Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Die französische Romantik im Anfang und Ausgang. Zerstörer eines für die Ewigkeit gegründeten Kunsttempels, und noch dazu Wir Deutschen sind im allgemeinen geneigt, uns von vornherein auf Seite Die französische Romantik im Anfang und Ausgang. Zerstörer eines für die Ewigkeit gegründeten Kunsttempels, und noch dazu Wir Deutschen sind im allgemeinen geneigt, uns von vornherein auf Seite <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0079" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157004"/> <fw type="header" place="top"> Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.</fw><lb/> <p xml:id="ID_244" prev="#ID_243"> Zerstörer eines für die Ewigkeit gegründeten Kunsttempels, und noch dazu<lb/> schlechte Franzosen zu sein? Wie stand es um die Nachwirkung der großen<lb/> ästhetischen Institutionen in der lebendigen Gegenwart, welches Recht hatten die<lb/> vierzig Unsterblichen der französischen Akademie auf ihren Sesseln für die Zu¬<lb/> kunft des französischen Geschmacks zu zittern, als der Dichter des „Hernani"<lb/> und seine Freunde, die man schlechtweg eine Bande schalt, Einzug in das<lb/> ?Kos.t.r6 ers-neM« hielten?</p><lb/> <p xml:id="ID_245" next="#ID_246"> Wir Deutschen sind im allgemeinen geneigt, uns von vornherein auf Seite<lb/> jeder französischen Schule zu stellen, welche sich den Geboten der alten fran¬<lb/> zösischen Ästhetik zu entwinden trachtet. Unsre eigne Literatur von Lessing und<lb/> Klopstock bis Goethe ist im Kampfe auf Leben und Tod gegen die französische<lb/> „Regel" und die auf diese Regel gestützten Ansprüche groß geworden, und die<lb/> Erinnerungen an den Kampf durchhaucht noch immer alle Urteile über die<lb/> eigentümlichen Bedingungen, unter denen die französische Literatur auf ihren<lb/> Höhepunkt gelangt ist. Eine Stellung, wie sie beispielsweise Karl Hillebrcmd<lb/> in seiner „Geschichte Frankreichs seit der Julirevolution" und in seinen zahl¬<lb/> reichen, an die neueste französische Literatur anknüpfenden Essays einnimmt, ist bei<lb/> einem deutschen Kritiker selten. Hillebrand versieht die altfranzösische Regel und<lb/> Tradition gegen den Romantizismus. Dafür nimmt Georg Brandes im fünften<lb/> Teile feiner „Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts" beinahe unbe¬<lb/> dingt Partei für denselben, I. I. Honegger in seinen „Bausteinen zur Kultur-<lb/> und Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts" verleugnet eine entschiedne<lb/> Vorliebe für dieselbe nicht, und in zahlreichen Einzelschriften, unter denen Paul<lb/> Lindaus „Alfred de Musset" die weiteste Verbreitung gefunden, sind Gestalten<lb/> und Denkwürdigkeiten der romantischen Gährungsepoche dem deutscheu Publikum<lb/> nähergerückt worden. Dabei ist dem feinen Urteil von Brandes denn keines¬<lb/> wegs entgangen, daß ein viel stärkerer Zusammenhang zwischen der Kunstweise<lb/> der französischen Romantiker und der klassischen Tradition besteht, als auf den<lb/> ersten Blick zutage tritt. Und indem er den Zusammenhang nachwies, ließ der Hi¬<lb/> storiker des Romantizismus — unwillkürlich und ungern — dennoch jenen eigen¬<lb/> tümlichen Vorzügen Gerechtigkeit widerfahren, die es allein erklären, daß der na¬<lb/> tionale Stil, den Boileaus ^.re, xostians verkündet und der die französische Poesie,<lb/> namentlich die Tragödie, vollkommen durchdrungen hatte, eine hundertundfünfzig-<lb/> jährige Alleinherrschaft behaupten konnte. Die Franzosen pflegen noch heute<lb/> zu behaupten, daß Boileaus System der Ästhetik, das freilich kein System,<lb/> sondern eine Sammlung von praktischen Winken ist, an Einfachheit, Klarheit<lb/> und logischer Folgerichtigkeit von keinem ästhetischen Kodex der Welt erreicht sei.<lb/> Wenigstens kann man zugestehen, daß Boileans Regeln in ihrer Gesamtheit den<lb/> Produzirenden einen Halt und den Genießenden feste Maßstäbe für ihr Urteil<lb/> boten. Boileau setzte, ungleich andern Akademikern des siebzehnten Jahrhunderts,<lb/> eine gewisse Wechselwirkung zwischen der Gesellschaft und der Literatur voraus.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0079]
Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.
