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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Westmächte und die ägyptische Krisis.

Die Wohlthaten, die wir ihm und seinem Lande erweisen, werden Europa und
der Zivilisation zu Gute kommen. Einverleibung ist ebenso unmöglich als
Rückzug.... Die Hälfte der Schwierigkeiten der Lage ist mit der einfachen That¬
sache verschwunden, daß man in London das System der Halbheiten fallen
lassen und ebenso wie unsre Rechte am Nil auch die Verantwortlichkeit über¬
nommen hat."

Die andre Hälfte jener Schwierigkeiten ist indes so beträchtlich, daß es
viel Verstand und Glück erfordern wird, sie zu überwinden. Man hat den
Sudan aufgegeben, aber wie wird man herauskommen? Ein Verwandter des
Mahdi, der zu Esneh verhaftet wurde, berichtet, daß er die Austreibung aller
Fremden aus dem Nilthale beabsichtige. Wird er sich mit der Räumung Chartums
zufriedeugebeu, wo jetzt sei" Ansehen durch die von England befohlene Aufgebung
des Sudan so ungeheuer gestiegen ist? Seine Vortruppen stehen gegenwärtig
schon in Duem. Wie, wenn sie zur Belagerung Chartnms schreiten? Und wenn
vorher der Rückzug über das Nilthal oder über Suakin angeordnet wird, wird der
Prophet ihn den ägyptischen Truppen gestatten, und was wird aus den friedlichen
Bewohnern der Stadt mit ihren 35000 Seelen, was wird aus ihrem
unter Konsulatsflaggen stehenden Eigentum", aus den Frauen und Kindern
werden? Chartum enthält Waren und Vorräte genug, um den Mahdi auf zwei
Jahre mit allem Erforderlichen auszustatten -- will man ihm diese überlassen?
Was soll ferner mit den Garnisonen von Sinkat und Tockar geschehen? Will
man sie preisgeben und niedermetzeln lassen, wenn sie, vom Hunger gezwungen,
die Waffen strecken? In allen diesen Fragen ist man, wie es scheint,
auf die Barmherzigkeit des prophetischen Zimmermanns aus Dongola
angewiesen, dem man ein großes afrikanisches Reich zugeworfen hat. Zu
den Schwierigkeiten eines höchst gefährlichen Rückzuges nilabwärts oder nach
dem Roten Meere hin tritt die bedenkliche und sich stets rasch weiter aus¬
breitende Wirkung, welche die Veröffentlichung des Verzichts auf den Sudan
auf dessen arabische und Negerbevölkernng und auf die ganze Welt des Islam
üben muß. Der Mahdi kann sich jetzt still verhalten, sein Ruhm wird nach
Norden, Süden, Osten und Westen dringen und alle mißvergnügten Elemente
im Orient und in Afrika in Aufregung und Gährung versetzen. In den Kaffee¬
häusern Syriens und Arabiens und in den indischen Bazaren, überall, wohin
Karawanen gehen, wo Kaufleute plaudern und Wanderderwische betteln, breitet
sich die Kunde aus, daß "ein englischer General" mit seiner Armee bei El Obeid
von rechtgläubigen Wüstcnkriegern zusammengchauen worden ist, und daß die
christlichen Schutzherren des Chedive sich sofort entschlossen haben, das Nilthal
von Gondokoro bis zum "steinernen Bauche" zu räumen. England wird sich
auf die vielen und verhängnisvollen Echos dieser Unhcilskunde gefaßt machen,
die im Morgenlande herumgehen werden, und es kann sich wohl die Frage vor¬
legen, ob es nicht praktischer gewesen wäre, mit Ägypten vereint dem falschen


Die Westmächte und die ägyptische Krisis.

Die Wohlthaten, die wir ihm und seinem Lande erweisen, werden Europa und
der Zivilisation zu Gute kommen. Einverleibung ist ebenso unmöglich als
Rückzug.... Die Hälfte der Schwierigkeiten der Lage ist mit der einfachen That¬
sache verschwunden, daß man in London das System der Halbheiten fallen
lassen und ebenso wie unsre Rechte am Nil auch die Verantwortlichkeit über¬
nommen hat."

