Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die jüdische Einwanderung in Deutschland.

flügeln, und diese zugezogenen Juden dürften größtenteils den früher polnischen
Landschaften der Provinzen Posen und Westpreußen angehört haben, also
polnische Juden gewesen sein. Zugleich machen es die ununterbrochen fort¬
dauernden Mehrzuzüge der Juden in die östlichsten Gebiete der preußischen
Monarchie im hohen Grade wahrscheinlich, daß auch die jenseits der östlichen
Grenzen des deutschen Reiches lebenden und durch ihre große Zahl dort noch
mehr als diesseits bedrängten Juden dem Zuge ihrer Stammgenossen nach
Westen gefolgt sind und sich in erheblicher Menge bei uns niedergelassen haben
und noch heute niederlassen. Wer einzelnes über die Herkunft der semitischen
Bevölkerung in den Städten Memel, Königsberg, Danzig und Thorn kennt,
wird diese Annahme bestätigen müssen. Auch ist es ja statistisch festgestellt,
daß in mehreren Städten, z. B. in Memel, die Zahl der hier ansässigen, nicht
in Deutschland geborenen Juden eine sehr beträchtliche ist. Im letztgenannten
Orte befanden sich im Jahre 1871 neben 412 in Preußen geborenen 630 ans
Rußland oder Galizien stammende, und ähnliches ist von Leipzig zu sagen,
wo man (nach Hasse, Stadt Leipzig 1878, S. 149) neben 587 am Orte ge¬
borenen Juden 570 zählte, die aus Galizien, Rußland, Schlesien, Böhmen
und Posen eingewandert waren. "Bei Ermessung des Umfangs dieser jüdischen
Zuzüge darf übrigens nicht außer Acht gelassen werden, daß jene z, B. für
Ostpreußen und den Regierungsbezirk Breslau gegebenen Zahlen eben nur den
Mehrzuzug, genauer den Überschuß der Zuzüge über die Wegzuge charakterisiren,
und letztere gewiß nicht unbedeutend gewesen sind, wenn z. B. die benachbarten
Gebiete von Posen, Liegnitz und Oppeln gerade so starke Abzüge von Juden
aufzuweisen hatten." Die "Fabel von der jüdischen Masseneinwanderung" ist
also wenigstens nicht in dem Maße Fabel, als dies Herr Professor Mommsen,
jüdischen Behauptungen folgend, Treitschke gegenüber wissen wollte.

Noch entschiedener und schlagender werden Mommsen und sein Gewährs¬
mann, der Sanitätsrat Salomon Neumann, widerlegt, Treitschke und Wagner
(Tübinger Zeitschrift 1880, S. 776) gerechtfertigt durch die im 66. Bande der
Preußischen Statistik von 1883 enthaltenen definitiven Ergebnisse der Volkszäh¬
lung von 1880. Darnach befanden sich, was insbesondre 1. den Zuzug vou
Juden aus Rußland und Osterreich nach dem deutschen Reiche betrifft,
in Königsberg z. B. im Jahre 1880 unter tausend Christen nnr drei bis vier
in Rußland geborne, dagegen unter tausend Juden über dreihundert, die aus
Rußland stammten. Desgleichen waren nach diesen statistischen Nachweisungen
in Rußland geboren:

unter je 1000 Christenunter je 1000 Juden
in Tilsitg275,
" Thorn31152,
" Danzig3SV,
" Bromberg838,

Die jüdische Einwanderung in Deutschland.

flügeln, und diese zugezogenen Juden dürften größtenteils den früher polnischen
Landschaften der Provinzen Posen und Westpreußen angehört haben, also
polnische Juden gewesen sein. Zugleich machen es die ununterbrochen fort¬
dauernden Mehrzuzüge der Juden in die östlichsten Gebiete der preußischen
Monarchie im hohen Grade wahrscheinlich, daß auch die jenseits der östlichen
Grenzen des deutschen Reiches lebenden und durch ihre große Zahl dort noch
mehr als diesseits bedrängten Juden dem Zuge ihrer Stammgenossen nach
Westen gefolgt sind und sich in erheblicher Menge bei uns niedergelassen haben
und noch heute niederlassen. Wer einzelnes über die Herkunft der semitischen
Bevölkerung in den Städten Memel, Königsberg, Danzig und Thorn kennt,
wird diese Annahme bestätigen müssen. Auch ist es ja statistisch festgestellt,
daß in mehreren Städten, z. B. in Memel, die Zahl der hier ansässigen, nicht
in Deutschland geborenen Juden eine sehr beträchtliche ist. Im letztgenannten
Orte befanden sich im Jahre 1871 neben 412 in Preußen geborenen 630 ans
Rußland oder Galizien stammende, und ähnliches ist von Leipzig zu sagen,
wo man (nach Hasse, Stadt Leipzig 1878, S. 149) neben 587 am Orte ge¬
borenen Juden 570 zählte, die aus Galizien, Rußland, Schlesien, Böhmen
und Posen eingewandert waren. „Bei Ermessung des Umfangs dieser jüdischen
Zuzüge darf übrigens nicht außer Acht gelassen werden, daß jene z, B. für
Ostpreußen und den Regierungsbezirk Breslau gegebenen Zahlen eben nur den
Mehrzuzug, genauer den Überschuß der Zuzüge über die Wegzuge charakterisiren,
und letztere gewiß nicht unbedeutend gewesen sind, wenn z. B. die benachbarten
Gebiete von Posen, Liegnitz und Oppeln gerade so starke Abzüge von Juden
aufzuweisen hatten." Die „Fabel von der jüdischen Masseneinwanderung" ist
also wenigstens nicht in dem Maße Fabel, als dies Herr Professor Mommsen,
jüdischen Behauptungen folgend, Treitschke gegenüber wissen wollte.

