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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Sie deutsche Universität?-Entwicklung in den letzten fünfzig Jahre".

seltener als früher sich dem Studium der Theologie widmen. Neben diesen
äußern Gründe" haben der allgemein weniger rege kirchliche Sinn der gebil¬
deten sowohl als der innern Klassen, der sich schon auf den Schulen breit¬
machende skeptische Zeitgeist, in Preußen auch die intolerante Haltung der obersten
Kirchcnbehörde, welche die Geistlichen für jede Abweichung vom Dogma mit
rigoroser Strenge zur Verantwortung zog, zu der Verminderung beigetragen.
Daß dann in den letzten Jahren sich wieder ein lebhafter Andrang zum theo¬
logischen Studium gezeigt hat, erklärt sich aus dem "konservativen Zuge, der
unzweifelhaft über unser Vaterland hingeht, aus der Reaktion gegen die Un-
kirchlichkeit der letzten Dezennien, in der man die Hauptquelle der sozialdemo¬
kratischen, roh materialistischen Rcvolutionsbewegung unsrer Zeit in den untern
Klassen sieht."

In der Juristenfatnltüt hat die Zahl der Studenten sich von 3235 auf
5245 gehoben, d. h. während früher auf 100 000 Einwohner 10,4 Studirende
kamen, werden gegenwärtig 11,6 gerechnet. Von der gesamten Universität machten
die Juristen vor fünfzig Jahren 27 Prozent, jetzt 24 Prozent aus. Gerade
in diesem Wissenszweige sind sehr erhebliche Schwankungen zu registriren. Wenn
anch die Maximalziffer von 5426 Juristen im Sommersemestcr 1883 noch nie
vorher erreicht war, so kommt, abgesehen vom letzten Jahrzehnt, wo die Fre¬
quenz eben im Steigen begriffen ist, schon in den dreißiger Jahren ein ähn¬
licher Andrang vor. Im Wintersemester 1830/31 studirten 4581 Juristen, d. h.
etwa 15 auf 10V 000 Einwohner, ein Verhältnis, hinter welchem die Gegen¬
wart glücklicherweise zurückbleibt. Das heutige Verhältnis ist dasselbe, wie es
sich im Durchschnitt der Semester 1846/47 bis 1856 zeigt. Dann sank die
Zahl der Juristen bis ans 4000--4100, d. h. 7,4 ans 100000 Einwohner,
hatte im Kriegsjahre 1870/71 einen sehr niedrigen Stand mit 2536, und ging
dann schnell bis zu der namhaft gemachten Höhe empor.

Exakte Untersuchungen über die Zahl der Studenten, welche ihre Examina
absolviren und es bis zu einer ihren juristischen Kenntnissen entsprechenden
Stellung bringen, sowie über den Bedarf des Staates an juristisch gebildeten
Persönlichkeiten lassen sich für das deutsche Reich nicht anstellen. Für Preußen
gelangt Professor Conrad dazu, eine "kaum dagewesene Überfülle" anzunehmen,
denn seit 1876/80 stehen einem jährlichen Angebote von etwa 300 erledigten Plätzen
354 Aspiranten, seit 1880 mehr als 500 gegenüber. Diesem Übelstande könnte
natürlich eine Verschärfung der Prüfungsbedingungeu am zweckmäßigsten abhelfen.
Es müßte das Qnadriennium eingeführt und auf diese Weise z. B. dem Stu¬
dium der Nationalökonomie und Statistik ein breiterer Raum gegönnt werden,
als es bisher wenigstens in Preußen der Fall war.

Die Zahl der Mediziner stieg in fünfzig Jahren von 2508 ans 4563, d. h.
von 8 Studenten unter 100000 Einwohnern uns 10, eine Zunahme, die wohl
als eine mäßige bezeichnet werden darf. Die Nachfrage nach ärztlicher Für-


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seltener als früher sich dem Studium der Theologie widmen. Neben diesen
äußern Gründe» haben der allgemein weniger rege kirchliche Sinn der gebil¬
deten sowohl als der innern Klassen, der sich schon auf den Schulen breit¬
machende skeptische Zeitgeist, in Preußen auch die intolerante Haltung der obersten
Kirchcnbehörde, welche die Geistlichen für jede Abweichung vom Dogma mit
rigoroser Strenge zur Verantwortung zog, zu der Verminderung beigetragen.
Daß dann in den letzten Jahren sich wieder ein lebhafter Andrang zum theo¬
logischen Studium gezeigt hat, erklärt sich aus dem „konservativen Zuge, der
unzweifelhaft über unser Vaterland hingeht, aus der Reaktion gegen die Un-
kirchlichkeit der letzten Dezennien, in der man die Hauptquelle der sozialdemo¬
kratischen, roh materialistischen Rcvolutionsbewegung unsrer Zeit in den untern
Klassen sieht."

In der Juristenfatnltüt hat die Zahl der Studenten sich von 3235 auf
5245 gehoben, d. h. während früher auf 100 000 Einwohner 10,4 Studirende
kamen, werden gegenwärtig 11,6 gerechnet. Von der gesamten Universität machten
die Juristen vor fünfzig Jahren 27 Prozent, jetzt 24 Prozent aus. Gerade
in diesem Wissenszweige sind sehr erhebliche Schwankungen zu registriren. Wenn
anch die Maximalziffer von 5426 Juristen im Sommersemestcr 1883 noch nie
vorher erreicht war, so kommt, abgesehen vom letzten Jahrzehnt, wo die Fre¬
quenz eben im Steigen begriffen ist, schon in den dreißiger Jahren ein ähn¬
licher Andrang vor. Im Wintersemester 1830/31 studirten 4581 Juristen, d. h.
etwa 15 auf 10V 000 Einwohner, ein Verhältnis, hinter welchem die Gegen¬
wart glücklicherweise zurückbleibt. Das heutige Verhältnis ist dasselbe, wie es
sich im Durchschnitt der Semester 1846/47 bis 1856 zeigt. Dann sank die
Zahl der Juristen bis ans 4000—4100, d. h. 7,4 ans 100000 Einwohner,
hatte im Kriegsjahre 1870/71 einen sehr niedrigen Stand mit 2536, und ging
dann schnell bis zu der namhaft gemachten Höhe empor.