Die andre Hälfte jener Schwierigkeiten ist indes so beträchtlich, daß es
viel Verstand und Glück erfordern wird, sie zu überwinden. Man hat den
Sudan aufgegeben, aber wie wird man herauskommen? Ein Verwandter des
Mahdi, der zu Esneh verhaftet wurde, berichtet, daß er die Austreibung aller
Fremden aus dem Nilthale beabsichtige. Wird er sich mit der Räumung Chartums
zufriedeugebeu, wo jetzt sei» Ansehen durch die von England befohlene Aufgebung
des Sudan so ungeheuer gestiegen ist? Seine Vortruppen stehen gegenwärtig
schon in Duem. Wie, wenn sie zur Belagerung Chartnms schreiten? Und wenn
vorher der Rückzug über das Nilthal oder über Suakin angeordnet wird, wird der
Prophet ihn den ägyptischen Truppen gestatten, und was wird aus den friedlichen
Bewohnern der Stadt mit ihren 35000 Seelen, was wird aus ihrem
unter Konsulatsflaggen stehenden Eigentum«, aus den Frauen und Kindern
werden? Chartum enthält Waren und Vorräte genug, um den Mahdi auf zwei
Jahre mit allem Erforderlichen auszustatten — will man ihm diese überlassen?
Was soll ferner mit den Garnisonen von Sinkat und Tockar geschehen? Will
man sie preisgeben und niedermetzeln lassen, wenn sie, vom Hunger gezwungen,
die Waffen strecken? In allen diesen Fragen ist man, wie es scheint,
auf die Barmherzigkeit des prophetischen Zimmermanns aus Dongola
angewiesen, dem man ein großes afrikanisches Reich zugeworfen hat. Zu
den Schwierigkeiten eines höchst gefährlichen Rückzuges nilabwärts oder nach
dem Roten Meere hin tritt die bedenkliche und sich stets rasch weiter aus¬
breitende Wirkung, welche die Veröffentlichung des Verzichts auf den Sudan
auf dessen arabische und Negerbevölkernng und auf die ganze Welt des Islam
üben muß. Der Mahdi kann sich jetzt still verhalten, sein Ruhm wird nach
Norden, Süden, Osten und Westen dringen und alle mißvergnügten Elemente
im Orient und in Afrika in Aufregung und Gährung versetzen. In den Kaffee¬
häusern Syriens und Arabiens und in den indischen Bazaren, überall, wohin
Karawanen gehen, wo Kaufleute plaudern und Wanderderwische betteln, breitet
sich die Kunde aus, daß „ein englischer General" mit seiner Armee bei El Obeid
von rechtgläubigen Wüstcnkriegern zusammengchauen worden ist, und daß die
christlichen Schutzherren des Chedive sich sofort entschlossen haben, das Nilthal
von Gondokoro bis zum „steinernen Bauche" zu räumen. England wird sich
auf die vielen und verhängnisvollen Echos dieser Unhcilskunde gefaßt machen,
die im Morgenlande herumgehen werden, und es kann sich wohl die Frage vor¬
legen, ob es nicht praktischer gewesen wäre, mit Ägypten vereint dem falschen


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[0214] Die Westmächte und die ägyptische Krisis. Die Wohlthaten, die wir ihm und seinem Lande erweisen, werden Europa und der Zivilisation zu Gute kommen. Einverleibung ist ebenso unmöglich als Rückzug.... Die Hälfte der Schwierigkeiten der Lage ist mit der einfachen That¬ sache verschwunden, daß man in London das System der Halbheiten fallen lassen und ebenso wie unsre Rechte am Nil auch die Verantwortlichkeit über¬ nommen hat." Die andre Hälfte jener Schwierigkeiten ist indes so beträchtlich, daß es viel Verstand und Glück erfordern wird, sie zu überwinden. Man hat den Sudan aufgegeben, aber wie wird man herauskommen? Ein Verwandter des Mahdi, der zu Esneh verhaftet wurde, berichtet, daß er die Austreibung aller Fremden aus dem Nilthale beabsichtige. Wird er sich mit der Räumung Chartums zufriedeugebeu, wo jetzt sei» Ansehen durch die von England befohlene Aufgebung des Sudan so ungeheuer gestiegen ist? Seine Vortruppen stehen gegenwärtig schon in Duem. Wie, wenn sie zur Belagerung Chartnms schreiten? Und wenn vorher der Rückzug über das Nilthal oder über Suakin angeordnet wird, wird der Prophet ihn den ägyptischen Truppen gestatten, und was wird aus den friedlichen Bewohnern der Stadt mit ihren 35000 Seelen, was wird aus ihrem unter Konsulatsflaggen stehenden Eigentum«, aus den Frauen und Kindern werden? Chartum enthält Waren und Vorräte genug, um den Mahdi auf zwei Jahre mit allem Erforderlichen auszustatten — will man ihm diese überlassen? Was soll ferner mit den Garnisonen von Sinkat und Tockar geschehen? Will man sie preisgeben und niedermetzeln lassen, wenn sie, vom Hunger gezwungen, die Waffen strecken? In allen diesen Fragen ist man, wie es scheint, auf die Barmherzigkeit des prophetischen Zimmermanns aus Dongola angewiesen, dem man ein großes afrikanisches Reich zugeworfen hat. Zu den Schwierigkeiten eines höchst gefährlichen Rückzuges nilabwärts oder nach dem Roten Meere hin tritt die bedenkliche und sich stets rasch weiter aus¬ breitende Wirkung, welche die Veröffentlichung des Verzichts auf den Sudan auf dessen arabische und Negerbevölkernng und auf die ganze Welt des Islam üben muß. Der Mahdi kann sich jetzt still verhalten, sein Ruhm wird nach Norden, Süden, Osten und Westen dringen und alle mißvergnügten Elemente im Orient und in Afrika in Aufregung und Gährung versetzen. In den Kaffee¬ häusern Syriens und Arabiens und in den indischen Bazaren, überall, wohin Karawanen gehen, wo Kaufleute plaudern und Wanderderwische betteln, breitet sich die Kunde aus, daß „ein englischer General" mit seiner Armee bei El Obeid von rechtgläubigen Wüstcnkriegern zusammengchauen worden ist, und daß die christlichen Schutzherren des Chedive sich sofort entschlossen haben, das Nilthal von Gondokoro bis zum „steinernen Bauche" zu räumen. England wird sich auf die vielen und verhängnisvollen Echos dieser Unhcilskunde gefaßt machen, die im Morgenlande herumgehen werden, und es kann sich wohl die Frage vor¬ legen, ob es nicht praktischer gewesen wäre, mit Ägypten vereint dem falschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/214>, abgerufen am 25.08.2024.