Noch entschiedener und schlagender werden Mommsen und sein Gewährs¬
mann, der Sanitätsrat Salomon Neumann, widerlegt, Treitschke und Wagner
(Tübinger Zeitschrift 1880, S. 776) gerechtfertigt durch die im 66. Bande der
Preußischen Statistik von 1883 enthaltenen definitiven Ergebnisse der Volkszäh¬
lung von 1880. Darnach befanden sich, was insbesondre 1. den Zuzug vou
Juden aus Rußland und Osterreich nach dem deutschen Reiche betrifft,
in Königsberg z. B. im Jahre 1880 unter tausend Christen nnr drei bis vier
in Rußland geborne, dagegen unter tausend Juden über dreihundert, die aus
Rußland stammten. Desgleichen waren nach diesen statistischen Nachweisungen
in Rußland geboren:

unter je 1000 Christenunter je 1000 Juden
in Tilsitg275,
„ Thorn31152,
„ Danzig3SV,
„ Bromberg838,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0294" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155177"/>
          <fw type="header" place="top"> Die jüdische Einwanderung in Deutschland.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1190" prev="#ID_1189"> flügeln, und diese zugezogenen Juden dürften größtenteils den früher polnischen<lb/>
Landschaften der Provinzen Posen und Westpreußen angehört haben, also<lb/>
polnische Juden gewesen sein. Zugleich machen es die ununterbrochen fort¬<lb/>
dauernden Mehrzuzüge der Juden in die östlichsten Gebiete der preußischen<lb/>
Monarchie im hohen Grade wahrscheinlich, daß auch die jenseits der östlichen<lb/>
Grenzen des deutschen Reiches lebenden und durch ihre große Zahl dort noch<lb/>
mehr als diesseits bedrängten Juden dem Zuge ihrer Stammgenossen nach<lb/>
Westen gefolgt sind und sich in erheblicher Menge bei uns niedergelassen haben<lb/>
und noch heute niederlassen. Wer einzelnes über die Herkunft der semitischen<lb/>
Bevölkerung in den Städten Memel, Königsberg, Danzig und Thorn kennt,<lb/>
wird diese Annahme bestätigen müssen. Auch ist es ja statistisch festgestellt,<lb/>
daß in mehreren Städten, z. B. in Memel, die Zahl der hier ansässigen, nicht<lb/>
in Deutschland geborenen Juden eine sehr beträchtliche ist. Im letztgenannten<lb/>
Orte befanden sich im Jahre 1871 neben 412 in Preußen geborenen 630 ans<lb/>
Rußland oder Galizien stammende, und ähnliches ist von Leipzig zu sagen,<lb/>
wo man (nach Hasse, Stadt Leipzig 1878, S. 149) neben 587 am Orte ge¬<lb/>
borenen Juden 570 zählte, die aus Galizien, Rußland, Schlesien, Böhmen<lb/>
und Posen eingewandert waren. &#x201E;Bei Ermessung des Umfangs dieser jüdischen<lb/>
Zuzüge darf übrigens nicht außer Acht gelassen werden, daß jene z, B. für<lb/>
Ostpreußen und den Regierungsbezirk Breslau gegebenen Zahlen eben nur den<lb/>
Mehrzuzug, genauer den Überschuß der Zuzüge über die Wegzuge charakterisiren,<lb/>
und letztere gewiß nicht unbedeutend gewesen sind, wenn z. B. die benachbarten<lb/>
Gebiete von Posen, Liegnitz und Oppeln gerade so starke Abzüge von Juden<lb/>
aufzuweisen hatten." Die &#x201E;Fabel von der jüdischen Masseneinwanderung" ist<lb/>
also wenigstens nicht in dem Maße Fabel, als dies Herr Professor Mommsen,<lb/>
jüdischen Behauptungen folgend, Treitschke gegenüber wissen wollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1191"> Noch entschiedener und schlagender werden Mommsen und sein Gewährs¬<lb/>
mann, der Sanitätsrat Salomon Neumann, widerlegt, Treitschke und Wagner<lb/>
(Tübinger Zeitschrift 1880, S. 776) gerechtfertigt durch die im 66. Bande der<lb/>
Preußischen Statistik von 1883 enthaltenen definitiven Ergebnisse der Volkszäh¬<lb/>
lung von 1880. Darnach befanden sich, was insbesondre 1. den Zuzug vou<lb/>
