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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

springt über seinen Schatten. Dem ehernen Gesetz der ursprünglichen Anlage
folgend, mischt Victor Hugo die spezifisch französisch-romantischen Zuthaten in
seine spätern Schöpfungen. Phantastische, weit über jede Bedingung der Natur
hinauswachsende Erfindungen durchziehen die Spätlingswerke des Dichters. Der
Galeerenapostel Jean Valjean in den "Elenden," unmögliche Nachtstücke wie die
Wanderung durch das unterirdische Paris der Kloaken und Katakomben, das
Seeungeheuer, der große Polyp in den "Meerarbeitern," die Greuclgestalten
und Greuelszenen im "Mann, der lacht" gemahnen allüberall daran, daß wir
dennoch und trotzcilledem den Dichter des "Heu von Island," der "Lucretia
Borgia" und der "Burggrafen" vor uns haben. Wie er sich anstellen, wie er
mit seiner volltönenden poetischen Rhetorik die Leiden und Freuden, ja die
Krämpfe und Zuckungen seines Landes und seiner politischen Parteien begleiten
mag, er ist innerhalb des Geschlechts von heute ein Mann der Vergangenheit,
der Führer einer literarischen Revolution, deren Früchte man gepflückt, deren
Kämpfe und Großthaten man so gut wie vergessen hat. Er selbst hat einmal, schon
in den sechziger Jahren, die charakteristische Phrase gebraucht: "Im Jahre 1833,
also vor einem Jahrhundert!" Er ragt in das Geschlecht der heutigen Autoren
und Poeten hinein wie ein Überlebender aus vorsündflutlichen Tagen. Er ge¬
tröstet sich mit Recht des Glaubens, daß alle französischen Leistungen und Be¬
strebungen des letzten Menschenalters nicht sein würden ohne ihn und seine
Genossen von 1830. Aber nur mit der Reflexion, mit der historischen Erinne¬
rung kommt diese Wahrheit den Lebenden zum Bewußtsein. Wir wüßten, den
ungeheuern Unterschied der Zeiten und den noch größern der Naturen einmal
beiseite gesetzt, für Victor Hugos eigenartige Stellung in und zur französischen
Literatur der Gegenwart in der ganzen Literaturgeschichte nur einen Vergleich:
die Stellung, welche der alternde Klopstock über ein Vierteljahrhundert in unsrer
eignen Literatur eingenommen hat. Hier wie dort die zweifellose Gewißheit,
das berechtigte Selbstbewußtsein, daß der Anfang einer neuen Entwicklung mit
den eignen Schöpfungen gemacht worden sei. Bei Klopstock wie bei Victor Hugo der
Versuch, mit fremdklingenden Tönen die veränderte Zeit zu begleiten. In beiden
Fällen ein Gefühl von Ehrfurcht bei den Mitlebenden, eine aufrichtige Pietät
für den Repräsentanten andrer Tage, andrer Ideale, andrer Stimmungen, hinter
der sich doch die Erkenntnis birgt, daß der noch Mitschaffende schon seit ge¬
raumer Zeit sich selbst überlebt habe. Bei Klopstock wie bei Victor Hugo die
gelegentliche Verblendung über die eigne Stellung zu denen, die nach ihm ge¬
kommen sind. Ja wir glauben, daß sich die Parallele über kurz oder lang noch
weiter fortführen lassen wird. Als Klopstock im Jahre 1803 aus dem Leben
schied, ist er mit Ehren bestattet worden, wie sie keinem deutschen Dichter vorher
und nachher zuteil geworden sind -- und wer möchte daran zweifeln, daß das
dereinstige Scheiden des Hauptes der französischen Romantik die französische
Nation mit lebendigem Anteil und aufrichtiger Trauer erfüllen werde? Aber die


Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

springt über seinen Schatten. Dem ehernen Gesetz der ursprünglichen Anlage
folgend, mischt Victor Hugo die spezifisch französisch-romantischen Zuthaten in
seine spätern Schöpfungen. Phantastische, weit über jede Bedingung der Natur
hinauswachsende Erfindungen durchziehen die Spätlingswerke des Dichters. Der
Galeerenapostel Jean Valjean in den „Elenden," unmögliche Nachtstücke wie die
Wanderung durch das unterirdische Paris der Kloaken und Katakomben, das
Seeungeheuer, der große Polyp in den „Meerarbeitern," die Greuclgestalten
und Greuelszenen im „Mann, der lacht" gemahnen allüberall daran, daß wir
dennoch und trotzcilledem den Dichter des „Heu von Island," der „Lucretia
Borgia" und der „Burggrafen" vor uns haben. Wie er sich anstellen, wie er
mit seiner volltönenden poetischen Rhetorik die Leiden und Freuden, ja die
Krämpfe und Zuckungen seines Landes und seiner politischen Parteien begleiten
mag, er ist innerhalb des Geschlechts von heute ein Mann der Vergangenheit,
der Führer einer literarischen Revolution, deren Früchte man gepflückt, deren
Kämpfe und Großthaten man so gut wie vergessen hat. Er selbst hat einmal, schon
in den sechziger Jahren, die charakteristische Phrase gebraucht: „Im Jahre 1833,
also vor einem Jahrhundert!" Er ragt in das Geschlecht der heutigen Autoren
und Poeten hinein wie ein Überlebender aus vorsündflutlichen Tagen. Er ge¬
tröstet sich mit Recht des Glaubens, daß alle französischen Leistungen und Be¬
strebungen des letzten Menschenalters nicht sein würden ohne ihn und seine
Genossen von 1830. Aber nur mit der Reflexion, mit der historischen Erinne¬
rung kommt diese Wahrheit den Lebenden zum Bewußtsein. Wir wüßten, den
ungeheuern Unterschied der Zeiten und den noch größern der Naturen einmal
beiseite gesetzt, für Victor Hugos eigenartige Stellung in und zur französischen
Literatur der Gegenwart in der ganzen Literaturgeschichte nur einen Vergleich:
die Stellung, welche der alternde Klopstock über ein Vierteljahrhundert in unsrer
eignen Literatur eingenommen hat. Hier wie dort die zweifellose Gewißheit,
das berechtigte Selbstbewußtsein, daß der Anfang einer neuen Entwicklung mit
den eignen Schöpfungen gemacht worden sei. Bei Klopstock wie bei Victor Hugo der
Versuch, mit fremdklingenden Tönen die veränderte Zeit zu begleiten. In beiden
Fällen ein Gefühl von Ehrfurcht bei den Mitlebenden, eine aufrichtige Pietät
für den Repräsentanten andrer Tage, andrer Ideale, andrer Stimmungen, hinter
der sich doch die Erkenntnis birgt, daß der noch Mitschaffende schon seit ge¬
raumer Zeit sich selbst überlebt habe. Bei Klopstock wie bei Victor Hugo die
gelegentliche Verblendung über die eigne Stellung zu denen, die nach ihm ge¬
kommen sind. Ja wir glauben, daß sich die Parallele über kurz oder lang noch
weiter fortführen lassen wird. Als Klopstock im Jahre 1803 aus dem Leben
schied, ist er mit Ehren bestattet worden, wie sie keinem deutschen Dichter vorher
und nachher zuteil geworden sind — und wer möchte daran zweifeln, daß das
dereinstige Scheiden des Hauptes der französischen Romantik die französische
Nation mit lebendigem Anteil und aufrichtiger Trauer erfüllen werde? Aber die


