Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.Aus dem preußische" Landtage. in der Berliner Gesellschaft in erschrecklichem Maße, und die "Wiedergeburts- Der Landtag ist noch weit davon entfernt,, sein Pensum aufgearbeitet zu Am 4. März soll der Reichstag zusammentreten; wen" beide Körperschaften, Aus dem preußische» Landtage. in der Berliner Gesellschaft in erschrecklichem Maße, und die „Wiedergeburts- Der Landtag ist noch weit davon entfernt,, sein Pensum aufgearbeitet zu Am 4. März soll der Reichstag zusammentreten; wen» beide Körperschaften, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0474" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155357"/> <fw type="header" place="top"> Aus dem preußische» Landtage.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1875" prev="#ID_1874"> in der Berliner Gesellschaft in erschrecklichem Maße, und die „Wiedergeburts-<lb/> tümelei," das Renaissancefieber hat schon manchen und manche um ihr bischen<lb/> Verstand gebracht. Wenn man die verschwenderische Ausstattung betrachtet,<lb/> mit der jetzt Staats- und Gemcindebanten bedacht werden, so sollte man glauben,<lb/> daß wir „heldenmäßig viel Geld" hätten, was doch, wie nicht nur der Finanz¬<lb/> minister weiß, keineswegs der Fall ist. Der fortwährende Hinweis auf Paris<lb/> und London hat etwas Krankhaftes; den Vorsprung der Jahrhunderte, den die<lb/> beiden Hauptstädte vor Berlin voraus haben, kann die kaiserliche Residenzstadt<lb/> niemals einholen, und es liegt auch nicht der geringste Grund vor, sie dazu<lb/> anzuspornen. Berlin soll sich als deutsche Hauptstadt entwickeln und braucht<lb/> weder der Metropole an der Themse noch dem Seincbabel, dem Victor Hugosche»<lb/> „Hirn der Welt," nachzueifern. Diese Anfeuerung zum Wettstreit mit London<lb/> und Paris geht, das verdient nachdrücklichst hervorgehoben zu werden, auch nnr<lb/> in geringem Grade von den eingebornen Berlinern und den in der Hauptstadt<lb/> ansässigen Deutschen, sondern vorwiegend von den Mitgliedern der goldnen<lb/> Internationale und der ihr dienstbaren Presse aus.</p><lb/> <p xml:id="ID_1876"> Der Landtag ist noch weit davon entfernt,, sein Pensum aufgearbeitet zu<lb/> haben, und schon ertönen die Klagen wegen Überanstrengung; schon werden<lb/> Abendsitznngen abgehalten; die Kommissionen führen Beschwerde darüber, daß<lb/> ihnen zu wenig freie Zeit für ihre Arbeiten gelassen werde. Fünfzig Sitzungen<lb/> sind vorwiegend mit Redenhalten draufgcgangen, jetzt kommt die Beratung der<lb/> wichtigsten Vorlagen, der Steucrreformgesetze — wo das Land berechtigt ist,<lb/> an den Ernst, die Gewissenhaftigkeit und frische Arbeitskraft der Volksvertretung<lb/> die höchsten Anforderungen zu stellen —, und aus dem Abgeordnetenhause dringt<lb/> Stöhnen und Klagen zu uns über Arbcitsüberbürdung und Abspannung! An<lb/> wem liegt die Schuld dieser alljährlich wiederkehrenden Erscheinung? Die<lb/> Opposition ist natürlich mit der Antwort rasch bei der Hand: An der Regierung!<lb/> Woran wäre eine konservative Regierung in den Angen der Liberalen nicht schuld!<lb/> Alle Leute von unbefangenem Blick, deren gesundes Urteil noch nicht in dem<lb/> Parteitreuen untergegangen ist, stimmen jedoch darin überein, daß die Haupt¬<lb/> schuld an dem schleppenden Gange unsrer Parlamentsverhandlungen in der un¬<lb/> stillbaren Redelnst der Abgeordneten liegt, die es nicht Unterlasten können, einen<lb/> kleinen Kern von Thatsächlichen mit einem ungeheuer« Wortschwall zu umgeben.<lb/> Parlament kommt allerdings her von pg,rlg,rs, aber es ist doch ein großer Unter¬<lb/> schied, ob jemand sein Urteil über eine Vorlage kurz sachlich begründet, oder ob<lb/> er, so oft er sich zum Worte meldet, eine mehrstündige Rede hält. Die Führer<lb/> unsrer parlamentarischen Parteien halten das letztere für ihre unabänderliche<lb/> Pflicht und ihr unveräußerliches Recht. Kommt aber über dem ewigen Nede-<lb/> hnlten nichts zustande, müssen die geplagten Volksvertreter bis in den Juni<lb/> hinein tagen und Tag für Tag ihre fünfzehn Mark Diäten einstreichen — dann<lb/> wird in den Volksversammlungen der Regierung alle Schuld i» die Schuhe<lb/> geschoben, und kein Engel ist dann so rein, als die Mitglieder der Partei des<lb/> Herrn Abgeordneten, der gerade zu dem „Volke" spricht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1877"> Am 4. März soll der Reichstag zusammentreten; wen» beide Körperschaften,<lb/> die Vertretung des Reichs und die Preußens, wie es unter den jetzigen Ver¬<lb/> hältnisse» unausbleiblich ist, zusammen tagen, dann ist nur der Rentier, der<lb/> den ganzen Tag über nichts zu thun hat, aber auch uicht einmal die Koupou-<lb/> scheere in die Hand zu nehmen braucht, noch in der glücklichen Lage, die Par¬<lb/> lamentsverhandlungen von Anfang bis zu Ende verfolgen zu können.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0474]
Aus dem preußische» Landtage.
