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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Rußland und die armenische Frage,

kurdischen Hammcldicbe verfahren nicht anders wie die mvntenegrinischen. Auch
sind die Armenier an diese unbequemen Nachbarn seit Jahrhunderten so sehr
gewöhnt, daß das Zusammenleben mit ihnen viel erträglicher wäre als die Er¬
pressungen und Bedrückungen der türkischen Beamten, die von der Zentralstelle
aus nicht kontrolirt werden können. Die Wünsche der Armenier sind daher
hauptsächlich darauf gerichtet, daß für ihre entlegene Provinz ein mit besondrer
Vollmacht ausgerüsteter Gouverneur ernannt werde, welcher Übergriffen der Be¬
amten steuert und im Lande Gerechtigkeit übt. So bescheiden dieser Wunsch
klingt, ist er bisher unerfüllt geblieben. Die Pforte hat mehrmals Kommissare
nach Armenien entsendet, welche das Land bereisen, die Notstände prüfen, Aus¬
schreitungen der Beamten bestrafen sollten. Diese Kommissare haben sich einige
Monate in den größeren Städten aufgehalten; die dortigen Malis haben dafür
gesorgt, daß sie nur das erfuhren, was ihren persönlichen Zwecken nützlich war.
Einige Beamten, welche es zu arg getrieben, wurden entlassen oder versetzt:
die meisten aber wußten sich das Verbleiben in ihren Stellen mit den in der
ganzen türkischen Hierarchie üblichen Mitteln zu erkaufen. Die Kommissare
kehrten dann mit einem umfangreichen Reformpläne zurück, der dem Sultan vor¬
gelegt und einer Spezialkommission zur Begutachtung überwiesen wurde. Diese
seind den Plan so vorzüglich, daß sie die Anwendung des Reformwerkes auch
für alle andern Teile des Reiches empfahl, und der Sultan eignete sich diese
Auffassung umso lieber an, als damit die "armenische Frage" in dem Meer der
allgemeinen Tagesfragen versank und so Ausnahmemaßregeln nicht nötig wurden,
welche immerhin als die Folge eines auswärtigen Druckes hätten erscheinen
müssen.

Eine solche Verallgemeinerung der Reformpläne fand auch stets die
freundliche Unterstützung der alttürkischen Partei; denn je umfangreicher das
Projekt auftrat, desto schwieriger und unwahrscheinlicher wurde seine Ausführung.
Die graubärtigen Kaftanträger im Palais wissen recht wohl, daß jede größere
administrative Reform an der Unbildung und Unzuverlässigkeit des türkischen
Beamtentums scheitern muß, daß es vor allem geordneter Finanzen bedürfte,
um eine Regelmäßigkeit der Gehaltszahlungen herzustellen. Man kann nicht er¬
warten, daß das Bakschischunwesen und die Erpressungen aufhören, wenn die
kleinen Beamten der Provinz, die doch auch für ihre Familie zu sorgen haben,
oft Monate lang anf ihre Besoldung warten müssen und häufig dieselbe gar¬
nicht erlangen.

So verblieben denn die Berichte und Entwürfe der nach Armenien ent¬
sendeten Kommissare als "schätzbares Material" bei den Akten der Reform-
tommissivn. Nirgends so sehr als hier zeigt es sich, daß das Bessere oft der
Feind des Guten ist. Weil man die Verwaltung aller Provinzen reformiren
wollte, geschah einstweilen nichts in Armenien; die wohlmeinende Absicht, die
Lage aller Christen im Reiche zu verbessern, verhinderte, daß einige ganz prae-


Rußland und die armenische Frage,

kurdischen Hammcldicbe verfahren nicht anders wie die mvntenegrinischen. Auch
sind die Armenier an diese unbequemen Nachbarn seit Jahrhunderten so sehr
gewöhnt, daß das Zusammenleben mit ihnen viel erträglicher wäre als die Er¬
pressungen und Bedrückungen der türkischen Beamten, die von der Zentralstelle
aus nicht kontrolirt werden können. Die Wünsche der Armenier sind daher
hauptsächlich darauf gerichtet, daß für ihre entlegene Provinz ein mit besondrer
Vollmacht ausgerüsteter Gouverneur ernannt werde, welcher Übergriffen der Be¬
amten steuert und im Lande Gerechtigkeit übt. So bescheiden dieser Wunsch
klingt, ist er bisher unerfüllt geblieben. Die Pforte hat mehrmals Kommissare
nach Armenien entsendet, welche das Land bereisen, die Notstände prüfen, Aus¬
schreitungen der Beamten bestrafen sollten. Diese Kommissare haben sich einige
Monate in den größeren Städten aufgehalten; die dortigen Malis haben dafür
gesorgt, daß sie nur das erfuhren, was ihren persönlichen Zwecken nützlich war.
Einige Beamten, welche es zu arg getrieben, wurden entlassen oder versetzt:
die meisten aber wußten sich das Verbleiben in ihren Stellen mit den in der
ganzen türkischen Hierarchie üblichen Mitteln zu erkaufen. Die Kommissare
kehrten dann mit einem umfangreichen Reformpläne zurück, der dem Sultan vor¬
gelegt und einer Spezialkommission zur Begutachtung überwiesen wurde. Diese
seind den Plan so vorzüglich, daß sie die Anwendung des Reformwerkes auch
für alle andern Teile des Reiches empfahl, und der Sultan eignete sich diese
Auffassung umso lieber an, als damit die „armenische Frage" in dem Meer der
allgemeinen Tagesfragen versank und so Ausnahmemaßregeln nicht nötig wurden,
welche immerhin als die Folge eines auswärtigen Druckes hätten erscheinen
müssen.

