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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Lin Vorläufer kassalles.

also eine Art von erblicher Verwaltung, Und das soll eine Garantie der Har¬
monie und Freiheit sein? Das soll bewirken, daß die Wissenschaft im unge¬
störten Vollbesitz der Leitung der Gesellschaft sei?

Noch mehr ist an der Arbeitsorganisation Weitlings auszusetzen. Ein
Element derselben, die Betrachtung der bloßen Zeitarbeitsstunde als Einheit,
ist schon oben als äußerst schädlich und als Prämie auf die Faulheit be¬
zeichnet worden. Die von Weitling vorgeschlagene Organisation hat aber noch
andre bedeutende Mängel. Zwar die allgemeine Arbeitspflicht können wir nicht
dazu rechnen. Denn unser Kommunist hat Vorkehrungen getroffen, daß, soweit
überhaupt die Produktion es gestattet, die Arbeit in denjenigen Zeiten geleistet wird,
welche jedem einzelnen am genehmsten sind; er hat dafür gesorgt, daß jeder,
der einmal einen Arbeitstag ausfallen lassen will, dies thun kann und bloß ver¬
pflichtet ist, ein andres mal destomehr zu arbeiten. Um so ausfallender ist
es -- und es kann dies auch nur aus dem extremen Gleichheitsprinzip Weit¬
lings erklärt werden --, daß derselbe von allen notwendigen und nützlichen
Genüssen, d. h. von allen, die irgendwie allgemein sind, jedem die gleiche
Ration zugeteilt wissen will. Zwar meint er nicht damit, daß nun jeder im
ganzen Weltreiche -- denn sein Sozialstaat soll schließlich die ganze Welt um¬
fassen -- das gleiche Quantum an Brot, Fleisch, wollenen Strümpfen, Nacht¬
jacken u. s. w, erhalten soll, sondern er will, daß auf die Bedürfnisse und Ge¬
wohnheiten der einzelnen Distrikte Rücksicht genommen werde. So soll der
Ostpreuße mehr Fettwaren erhalten als der Nordafrikaner. Weitling will also
eine Verteilung der allgemein gebrauchten Produkte nach den "vernunftge¬
mäßen" Bedürfnissen, wie es das Gothaer Programm der deutschen Sozial¬
demokratie formulirt. Im Prinzip wird dadurch wenig gemildert. Die Haupt¬
sache ist und bleibt: Ich soll mir im Sozialstaate nicht meine Lebensmittel nach
Belieben aussuchen dürfen, sondern ich erhalte sie von der Obrigkeit zugeteilt.
Damit wird die ärgste Beschränkung der Hauswirtschaft, die schlimmste Tyrannei
über mich verhängt. Nein, solange der Sozialismus nicht die Freiheit des
Individuums mit der Gemeinschaft auszusöhnen vermag, solange kann er nicht
als ein Fortschritt gegen die heutige Gesellschaftsordnung gelten. Gewiß, an¬
gesichts des unsäglichen Elends, in dem sich heute ein großer Teil der Mensch¬
heit befindet, mag die gegenteilige Ansicht entschuldbar, erklärlich sein; an¬
nehmbarer wird sie deshalb nicht.

Seinem abstrakten Gleichheitsprinzip zu Liebe führt Weitling im Sozial¬
staat auch die Institution der Kommerzbücher ein, wodurch wiederum ein jeder
in der Freiheit beschränkt und außerdem sehr belästigt wird. Jeder muß stets
bei Erlangung irgend eines Genusses, sei derselbe auch uoch so klein (etwa
i/go Arbeitsstunde), sein Porträt und Signalement vorzeigen, damit der
über die betreffenden Genußmittel verfügende Beamte den Inhaber als mit der
vor ihm stehenden Person identisch erkennen könne. Diese arge Belästigung


Lin Vorläufer kassalles.

also eine Art von erblicher Verwaltung, Und das soll eine Garantie der Har¬
monie und Freiheit sein? Das soll bewirken, daß die Wissenschaft im unge¬
störten Vollbesitz der Leitung der Gesellschaft sei?

Noch mehr ist an der Arbeitsorganisation Weitlings auszusetzen. Ein
Element derselben, die Betrachtung der bloßen Zeitarbeitsstunde als Einheit,
ist schon oben als äußerst schädlich und als Prämie auf die Faulheit be¬
zeichnet worden. Die von Weitling vorgeschlagene Organisation hat aber noch
andre bedeutende Mängel. Zwar die allgemeine Arbeitspflicht können wir nicht
dazu rechnen. Denn unser Kommunist hat Vorkehrungen getroffen, daß, soweit
überhaupt die Produktion es gestattet, die Arbeit in denjenigen Zeiten geleistet wird,
welche jedem einzelnen am genehmsten sind; er hat dafür gesorgt, daß jeder,
der einmal einen Arbeitstag ausfallen lassen will, dies thun kann und bloß ver¬
pflichtet ist, ein andres mal destomehr zu arbeiten. Um so ausfallender ist
es — und es kann dies auch nur aus dem extremen Gleichheitsprinzip Weit¬
lings erklärt werden —, daß derselbe von allen notwendigen und nützlichen
Genüssen, d. h. von allen, die irgendwie allgemein sind, jedem die gleiche
Ration zugeteilt wissen will. Zwar meint er nicht damit, daß nun jeder im
ganzen Weltreiche — denn sein Sozialstaat soll schließlich die ganze Welt um¬
fassen — das gleiche Quantum an Brot, Fleisch, wollenen Strümpfen, Nacht¬
jacken u. s. w, erhalten soll, sondern er will, daß auf die Bedürfnisse und Ge¬
wohnheiten der einzelnen Distrikte Rücksicht genommen werde. So soll der
Ostpreuße mehr Fettwaren erhalten als der Nordafrikaner. Weitling will also
eine Verteilung der allgemein gebrauchten Produkte nach den „vernunftge¬
mäßen" Bedürfnissen, wie es das Gothaer Programm der deutschen Sozial¬
demokratie formulirt. Im Prinzip wird dadurch wenig gemildert. Die Haupt¬
sache ist und bleibt: Ich soll mir im Sozialstaate nicht meine Lebensmittel nach
Belieben aussuchen dürfen, sondern ich erhalte sie von der Obrigkeit zugeteilt.
Damit wird die ärgste Beschränkung der Hauswirtschaft, die schlimmste Tyrannei
über mich verhängt. Nein, solange der Sozialismus nicht die Freiheit des
Individuums mit der Gemeinschaft auszusöhnen vermag, solange kann er nicht
als ein Fortschritt gegen die heutige Gesellschaftsordnung gelten. Gewiß, an¬
gesichts des unsäglichen Elends, in dem sich heute ein großer Teil der Mensch¬
heit befindet, mag die gegenteilige Ansicht entschuldbar, erklärlich sein; an¬
nehmbarer wird sie deshalb nicht.

Seinem abstrakten Gleichheitsprinzip zu Liebe führt Weitling im Sozial¬
staat auch die Institution der Kommerzbücher ein, wodurch wiederum ein jeder
in der Freiheit beschränkt und außerdem sehr belästigt wird. Jeder muß stets
bei Erlangung irgend eines Genusses, sei derselbe auch uoch so klein (etwa
i/go Arbeitsstunde), sein Porträt und Signalement vorzeigen, damit der
über die betreffenden Genußmittel verfügende Beamte den Inhaber als mit der
vor ihm stehenden Person identisch erkennen könne. Diese arge Belästigung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/262>, abgerufen am 23.07.2024.