Exakte Untersuchungen über die Zahl der Studenten, welche ihre Examina
absolviren und es bis zu einer ihren juristischen Kenntnissen entsprechenden
Stellung bringen, sowie über den Bedarf des Staates an juristisch gebildeten
Persönlichkeiten lassen sich für das deutsche Reich nicht anstellen. Für Preußen
gelangt Professor Conrad dazu, eine „kaum dagewesene Überfülle" anzunehmen,
denn seit 1876/80 stehen einem jährlichen Angebote von etwa 300 erledigten Plätzen
354 Aspiranten, seit 1880 mehr als 500 gegenüber. Diesem Übelstande könnte
natürlich eine Verschärfung der Prüfungsbedingungeu am zweckmäßigsten abhelfen.
Es müßte das Qnadriennium eingeführt und auf diese Weise z. B. dem Stu¬
dium der Nationalökonomie und Statistik ein breiterer Raum gegönnt werden,
als es bisher wenigstens in Preußen der Fall war.

Die Zahl der Mediziner stieg in fünfzig Jahren von 2508 ans 4563, d. h.
von 8 Studenten unter 100000 Einwohnern uns 10, eine Zunahme, die wohl
als eine mäßige bezeichnet werden darf. Die Nachfrage nach ärztlicher Für-


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[0461] Sie deutsche Universität?-Entwicklung in den letzten fünfzig Jahre». seltener als früher sich dem Studium der Theologie widmen. Neben diesen äußern Gründe» haben der allgemein weniger rege kirchliche Sinn der gebil¬ deten sowohl als der innern Klassen, der sich schon auf den Schulen breit¬ machende skeptische Zeitgeist, in Preußen auch die intolerante Haltung der obersten Kirchcnbehörde, welche die Geistlichen für jede Abweichung vom Dogma mit rigoroser Strenge zur Verantwortung zog, zu der Verminderung beigetragen. Daß dann in den letzten Jahren sich wieder ein lebhafter Andrang zum theo¬ logischen Studium gezeigt hat, erklärt sich aus dem „konservativen Zuge, der unzweifelhaft über unser Vaterland hingeht, aus der Reaktion gegen die Un- kirchlichkeit der letzten Dezennien, in der man die Hauptquelle der sozialdemo¬ kratischen, roh materialistischen Rcvolutionsbewegung unsrer Zeit in den untern Klassen sieht." In der Juristenfatnltüt hat die Zahl der Studenten sich von 3235 auf 5245 gehoben, d. h. während früher auf 100 000 Einwohner 10,4 Studirende kamen, werden gegenwärtig 11,6 gerechnet. Von der gesamten Universität machten die Juristen vor fünfzig Jahren 27 Prozent, jetzt 24 Prozent aus. Gerade in diesem Wissenszweige sind sehr erhebliche Schwankungen zu registriren. Wenn anch die Maximalziffer von 5426 Juristen im Sommersemestcr 1883 noch nie vorher erreicht war, so kommt, abgesehen vom letzten Jahrzehnt, wo die Fre¬ quenz eben im Steigen begriffen ist, schon in den dreißiger Jahren ein ähn¬ licher Andrang vor. Im Wintersemester 1830/31 studirten 4581 Juristen, d. h. etwa 15 auf 10V 000 Einwohner, ein Verhältnis, hinter welchem die Gegen¬ wart glücklicherweise zurückbleibt. Das heutige Verhältnis ist dasselbe, wie es sich im Durchschnitt der Semester 1846/47 bis 1856 zeigt. Dann sank die Zahl der Juristen bis ans 4000—4100, d. h. 7,4 ans 100000 Einwohner, hatte im Kriegsjahre 1870/71 einen sehr niedrigen Stand mit 2536, und ging dann schnell bis zu der namhaft gemachten Höhe empor. Exakte Untersuchungen über die Zahl der Studenten, welche ihre Examina absolviren und es bis zu einer ihren juristischen Kenntnissen entsprechenden Stellung bringen, sowie über den Bedarf des Staates an juristisch gebildeten Persönlichkeiten lassen sich für das deutsche Reich nicht anstellen. Für Preußen gelangt Professor Conrad dazu, eine „kaum dagewesene Überfülle" anzunehmen, denn seit 1876/80 stehen einem jährlichen Angebote von etwa 300 erledigten Plätzen 354 Aspiranten, seit 1880 mehr als 500 gegenüber. Diesem Übelstande könnte natürlich eine Verschärfung der Prüfungsbedingungeu am zweckmäßigsten abhelfen. Es müßte das Qnadriennium eingeführt und auf diese Weise z. B. dem Stu¬ dium der Nationalökonomie und Statistik ein breiterer Raum gegönnt werden, als es bisher wenigstens in Preußen der Fall war. Die Zahl der Mediziner stieg in fünfzig Jahren von 2508 ans 4563, d. h. von 8 Studenten unter 100000 Einwohnern uns 10, eine Zunahme, die wohl als eine mäßige bezeichnet werden darf. Die Nachfrage nach ärztlicher Für-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/461>, abgerufen am 22.06.2024.