in der Berliner Gesellschaft in erschrecklichem Maße, und die „Wiedergeburts-
tümelei," das Renaissancefieber hat schon manchen und manche um ihr bischen
Verstand gebracht. Wenn man die verschwenderische Ausstattung betrachtet,
mit der jetzt Staats- und Gemcindebanten bedacht werden, so sollte man glauben,
daß wir „heldenmäßig viel Geld" hätten, was doch, wie nicht nur der Finanz¬
minister weiß, keineswegs der Fall ist. Der fortwährende Hinweis auf Paris
und London hat etwas Krankhaftes; den Vorsprung der Jahrhunderte, den die
beiden Hauptstädte vor Berlin voraus haben, kann die kaiserliche Residenzstadt
niemals einholen, und es liegt auch nicht der geringste Grund vor, sie dazu
anzuspornen. Berlin soll sich als deutsche Hauptstadt entwickeln und braucht
weder der Metropole an der Themse noch dem Seincbabel, dem Victor Hugosche»
„Hirn der Welt," nachzueifern. Diese Anfeuerung zum Wettstreit mit London
und Paris geht, das verdient nachdrücklichst hervorgehoben zu werden, auch nnr
in geringem Grade von den eingebornen Berlinern und den in der Hauptstadt
ansässigen Deutschen, sondern vorwiegend von den Mitgliedern der goldnen
Internationale und der ihr dienstbaren Presse aus.
Der Landtag ist noch weit davon entfernt,, sein Pensum aufgearbeitet zu
haben, und schon ertönen die Klagen wegen Überanstrengung; schon werden
Abendsitznngen abgehalten; die Kommissionen führen Beschwerde darüber, daß
ihnen zu wenig freie Zeit für ihre Arbeiten gelassen werde. Fünfzig Sitzungen
sind vorwiegend mit Redenhalten draufgcgangen, jetzt kommt die Beratung der
wichtigsten Vorlagen, der Steucrreformgesetze — wo das Land berechtigt ist,
an den Ernst, die Gewissenhaftigkeit und frische Arbeitskraft der Volksvertretung
die höchsten Anforderungen zu stellen —, und aus dem Abgeordnetenhause dringt
Stöhnen und Klagen zu uns über Arbcitsüberbürdung und Abspannung! An
wem liegt die Schuld dieser alljährlich wiederkehrenden Erscheinung? Die
Opposition ist natürlich mit der Antwort rasch bei der Hand: An der Regierung!
Woran wäre eine konservative Regierung in den Angen der Liberalen nicht schuld!
Alle Leute von unbefangenem Blick, deren gesundes Urteil noch nicht in dem
Parteitreuen untergegangen ist, stimmen jedoch darin überein, daß die Haupt¬
schuld an dem schleppenden Gange unsrer Parlamentsverhandlungen in der un¬
stillbaren Redelnst der Abgeordneten liegt, die es nicht Unterlasten können, einen
kleinen Kern von Thatsächlichen mit einem ungeheuer« Wortschwall zu umgeben.
Parlament kommt allerdings her von pg,rlg,rs, aber es ist doch ein großer Unter¬
schied, ob jemand sein Urteil über eine Vorlage kurz sachlich begründet, oder ob
er, so oft er sich zum Worte meldet, eine mehrstündige Rede hält. Die Führer
unsrer parlamentarischen Parteien halten das letztere für ihre unabänderliche
Pflicht und ihr unveräußerliches Recht. Kommt aber über dem ewigen Nede-
hnlten nichts zustande, müssen die geplagten Volksvertreter bis in den Juni
hinein tagen und Tag für Tag ihre fünfzehn Mark Diäten einstreichen — dann
wird in den Volksversammlungen der Regierung alle Schuld i» die Schuhe
geschoben, und kein Engel ist dann so rein, als die Mitglieder der Partei des
Herrn Abgeordneten, der gerade zu dem „Volke" spricht.
Am 4. März soll der Reichstag zusammentreten; wen» beide Körperschaften,
die Vertretung des Reichs und die Preußens, wie es unter den jetzigen Ver¬
hältnisse» unausbleiblich ist, zusammen tagen, dann ist nur der Rentier, der
den ganzen Tag über nichts zu thun hat, aber auch uicht einmal die Koupou-
scheere in die Hand zu nehmen braucht, noch in der glücklichen Lage, die Par¬
lamentsverhandlungen von Anfang bis zu Ende verfolgen zu können.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |