<lb/>
halb nur einen positiven Inhalt und einen gebietenden, objektiven Charakter an<lb/>
sich trägt, in welchen: sie einzig und allein durch den Zwang der sozialen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0072] Der erste wissenschaftliche Sozicilist. Systems, eine sorgfältig abwägende Kritik desselben und eine Ableitung seiner Lehre» aus den Ansichten früherer volkswirtschaftlicher Denker noch nicht existiren, so verdient diese Studie entschieden Beachtung, und so weisen wir durch einige Mitteilungen aus ihr auf sie hin. Nvdbertus geht von folgenden philosophischen Grundnnschanuugcn aus. Der Mensch ist ein dreieiniges Wesen, das aus Geist, Willen und materieller Kraft besteht. Die Einigung der Individuen in diesen drei Elementen sührt zum sozialen Organismus, d. h. zu Sprache und Wissenschaft, Sitte und Recht, Teilung der Arbeit und nationaler Wirtschaft. Das Individuum lebt und wirkt in dreifacher Lebensgemeinschaft mit seinesgleichen: in geistiger, ethischer und materieller. Die Geschichte ist die einer vollkommner werdenden Ausbildung des gesellschaftlichen Lebens, die sich so vollzieht, daß der niedere Organismus fort¬ während im höheren aufgeht. Dieselbe zerfällt in verschiedene Abstufungen: in eine Familien- oder Stammperiode, eine Staatenperiode und eine Periode der organisirten menschlichen Gesellschaft. Nach dem Grade ihrer größeren Voll¬ kommenheit sind die genannten Hanptperivden wieder in Ordnungen und Arten zu teilen: die Staatenperiode in die heidnisch-antike, die christlich-germanische und die noch höhere Staatenvrdnung der Zukunft, die heidnisch-antike Ordnung ihrer¬ seits wieder in die Arten Theokratie, Kastcnstaat, Scitrapie und Polis, die christlich-germanische Ordnung in den kirchlichen Staat, den ständischen, den bürokratischen und den Repräsentativstaat. Von diesen Staaten im weitern Sinne muß man den Staat im engern Sinne unterscheiden, welcher die zentralen Organe eines solchen sozialen Organismus bezeichnet, also nur einen Teil des sozialen Körpers bedeutet; die übrigen Teile stehen im Systeme neben diesem als Gesellschaft. Der Staat im engern Sinne verändert seine Gestalt nach den Entwicklungsstufen seines Lebens, er nimmt an Umfang und Kraft zu, er wird mannichfaltiger und übereinstimmender, d. h. einerseits wird jede Funktion mehr und mehr an ein besonderes Organ gebunden, andrerseits werden die einzelnen Organe von Stufe zu Stufe abhängiger von einem Zentralorgane. Infolge dessen, wegen der Wechselnden Natur des Staates im engern Sinne, läßt sich sein Begriff nicht endgiltig gegen den der Gesellschaft abgrenzen. Daraus folgt auch, daß die Konstruktion des Staates g. priori, das Suchen nach der besten Verfassung ein vergebliches Bemühen ist. Der Staat ist immer nur das äußer¬ liche Ergebnis der gerade bestehende» Gesellschaft, seine Form wird durch den veränderten Gesellschaftszustand bestimmt. Nach Rodbertus hat sich ferner das ethische Gebiet ebenso wie das der Wissenschaft und der Wirtschaft erst allmählich entwickelt. Ursprünglich, in der Fa¬ milie, fallen Sittlichkeit und Recht noch in der einer Sitte zusammen, die den positiven Geboten der erste» sozialen Gewalt, des Familienhauptes entspringt und des¬ halb nur einen positiven Inhalt und einen gebietenden, objektiven Charakter an sich trägt, in welchen: sie einzig und allein durch den Zwang der sozialen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/72
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/72>, abgerufen am 25.08.2024.