Juden aus Rußland und Osterreich nach dem deutschen Reiche betrifft,<lb/>
in Königsberg z. B. im Jahre 1880 unter tausend Christen nnr drei bis vier<lb/>
in Rußland geborne, dagegen unter tausend Juden über dreihundert, die aus<lb/>
Rußland stammten. Desgleichen waren nach diesen statistischen Nachweisungen<lb/>
in Rußland geboren:</p><lb/>
          <list>
            <item> unter je 1000 Christenunter je 1000 Juden</item>
            <item> in Tilsitg275,</item>
            <item> &#x201E; Thorn31152,</item>
            <item> &#x201E; Danzig3SV,</item>
            <item> &#x201E; Bromberg838,</item>
          </list><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0294] Die jüdische Einwanderung in Deutschland. flügeln, und diese zugezogenen Juden dürften größtenteils den früher polnischen Landschaften der Provinzen Posen und Westpreußen angehört haben, also polnische Juden gewesen sein. Zugleich machen es die ununterbrochen fort¬ dauernden Mehrzuzüge der Juden in die östlichsten Gebiete der preußischen Monarchie im hohen Grade wahrscheinlich, daß auch die jenseits der östlichen Grenzen des deutschen Reiches lebenden und durch ihre große Zahl dort noch mehr als diesseits bedrängten Juden dem Zuge ihrer Stammgenossen nach Westen gefolgt sind und sich in erheblicher Menge bei uns niedergelassen haben und noch heute niederlassen. Wer einzelnes über die Herkunft der semitischen Bevölkerung in den Städten Memel, Königsberg, Danzig und Thorn kennt, wird diese Annahme bestätigen müssen. Auch ist es ja statistisch festgestellt, daß in mehreren Städten, z. B. in Memel, die Zahl der hier ansässigen, nicht in Deutschland geborenen Juden eine sehr beträchtliche ist. Im letztgenannten Orte befanden sich im Jahre 1871 neben 412 in Preußen geborenen 630 ans Rußland oder Galizien stammende, und ähnliches ist von Leipzig zu sagen, wo man (nach Hasse, Stadt Leipzig 1878, S. 149) neben 587 am Orte ge¬ borenen Juden 570 zählte, die aus Galizien, Rußland, Schlesien, Böhmen und Posen eingewandert waren. „Bei Ermessung des Umfangs dieser jüdischen Zuzüge darf übrigens nicht außer Acht gelassen werden, daß jene z, B. für Ostpreußen und den Regierungsbezirk Breslau gegebenen Zahlen eben nur den Mehrzuzug, genauer den Überschuß der Zuzüge über die Wegzuge charakterisiren, und letztere gewiß nicht unbedeutend gewesen sind, wenn z. B. die benachbarten Gebiete von Posen, Liegnitz und Oppeln gerade so starke Abzüge von Juden aufzuweisen hatten." Die „Fabel von der jüdischen Masseneinwanderung" ist also wenigstens nicht in dem Maße Fabel, als dies Herr Professor Mommsen, jüdischen Behauptungen folgend, Treitschke gegenüber wissen wollte. Noch entschiedener und schlagender werden Mommsen und sein Gewährs¬ mann, der Sanitätsrat Salomon Neumann, widerlegt, Treitschke und Wagner (Tübinger Zeitschrift 1880, S. 776) gerechtfertigt durch die im 66. Bande der Preußischen Statistik von 1883 enthaltenen definitiven Ergebnisse der Volkszäh¬ lung von 1880. Darnach befanden sich, was insbesondre 1. den Zuzug vou Juden aus Rußland und Osterreich nach dem deutschen Reiche betrifft, in Königsberg z. B. im Jahre 1880 unter tausend Christen nnr drei bis vier in Rußland geborne, dagegen unter tausend Juden über dreihundert, die aus Rußland stammten. Desgleichen waren nach diesen statistischen Nachweisungen in Rußland geboren: unter je 1000 Christenunter je 1000 Juden in Tilsitg275, „ Thorn31152, „ Danzig3SV, „ Bromberg838,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/294
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/294>, abgerufen am 22.07.2024.