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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Zur Diätenfrage.

die Not der Stichwahlen, welche einen Teil der Wähler in eine wahrhaft ver¬
zweifelte Lage brachten und zu dem häßlichsten politischen Traffick Veran¬
lassung gaben. Aus einem solchen Getriebe niedrigster Art ist der gegenwär¬
tige Reichstag her-vorgegangen.

Inmitten dieser Verhältnisse hat es gleichwohl an Kandidaten für den
Reichstag nicht gefehlt. An manchen Orten sind vier oder fünf aufgetreten.
Sie überboten sich im Eifer für die Sache. Aber freilich sind die Kandidaten
oft von der Art gewesen, daß man sich fragen mußte, ob denn das deutsche Volk
keine bessern Männer habe, um sie als seine Vertreter zu entsenden? Da tritt
nun die Frage uns entgegen: Ist es denn wirklich vielleicht die Diätenlosigkeit,
was die bessern Männer von der Kandidatur für den Reichstag abhält? Einige
Parteien haben diese Diätenlosigkeit schon zu überwinden gewußt. Die So¬
zialisten und Fortschrittler besitzen Fonds, welche auch die minder Bemittelten
ihrer Partei in den Stand setzen, ein Reichstagsmandat anzunehmen. Sie
können also am wenigsten sagen, daß sie noch bessere Männer im Rückhalt
hätten, wenn nur Diäten gezahlt würden. Von den übrigen Parteien ist der¬
gleichen nicht bekannt. In Anbetracht aber, daß ohne Zweifel der allgemeine
Wohlstand in Deutschland seit 1867 wesentlich zugenommen hat, wäre es in
der That wunderbar, wenn nicht auch jetzt noch in diesen Parteien patriotische
und tüchtige Männer sich finden sollten, für welche der Mangel an Diäten
kein Hindernis abgäbe, ein Reichstagsmandat anzunehmen. Weit mehr als in
diesem Mangel sehen wir den Grund eines Verfalles des Reichstags in den
oben geschilderten Verhältnissen. Man kann ja die Seelenstärke derjenigen be¬
wundern, welche den Mut haben, sich in den Strudel eines modernen Wahl¬
kampfes zu stürzen, bis zu einem Platze im Reichstage sich durchzuringen und
auch dort zu Kampf und Streit aller Art bereit zu sein. Aber jedermanns
Sache ist das nicht. Es giebt seiner organisirte Naturen, welchen die Be¬
rührung mit der Gemeinheit fo widersteht, daß sie sich um keinen Preis in
dieses moderne Getriebe hineinstürzen möchten. Gerade solche Männer aber
würden, wenn sie im Reichstage säßen, dem öffentlichen Wohl am förder¬
lichsten sein. Blicken wir zurück auf die Männer, die in den ersten Jahren die
Bänke des Reichstages füllten, so glauben wir unter ihnen viele zu erkennen, die,
wenn sie auch damals ein Mandat bereitwillig übernahmen, heute doch vor
diesem Getriebe zurückschrecken würden. Sollte nun wohl hieran sich etwas
ändern, wenn den Reichstagsmitgliedern Diäten bewilligt würden? Sicherlich
nicht! Gerade für Männer derjenigen Art, welche wir heute im Reichstage
schmerzlich vermissen, würde die Bewilligung von Diäten keinen entscheidenden
Grund bilden, um ihnen ein Mandat annehmbarer zu machen. Im übrigen
aber würde die Zahlung von Diäten in die jetzt schon so erbitterten Wahlkämpfe
nur ein neues Moment hineintragen, welches diese Kämpfe keinenfalls ver¬
edeln würde.


Zur Diätenfrage.

die Not der Stichwahlen, welche einen Teil der Wähler in eine wahrhaft ver¬
zweifelte Lage brachten und zu dem häßlichsten politischen Traffick Veran¬
lassung gaben. Aus einem solchen Getriebe niedrigster Art ist der gegenwär¬
tige Reichstag her-vorgegangen.

