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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Rußland und die armenische Frage.

noch wenigen Monaten stand bei dem fast achtzigjähriger SchM) der Plan fest,
nach der Heimat zurückzukehren. Dn der Sultan einer offnen Bitte jedenfalls
widerstrebt und eine Entscheidung mindestens lange hinausgezogen hätte, so
blieb dem Kurden nnr das Mittel der Flucht, und er bewerkstelligte dieselbe im
Sommer 1882 in einer Weise, welche bewies, daß er seinen schlauen Gegnern
an List noch überlegen war. Er erklärte laut seiue Absicht, eine Wallfahrt zum
Grabe des Propheten vornehmen und seine Tage in Mekka beschließen zu wollen.
Ein vierzigtügiges Fasten während des Namasau sollte die würdige Einleitung
seiner religiösen Übungen bilden. Die Sache hatte an und für sich nichts Auf¬
fallendes, auch wunderte man sich im Palais keineswegs, daß der fromme Greis
die letzten vierzehn Tage der Fastenzeit in strenger Klausur verbrachte und jeden
Verkehr mit der Außenwelt vermied. Die geringe Nahrung, die er zu sich
nehmen durste, brachte ihm sein knrdischer Diener in das Gemach, in welchem
er den vorgeschriebenen geistlichen Übungen oblag. Aufsehen und Argwohn
erregte es indessen, daß der Scheikh nach Ablauf der Fastenzeit nicht bei der
großen Beiramszercmonie erschien, an welcher alle Würdenträger des Reiches
teilzunehmen haben. Man forschte nun in seinem Konak nach und fand das
Nest leer. Der Vorsprung von vierzehn Tagen hatte dem verschlagnen Häupt¬
ling genügt, um von Trapezunt aus mit Hilfe seiner kurdischen Begleiter auf
geheimen Pfaden die heimischen Berge zu erreichen. Daß die Überfahrt von
Konstantinopel nach Trapezunt auf einem russischen Dampfer erfolgte, ließ die
Koniveuz gewisser russischen Kreise vermuten und erhöhte nicht wenig die Ver¬
stimmung des Sultaus über das Gelingen der Flucht. Ob eine russische Hilfe
thatsächlich stattgefunden hat, läßt sich natürlich nicht beweisen; daß Rußland ein
Interesse daran hat, die türkischen Armenier nicht zur Ruhe kommen zu lassen,
und daß ihm die störenden Einfälle der Kurden und ihre Auflehnung gegen die
Autorität des Sultans aus diesen wie aus andern politischen Gründen erwünscht
sind, ist in Stambul kein Geheimnis.

Wir haben eben die Umstände erörtert, welche einer Zunahme russischen
Einflusses in Armenien noch entgegenstehen, aber auch gleichzeitig darauf hin¬
gewiesen, daß die Armenier, d. h. die Bewohner der Provinz Armenien selbst,
mit der Zeit notgedrungen ins russische Lager getrieben werden, wenn
man ihre Beschwerden noch länger unberücksichtigt läßt. Rußland arbeitet
daher auf jenem Gebiete mit einer Emsigkeit, welche ihm den schließlichen Erfolg
sichert. Eine Einverleibung des türkischen Armeniens aber würde die russischen
Grenzen dem Bosporus beträchtlich näher rücken. Wenn die Festungen des
türkischen Armeniens in den Besitz Rußlands gelangen, so liegt die Marsch¬
route auf Skutari offen und unbeschützt da. Was auf der europäischen Seite
nicht erreicht werden kann -- die Besetzung der Wasserstraße -- ist dann auf
der asiatischen mit Leichtigkeit zu bewirken. Seitdem sich die Balkanstaaten von
der russischen Vormundschaft mehr und mehr freimachen, die rumänisch!' und


Grmzbowi I. 1384. 62
Rußland und die armenische Frage.

noch wenigen Monaten stand bei dem fast achtzigjähriger SchM) der Plan fest,
nach der Heimat zurückzukehren. Dn der Sultan einer offnen Bitte jedenfalls
widerstrebt und eine Entscheidung mindestens lange hinausgezogen hätte, so
blieb dem Kurden nnr das Mittel der Flucht, und er bewerkstelligte dieselbe im
Sommer 1882 in einer Weise, welche bewies, daß er seinen schlauen Gegnern
an List noch überlegen war. Er erklärte laut seiue Absicht, eine Wallfahrt zum
Grabe des Propheten vornehmen und seine Tage in Mekka beschließen zu wollen.
Ein vierzigtügiges Fasten während des Namasau sollte die würdige Einleitung
seiner religiösen Übungen bilden. Die Sache hatte an und für sich nichts Auf¬
fallendes, auch wunderte man sich im Palais keineswegs, daß der fromme Greis
die letzten vierzehn Tage der Fastenzeit in strenger Klausur verbrachte und jeden
Verkehr mit der Außenwelt vermied. Die geringe Nahrung, die er zu sich
nehmen durste, brachte ihm sein knrdischer Diener in das Gemach, in welchem
er den vorgeschriebenen geistlichen Übungen oblag. Aufsehen und Argwohn
erregte es indessen, daß der Scheikh nach Ablauf der Fastenzeit nicht bei der
großen Beiramszercmonie erschien, an welcher alle Würdenträger des Reiches
teilzunehmen haben. Man forschte nun in seinem Konak nach und fand das
Nest leer. Der Vorsprung von vierzehn Tagen hatte dem verschlagnen Häupt¬
ling genügt, um von Trapezunt aus mit Hilfe seiner kurdischen Begleiter auf
geheimen Pfaden die heimischen Berge zu erreichen. Daß die Überfahrt von
Konstantinopel nach Trapezunt auf einem russischen Dampfer erfolgte, ließ die
Koniveuz gewisser russischen Kreise vermuten und erhöhte nicht wenig die Ver¬
stimmung des Sultaus über das Gelingen der Flucht. Ob eine russische Hilfe
thatsächlich stattgefunden hat, läßt sich natürlich nicht beweisen; daß Rußland ein
Interesse daran hat, die türkischen Armenier nicht zur Ruhe kommen zu lassen,
und daß ihm die störenden Einfälle der Kurden und ihre Auflehnung gegen die
Autorität des Sultans aus diesen wie aus andern politischen Gründen erwünscht
sind, ist in Stambul kein Geheimnis.

