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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Ein Vorläufer kassalles.

Dieselbe Gleichheitstcndenz hat noch andre Verkehrtheiten zur Folge. Da
für jede Stunde Arbeitszeit, gleichviel in welchem Fache sie geleistet wird, gleich¬
viel Lohn gezahlt wird, so ist es natürlich, daß alles sich zu den leichten und
angenehmen Geschäften drängen wird, Ani dem vorzubeugen, bestimmt Weitling,
daß, je größer der Andrang zu einem Gewerbszweige werde, desto schwerer
das Zulassungsexamen gemacht werden solle. Die Folge davon würde aber
die sein, daß die Fähigsten in den leichtesten Fächern und die Dümmsten in
den schwierigsten untergebracht würden, während doch das Umgekehrte stattfinden
sollte: daß nämlich, je schwerer ein Geschüft, desto befähigter der Geschäftsmann
sein müsse. Allerdings würde das eben nur dadurch durchzuführen sein, daß
die Arbeiten, welche größere Ansprüche an den Arbeiter stellen, auch entsprechend
besser gelohnt werden. Und das muß ja bei Weitling, der Gleichheit zu Liebe,
schlechterdings vermiede" werden!

Unser Kommunist thut sich endlich viel darauf zu Gute, daß es in seinem
Staate keine Verbrechen und Strafen gebe; diese seien nur eine Folge der
heutige" gesellschaftlichen Unordnung. Sein Staat kenne nur Krankheiten und
Heilmittel. Sollten diese Worte einen Sinn haben, so muß doch das Wort
"Krankheit" im Sozialstaat dasselbe bezeichnen wie in der heutigen Gesellschaft.
Weitling aber hat diese Bedeutung des Wortes nicht festgehalten, sondern es
einer unnatürlichen Erweiterung unterworfen. Als "Kranke" sieht er nicht nur
alle diejenigen an, die heute als solche bezeichnet werden, sondern auch die
"Seelen"- und "Begierde"-Kranken, sowie jeden, welcher die zum Wohle aller
festgesetzten Regeln zu umgehen sucht und dadurch die Harmonie des Ganzen
stört. Also das, was heute "Verbrechen" ist, heißt im Sozialstaate "Krank¬
heit"; und was heute "Strafe" ist, wird im Zukunftsstaate "Behandlung
des Kranken" sein, und diese ist sehr streng. Man sieht, Weitling hat nnr
den Namen geändert, nicht die Sache. Übrigens -- welch prächtiges Mittel
für die herrschende Partei des Sozialstaats, einfach die Opponenten, als gegen
die auf das Wohl aller hinzielenden Rechte handelnd, als "Kranke" in die
Spitäler stecken zu lassen!

Wir glauben übrigens, daß in einem Svzialstaate wirklich die Verbrechen
gegen das Eigentum aufhören werde", einfach deshalb, weil jeder Einzelne
durch seine Arbeit sich seinen Lebensunterhalt verdienen kann und im Grunde
ein irgend bedeutenderes Vermögen sich bei keinem Menschen vorfinden würde.
Indessen ist dies aus der in diesem Punkte geradezu konfusen Darstellung
Weitlings nicht recht ersichtlich.

Die Bevölkerungsfrage, welche für jeden Sozialstaat so wichtig ist, wird
von Weitling kaum erwogen. Wenn die Übervölkerung da ist, meint unser
Kommunist, ist es immer noch Zeit, ihr abzuhelfen.

Wir betrachten endlich noch Weitlings Vorschläge zum Übergang in den
Sozialstaat. Damit Sozialreformer im Wcitlingschen Sinne die Regierung in


Ein Vorläufer kassalles.

Dieselbe Gleichheitstcndenz hat noch andre Verkehrtheiten zur Folge. Da
für jede Stunde Arbeitszeit, gleichviel in welchem Fache sie geleistet wird, gleich¬
viel Lohn gezahlt wird, so ist es natürlich, daß alles sich zu den leichten und
angenehmen Geschäften drängen wird, Ani dem vorzubeugen, bestimmt Weitling,
daß, je größer der Andrang zu einem Gewerbszweige werde, desto schwerer
das Zulassungsexamen gemacht werden solle. Die Folge davon würde aber
die sein, daß die Fähigsten in den leichtesten Fächern und die Dümmsten in
den schwierigsten untergebracht würden, während doch das Umgekehrte stattfinden
sollte: daß nämlich, je schwerer ein Geschüft, desto befähigter der Geschäftsmann
sein müsse. Allerdings würde das eben nur dadurch durchzuführen sein, daß
die Arbeiten, welche größere Ansprüche an den Arbeiter stellen, auch entsprechend
besser gelohnt werden. Und das muß ja bei Weitling, der Gleichheit zu Liebe,
schlechterdings vermiede» werden!