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[0086] Die französische Romantik im Anfang und Ausgang. springt über seinen Schatten. Dem ehernen Gesetz der ursprünglichen Anlage folgend, mischt Victor Hugo die spezifisch französisch-romantischen Zuthaten in seine spätern Schöpfungen. Phantastische, weit über jede Bedingung der Natur hinauswachsende Erfindungen durchziehen die Spätlingswerke des Dichters. Der Galeerenapostel Jean Valjean in den „Elenden," unmögliche Nachtstücke wie die Wanderung durch das unterirdische Paris der Kloaken und Katakomben, das Seeungeheuer, der große Polyp in den „Meerarbeitern," die Greuclgestalten und Greuelszenen im „Mann, der lacht" gemahnen allüberall daran, daß wir dennoch und trotzcilledem den Dichter des „Heu von Island," der „Lucretia Borgia" und der „Burggrafen" vor uns haben. Wie er sich anstellen, wie er mit seiner volltönenden poetischen Rhetorik die Leiden und Freuden, ja die Krämpfe und Zuckungen seines Landes und seiner politischen Parteien begleiten mag, er ist innerhalb des Geschlechts von heute ein Mann der Vergangenheit, der Führer einer literarischen Revolution, deren Früchte man gepflückt, deren Kämpfe und Großthaten man so gut wie vergessen hat. Er selbst hat einmal, schon in den sechziger Jahren, die charakteristische Phrase gebraucht: „Im Jahre 1833, also vor einem Jahrhundert!" Er ragt in das Geschlecht der heutigen Autoren und Poeten hinein wie ein Überlebender aus vorsündflutlichen Tagen. Er ge¬ tröstet sich mit Recht des Glaubens, daß alle französischen Leistungen und Be¬ strebungen des letzten Menschenalters nicht sein würden ohne ihn und seine Genossen von 1830. Aber nur mit der Reflexion, mit der historischen Erinne¬ rung kommt diese Wahrheit den Lebenden zum Bewußtsein. Wir wüßten, den ungeheuern Unterschied der Zeiten und den noch größern der Naturen einmal beiseite gesetzt, für Victor Hugos eigenartige Stellung in und zur französischen Literatur der Gegenwart in der ganzen Literaturgeschichte nur einen Vergleich: die Stellung, welche der alternde Klopstock über ein Vierteljahrhundert in unsrer eignen Literatur eingenommen hat. Hier wie dort die zweifellose Gewißheit, das berechtigte Selbstbewußtsein, daß der Anfang einer neuen Entwicklung mit den eignen Schöpfungen gemacht worden sei. Bei Klopstock wie bei Victor Hugo der Versuch, mit fremdklingenden Tönen die veränderte Zeit zu begleiten. In beiden Fällen ein Gefühl von Ehrfurcht bei den Mitlebenden, eine aufrichtige Pietät für den Repräsentanten andrer Tage, andrer Ideale, andrer Stimmungen, hinter der sich doch die Erkenntnis birgt, daß der noch Mitschaffende schon seit ge¬ raumer Zeit sich selbst überlebt habe. Bei Klopstock wie bei Victor Hugo die gelegentliche Verblendung über die eigne Stellung zu denen, die nach ihm ge¬ kommen sind. Ja wir glauben, daß sich die Parallele über kurz oder lang noch weiter fortführen lassen wird. Als Klopstock im Jahre 1803 aus dem Leben schied, ist er mit Ehren bestattet worden, wie sie keinem deutschen Dichter vorher und nachher zuteil geworden sind — und wer möchte daran zweifeln, daß das dereinstige Scheiden des Hauptes der französischen Romantik die französische Nation mit lebendigem Anteil und aufrichtiger Trauer erfüllen werde? Aber die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/86>, abgerufen am 29.12.2024.