Inmitten dieser Verhältnisse hat es gleichwohl an Kandidaten für den
Reichstag nicht gefehlt. An manchen Orten sind vier oder fünf aufgetreten.
Sie überboten sich im Eifer für die Sache. Aber freilich sind die Kandidaten
oft von der Art gewesen, daß man sich fragen mußte, ob denn das deutsche Volk
keine bessern Männer habe, um sie als seine Vertreter zu entsenden? Da tritt
nun die Frage uns entgegen: Ist es denn wirklich vielleicht die Diätenlosigkeit,
was die bessern Männer von der Kandidatur für den Reichstag abhält? Einige
Parteien haben diese Diätenlosigkeit schon zu überwinden gewußt. Die So¬
zialisten und Fortschrittler besitzen Fonds, welche auch die minder Bemittelten
ihrer Partei in den Stand setzen, ein Reichstagsmandat anzunehmen. Sie
können also am wenigsten sagen, daß sie noch bessere Männer im Rückhalt
hätten, wenn nur Diäten gezahlt würden. Von den übrigen Parteien ist der¬
gleichen nicht bekannt. In Anbetracht aber, daß ohne Zweifel der allgemeine
Wohlstand in Deutschland seit 1867 wesentlich zugenommen hat, wäre es in
der That wunderbar, wenn nicht auch jetzt noch in diesen Parteien patriotische
und tüchtige Männer sich finden sollten, für welche der Mangel an Diäten
kein Hindernis abgäbe, ein Reichstagsmandat anzunehmen. Weit mehr als in
diesem Mangel sehen wir den Grund eines Verfalles des Reichstags in den
oben geschilderten Verhältnissen. Man kann ja die Seelenstärke derjenigen be¬
wundern, welche den Mut haben, sich in den Strudel eines modernen Wahl¬
kampfes zu stürzen, bis zu einem Platze im Reichstage sich durchzuringen und
auch dort zu Kampf und Streit aller Art bereit zu sein. Aber jedermanns
Sache ist das nicht. Es giebt seiner organisirte Naturen, welchen die Be¬
rührung mit der Gemeinheit fo widersteht, daß sie sich um keinen Preis in
dieses moderne Getriebe hineinstürzen möchten. Gerade solche Männer aber
würden, wenn sie im Reichstage säßen, dem öffentlichen Wohl am förder¬
lichsten sein. Blicken wir zurück auf die Männer, die in den ersten Jahren die
Bänke des Reichstages füllten, so glauben wir unter ihnen viele zu erkennen, die,
wenn sie auch damals ein Mandat bereitwillig übernahmen, heute doch vor
diesem Getriebe zurückschrecken würden. Sollte nun wohl hieran sich etwas
ändern, wenn den Reichstagsmitgliedern Diäten bewilligt würden? Sicherlich
nicht! Gerade für Männer derjenigen Art, welche wir heute im Reichstage
schmerzlich vermissen, würde die Bewilligung von Diäten keinen entscheidenden
Grund bilden, um ihnen ein Mandat annehmbarer zu machen. Im übrigen
aber würde die Zahlung von Diäten in die jetzt schon so erbitterten Wahlkämpfe
nur ein neues Moment hineintragen, welches diese Kämpfe keinenfalls ver¬
edeln würde.


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[0506] Zur Diätenfrage. die Not der Stichwahlen, welche einen Teil der Wähler in eine wahrhaft ver¬ zweifelte Lage brachten und zu dem häßlichsten politischen Traffick Veran¬ lassung gaben. Aus einem solchen Getriebe niedrigster Art ist der gegenwär¬ tige Reichstag her-vorgegangen. Inmitten dieser Verhältnisse hat es gleichwohl an Kandidaten für den Reichstag nicht gefehlt. An manchen Orten sind vier oder fünf aufgetreten. Sie überboten sich im Eifer für die Sache. Aber freilich sind die Kandidaten oft von der Art gewesen, daß man sich fragen mußte, ob denn das deutsche Volk keine bessern Männer habe, um sie als seine Vertreter zu entsenden? Da tritt nun die Frage uns entgegen: Ist es denn wirklich vielleicht die Diätenlosigkeit, was die bessern Männer von der Kandidatur für den Reichstag abhält? Einige Parteien haben diese Diätenlosigkeit schon zu überwinden gewußt. Die So¬ zialisten und Fortschrittler besitzen Fonds, welche auch die minder Bemittelten ihrer Partei in den Stand setzen, ein Reichstagsmandat anzunehmen. Sie können also am wenigsten sagen, daß sie noch bessere Männer im Rückhalt hätten, wenn nur Diäten gezahlt würden. Von den übrigen Parteien ist der¬ gleichen nicht bekannt. In Anbetracht aber, daß ohne Zweifel der allgemeine Wohlstand in Deutschland seit 1867 wesentlich zugenommen hat, wäre es in der That wunderbar, wenn nicht auch jetzt noch in diesen Parteien patriotische und tüchtige Männer sich finden sollten, für welche der Mangel an Diäten kein Hindernis abgäbe, ein Reichstagsmandat anzunehmen. Weit mehr als in diesem Mangel sehen wir den Grund eines Verfalles des Reichstags in den oben geschilderten Verhältnissen. Man kann ja die Seelenstärke derjenigen be¬ wundern, welche den Mut haben, sich in den Strudel eines modernen Wahl¬ kampfes zu stürzen, bis zu einem Platze im Reichstage sich durchzuringen und auch dort zu Kampf und Streit aller Art bereit zu sein. Aber jedermanns Sache ist das nicht. Es giebt seiner organisirte Naturen, welchen die Be¬ rührung mit der Gemeinheit fo widersteht, daß sie sich um keinen Preis in dieses moderne Getriebe hineinstürzen möchten. Gerade solche Männer aber würden, wenn sie im Reichstage säßen, dem öffentlichen Wohl am förder¬ lichsten sein. Blicken wir zurück auf die Männer, die in den ersten Jahren die Bänke des Reichstages füllten, so glauben wir unter ihnen viele zu erkennen, die, wenn sie auch damals ein Mandat bereitwillig übernahmen, heute doch vor diesem Getriebe zurückschrecken würden. Sollte nun wohl hieran sich etwas ändern, wenn den Reichstagsmitgliedern Diäten bewilligt würden? Sicherlich nicht! Gerade für Männer derjenigen Art, welche wir heute im Reichstage schmerzlich vermissen, würde die Bewilligung von Diäten keinen entscheidenden Grund bilden, um ihnen ein Mandat annehmbarer zu machen. Im übrigen aber würde die Zahlung von Diäten in die jetzt schon so erbitterten Wahlkämpfe nur ein neues Moment hineintragen, welches diese Kämpfe keinenfalls ver¬ edeln würde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/506>, abgerufen am 28.12.2024.