Zerstörer eines für die Ewigkeit gegründeten Kunsttempels, und noch dazu
schlechte Franzosen zu sein? Wie stand es um die Nachwirkung der großen
ästhetischen Institutionen in der lebendigen Gegenwart, welches Recht hatten die
vierzig Unsterblichen der französischen Akademie auf ihren Sesseln für die Zu¬
kunft des französischen Geschmacks zu zittern, als der Dichter des „Hernani"
und seine Freunde, die man schlechtweg eine Bande schalt, Einzug in das
?Kos.t.r6 ers-neM« hielten?
Wir Deutschen sind im allgemeinen geneigt, uns von vornherein auf Seite
jeder französischen Schule zu stellen, welche sich den Geboten der alten fran¬
zösischen Ästhetik zu entwinden trachtet. Unsre eigne Literatur von Lessing und
Klopstock bis Goethe ist im Kampfe auf Leben und Tod gegen die französische
„Regel" und die auf diese Regel gestützten Ansprüche groß geworden, und die
Erinnerungen an den Kampf durchhaucht noch immer alle Urteile über die
eigentümlichen Bedingungen, unter denen die französische Literatur auf ihren
Höhepunkt gelangt ist. Eine Stellung, wie sie beispielsweise Karl Hillebrcmd
in seiner „Geschichte Frankreichs seit der Julirevolution" und in seinen zahl¬
reichen, an die neueste französische Literatur anknüpfenden Essays einnimmt, ist bei
einem deutschen Kritiker selten. Hillebrand versieht die altfranzösische Regel und
Tradition gegen den Romantizismus. Dafür nimmt Georg Brandes im fünften
Teile feiner „Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts" beinahe unbe¬
dingt Partei für denselben, I. I. Honegger in seinen „Bausteinen zur Kultur-
und Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts" verleugnet eine entschiedne
Vorliebe für dieselbe nicht, und in zahlreichen Einzelschriften, unter denen Paul
Lindaus „Alfred de Musset" die weiteste Verbreitung gefunden, sind Gestalten
und Denkwürdigkeiten der romantischen Gährungsepoche dem deutscheu Publikum
nähergerückt worden. Dabei ist dem feinen Urteil von Brandes denn keines¬
wegs entgangen, daß ein viel stärkerer Zusammenhang zwischen der Kunstweise
der französischen Romantiker und der klassischen Tradition besteht, als auf den
ersten Blick zutage tritt. Und indem er den Zusammenhang nachwies, ließ der Hi¬
storiker des Romantizismus — unwillkürlich und ungern — dennoch jenen eigen¬
tümlichen Vorzügen Gerechtigkeit widerfahren, die es allein erklären, daß der na¬
tionale Stil, den Boileaus ^.re, xostians verkündet und der die französische Poesie,
namentlich die Tragödie, vollkommen durchdrungen hatte, eine hundertundfünfzig-
jährige Alleinherrschaft behaupten konnte. Die Franzosen pflegen noch heute
zu behaupten, daß Boileaus System der Ästhetik, das freilich kein System,
sondern eine Sammlung von praktischen Winken ist, an Einfachheit, Klarheit
und logischer Folgerichtigkeit von keinem ästhetischen Kodex der Welt erreicht sei.
Wenigstens kann man zugestehen, daß Boileans Regeln in ihrer Gesamtheit den
Produzirenden einen Halt und den Genießenden feste Maßstäbe für ihr Urteil
boten. Boileau setzte, ungleich andern Akademikern des siebzehnten Jahrhunderts,
eine gewisse Wechselwirkung zwischen der Gesellschaft und der Literatur voraus.
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