Unser Kommunist thut sich endlich viel darauf zu Gute, daß es in seinem
Staate keine Verbrechen und Strafen gebe; diese seien nur eine Folge der
heutige» gesellschaftlichen Unordnung. Sein Staat kenne nur Krankheiten und
Heilmittel. Sollten diese Worte einen Sinn haben, so muß doch das Wort
„Krankheit" im Sozialstaat dasselbe bezeichnen wie in der heutigen Gesellschaft.
Weitling aber hat diese Bedeutung des Wortes nicht festgehalten, sondern es
einer unnatürlichen Erweiterung unterworfen. Als „Kranke" sieht er nicht nur
alle diejenigen an, die heute als solche bezeichnet werden, sondern auch die
„Seelen"- und „Begierde"-Kranken, sowie jeden, welcher die zum Wohle aller
festgesetzten Regeln zu umgehen sucht und dadurch die Harmonie des Ganzen
stört. Also das, was heute „Verbrechen" ist, heißt im Sozialstaate „Krank¬
heit"; und was heute „Strafe" ist, wird im Zukunftsstaate „Behandlung
des Kranken" sein, und diese ist sehr streng. Man sieht, Weitling hat nnr
den Namen geändert, nicht die Sache. Übrigens — welch prächtiges Mittel
für die herrschende Partei des Sozialstaats, einfach die Opponenten, als gegen
die auf das Wohl aller hinzielenden Rechte handelnd, als „Kranke" in die
Spitäler stecken zu lassen!

Wir glauben übrigens, daß in einem Svzialstaate wirklich die Verbrechen
gegen das Eigentum aufhören werde», einfach deshalb, weil jeder Einzelne
durch seine Arbeit sich seinen Lebensunterhalt verdienen kann und im Grunde
ein irgend bedeutenderes Vermögen sich bei keinem Menschen vorfinden würde.
Indessen ist dies aus der in diesem Punkte geradezu konfusen Darstellung
Weitlings nicht recht ersichtlich.

Die Bevölkerungsfrage, welche für jeden Sozialstaat so wichtig ist, wird
von Weitling kaum erwogen. Wenn die Übervölkerung da ist, meint unser
Kommunist, ist es immer noch Zeit, ihr abzuhelfen.

Wir betrachten endlich noch Weitlings Vorschläge zum Übergang in den
Sozialstaat. Damit Sozialreformer im Wcitlingschen Sinne die Regierung in


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[0264] Ein Vorläufer kassalles. Dieselbe Gleichheitstcndenz hat noch andre Verkehrtheiten zur Folge. Da für jede Stunde Arbeitszeit, gleichviel in welchem Fache sie geleistet wird, gleich¬ viel Lohn gezahlt wird, so ist es natürlich, daß alles sich zu den leichten und angenehmen Geschäften drängen wird, Ani dem vorzubeugen, bestimmt Weitling, daß, je größer der Andrang zu einem Gewerbszweige werde, desto schwerer das Zulassungsexamen gemacht werden solle. Die Folge davon würde aber die sein, daß die Fähigsten in den leichtesten Fächern und die Dümmsten in den schwierigsten untergebracht würden, während doch das Umgekehrte stattfinden sollte: daß nämlich, je schwerer ein Geschüft, desto befähigter der Geschäftsmann sein müsse. Allerdings würde das eben nur dadurch durchzuführen sein, daß die Arbeiten, welche größere Ansprüche an den Arbeiter stellen, auch entsprechend besser gelohnt werden. Und das muß ja bei Weitling, der Gleichheit zu Liebe, schlechterdings vermiede» werden! Unser Kommunist thut sich endlich viel darauf zu Gute, daß es in seinem Staate keine Verbrechen und Strafen gebe; diese seien nur eine Folge der heutige» gesellschaftlichen Unordnung. Sein Staat kenne nur Krankheiten und Heilmittel. Sollten diese Worte einen Sinn haben, so muß doch das Wort „Krankheit" im Sozialstaat dasselbe bezeichnen wie in der heutigen Gesellschaft. Weitling aber hat diese Bedeutung des Wortes nicht festgehalten, sondern es einer unnatürlichen Erweiterung unterworfen. Als „Kranke" sieht er nicht nur alle diejenigen an, die heute als solche bezeichnet werden, sondern auch die „Seelen"- und „Begierde"-Kranken, sowie jeden, welcher die zum Wohle aller festgesetzten Regeln zu umgehen sucht und dadurch die Harmonie des Ganzen stört. Also das, was heute „Verbrechen" ist, heißt im Sozialstaate „Krank¬ heit"; und was heute „Strafe" ist, wird im Zukunftsstaate „Behandlung des Kranken" sein, und diese ist sehr streng. Man sieht, Weitling hat nnr den Namen geändert, nicht die Sache. Übrigens — welch prächtiges Mittel für die herrschende Partei des Sozialstaats, einfach die Opponenten, als gegen die auf das Wohl aller hinzielenden Rechte handelnd, als „Kranke" in die Spitäler stecken zu lassen! Wir glauben übrigens, daß in einem Svzialstaate wirklich die Verbrechen gegen das Eigentum aufhören werde», einfach deshalb, weil jeder Einzelne durch seine Arbeit sich seinen Lebensunterhalt verdienen kann und im Grunde ein irgend bedeutenderes Vermögen sich bei keinem Menschen vorfinden würde. Indessen ist dies aus der in diesem Punkte geradezu konfusen Darstellung Weitlings nicht recht ersichtlich. Die Bevölkerungsfrage, welche für jeden Sozialstaat so wichtig ist, wird von Weitling kaum erwogen. Wenn die Übervölkerung da ist, meint unser Kommunist, ist es immer noch Zeit, ihr abzuhelfen. Wir betrachten endlich noch Weitlings Vorschläge zum Übergang in den Sozialstaat. Damit Sozialreformer im Wcitlingschen Sinne die Regierung in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/264>, abgerufen am 23.07.2024.