Eine solche Verallgemeinerung der Reformpläne fand auch stets die
freundliche Unterstützung der alttürkischen Partei; denn je umfangreicher das
Projekt auftrat, desto schwieriger und unwahrscheinlicher wurde seine Ausführung.
Die graubärtigen Kaftanträger im Palais wissen recht wohl, daß jede größere
administrative Reform an der Unbildung und Unzuverlässigkeit des türkischen
Beamtentums scheitern muß, daß es vor allem geordneter Finanzen bedürfte,
um eine Regelmäßigkeit der Gehaltszahlungen herzustellen. Man kann nicht er¬
warten, daß das Bakschischunwesen und die Erpressungen aufhören, wenn die
kleinen Beamten der Provinz, die doch auch für ihre Familie zu sorgen haben,
oft Monate lang anf ihre Besoldung warten müssen und häufig dieselbe gar¬
nicht erlangen.

So verblieben denn die Berichte und Entwürfe der nach Armenien ent¬
sendeten Kommissare als „schätzbares Material" bei den Akten der Reform-
tommissivn. Nirgends so sehr als hier zeigt es sich, daß das Bessere oft der
Feind des Guten ist. Weil man die Verwaltung aller Provinzen reformiren
wollte, geschah einstweilen nichts in Armenien; die wohlmeinende Absicht, die
Lage aller Christen im Reiche zu verbessern, verhinderte, daß einige ganz prae-


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[0497] Rußland und die armenische Frage, kurdischen Hammcldicbe verfahren nicht anders wie die mvntenegrinischen. Auch sind die Armenier an diese unbequemen Nachbarn seit Jahrhunderten so sehr gewöhnt, daß das Zusammenleben mit ihnen viel erträglicher wäre als die Er¬ pressungen und Bedrückungen der türkischen Beamten, die von der Zentralstelle aus nicht kontrolirt werden können. Die Wünsche der Armenier sind daher hauptsächlich darauf gerichtet, daß für ihre entlegene Provinz ein mit besondrer Vollmacht ausgerüsteter Gouverneur ernannt werde, welcher Übergriffen der Be¬ amten steuert und im Lande Gerechtigkeit übt. So bescheiden dieser Wunsch klingt, ist er bisher unerfüllt geblieben. Die Pforte hat mehrmals Kommissare nach Armenien entsendet, welche das Land bereisen, die Notstände prüfen, Aus¬ schreitungen der Beamten bestrafen sollten. Diese Kommissare haben sich einige Monate in den größeren Städten aufgehalten; die dortigen Malis haben dafür gesorgt, daß sie nur das erfuhren, was ihren persönlichen Zwecken nützlich war. Einige Beamten, welche es zu arg getrieben, wurden entlassen oder versetzt: die meisten aber wußten sich das Verbleiben in ihren Stellen mit den in der ganzen türkischen Hierarchie üblichen Mitteln zu erkaufen. Die Kommissare kehrten dann mit einem umfangreichen Reformpläne zurück, der dem Sultan vor¬ gelegt und einer Spezialkommission zur Begutachtung überwiesen wurde. Diese seind den Plan so vorzüglich, daß sie die Anwendung des Reformwerkes auch für alle andern Teile des Reiches empfahl, und der Sultan eignete sich diese Auffassung umso lieber an, als damit die „armenische Frage" in dem Meer der allgemeinen Tagesfragen versank und so Ausnahmemaßregeln nicht nötig wurden, welche immerhin als die Folge eines auswärtigen Druckes hätten erscheinen müssen. Eine solche Verallgemeinerung der Reformpläne fand auch stets die freundliche Unterstützung der alttürkischen Partei; denn je umfangreicher das Projekt auftrat, desto schwieriger und unwahrscheinlicher wurde seine Ausführung. Die graubärtigen Kaftanträger im Palais wissen recht wohl, daß jede größere administrative Reform an der Unbildung und Unzuverlässigkeit des türkischen Beamtentums scheitern muß, daß es vor allem geordneter Finanzen bedürfte, um eine Regelmäßigkeit der Gehaltszahlungen herzustellen. Man kann nicht er¬ warten, daß das Bakschischunwesen und die Erpressungen aufhören, wenn die kleinen Beamten der Provinz, die doch auch für ihre Familie zu sorgen haben, oft Monate lang anf ihre Besoldung warten müssen und häufig dieselbe gar¬ nicht erlangen. So verblieben denn die Berichte und Entwürfe der nach Armenien ent¬ sendeten Kommissare als „schätzbares Material" bei den Akten der Reform- tommissivn. Nirgends so sehr als hier zeigt es sich, daß das Bessere oft der Feind des Guten ist. Weil man die Verwaltung aller Provinzen reformiren wollte, geschah einstweilen nichts in Armenien; die wohlmeinende Absicht, die Lage aller Christen im Reiche zu verbessern, verhinderte, daß einige ganz prae-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/497>, abgerufen am 02.10.2024.