Wir haben eben die Umstände erörtert, welche einer Zunahme russischen
Einflusses in Armenien noch entgegenstehen, aber auch gleichzeitig darauf hin¬
gewiesen, daß die Armenier, d. h. die Bewohner der Provinz Armenien selbst,
mit der Zeit notgedrungen ins russische Lager getrieben werden, wenn
man ihre Beschwerden noch länger unberücksichtigt läßt. Rußland arbeitet
daher auf jenem Gebiete mit einer Emsigkeit, welche ihm den schließlichen Erfolg
sichert. Eine Einverleibung des türkischen Armeniens aber würde die russischen
Grenzen dem Bosporus beträchtlich näher rücken. Wenn die Festungen des
türkischen Armeniens in den Besitz Rußlands gelangen, so liegt die Marsch¬
route auf Skutari offen und unbeschützt da. Was auf der europäischen Seite
nicht erreicht werden kann — die Besetzung der Wasserstraße — ist dann auf
der asiatischen mit Leichtigkeit zu bewirken. Seitdem sich die Balkanstaaten von
der russischen Vormundschaft mehr und mehr freimachen, die rumänisch!' und


Grmzbowi I. 1384. 62
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[0499] Rußland und die armenische Frage. noch wenigen Monaten stand bei dem fast achtzigjähriger SchM) der Plan fest, nach der Heimat zurückzukehren. Dn der Sultan einer offnen Bitte jedenfalls widerstrebt und eine Entscheidung mindestens lange hinausgezogen hätte, so blieb dem Kurden nnr das Mittel der Flucht, und er bewerkstelligte dieselbe im Sommer 1882 in einer Weise, welche bewies, daß er seinen schlauen Gegnern an List noch überlegen war. Er erklärte laut seiue Absicht, eine Wallfahrt zum Grabe des Propheten vornehmen und seine Tage in Mekka beschließen zu wollen. Ein vierzigtügiges Fasten während des Namasau sollte die würdige Einleitung seiner religiösen Übungen bilden. Die Sache hatte an und für sich nichts Auf¬ fallendes, auch wunderte man sich im Palais keineswegs, daß der fromme Greis die letzten vierzehn Tage der Fastenzeit in strenger Klausur verbrachte und jeden Verkehr mit der Außenwelt vermied. Die geringe Nahrung, die er zu sich nehmen durste, brachte ihm sein knrdischer Diener in das Gemach, in welchem er den vorgeschriebenen geistlichen Übungen oblag. Aufsehen und Argwohn erregte es indessen, daß der Scheikh nach Ablauf der Fastenzeit nicht bei der großen Beiramszercmonie erschien, an welcher alle Würdenträger des Reiches teilzunehmen haben. Man forschte nun in seinem Konak nach und fand das Nest leer. Der Vorsprung von vierzehn Tagen hatte dem verschlagnen Häupt¬ ling genügt, um von Trapezunt aus mit Hilfe seiner kurdischen Begleiter auf geheimen Pfaden die heimischen Berge zu erreichen. Daß die Überfahrt von Konstantinopel nach Trapezunt auf einem russischen Dampfer erfolgte, ließ die Koniveuz gewisser russischen Kreise vermuten und erhöhte nicht wenig die Ver¬ stimmung des Sultaus über das Gelingen der Flucht. Ob eine russische Hilfe thatsächlich stattgefunden hat, läßt sich natürlich nicht beweisen; daß Rußland ein Interesse daran hat, die türkischen Armenier nicht zur Ruhe kommen zu lassen, und daß ihm die störenden Einfälle der Kurden und ihre Auflehnung gegen die Autorität des Sultans aus diesen wie aus andern politischen Gründen erwünscht sind, ist in Stambul kein Geheimnis. Wir haben eben die Umstände erörtert, welche einer Zunahme russischen Einflusses in Armenien noch entgegenstehen, aber auch gleichzeitig darauf hin¬ gewiesen, daß die Armenier, d. h. die Bewohner der Provinz Armenien selbst, mit der Zeit notgedrungen ins russische Lager getrieben werden, wenn man ihre Beschwerden noch länger unberücksichtigt läßt. Rußland arbeitet daher auf jenem Gebiete mit einer Emsigkeit, welche ihm den schließlichen Erfolg sichert. Eine Einverleibung des türkischen Armeniens aber würde die russischen Grenzen dem Bosporus beträchtlich näher rücken. Wenn die Festungen des türkischen Armeniens in den Besitz Rußlands gelangen, so liegt die Marsch¬ route auf Skutari offen und unbeschützt da. Was auf der europäischen Seite nicht erreicht werden kann — die Besetzung der Wasserstraße — ist dann auf der asiatischen mit Leichtigkeit zu bewirken. Seitdem sich die Balkanstaaten von der russischen Vormundschaft mehr und mehr freimachen, die rumänisch!' und Grmzbowi I. 1384. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/499>, abgerufen am 28.09.2024.