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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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M"<M.^/Nachten er jahrelang geruht, ist der früher bereits siebenmal ver¬
handelte Antrag, den Reichstagsmitgliedern Tagegelder zu be¬
zahlen, jetzt von der Fortschrittspartei -- mit diesem alten Namen
benennen wir wohl am besten die Partei, welche sich heute die
"deutsch-freisinnige" nennt -- wieder neu eingebracht worden.
Die Verhandlung, welche Vonseiten der Antragsteller nur Längstbekanntes ge¬
bracht hat, würde kaum noch Interesse erweckt haben, wenn nicht der Reichs¬
kanzler lebendig in dieselbe eingegriffen und eine Fülle geistreicher Bemerkungen
eingestreut hätte. Für die Frage, ob die Diätenlosigkcit der Reichstagsmitglieder
den Bestand des Reichstages wirklich benachteilige, bieten sich zwei Anhalts¬
punkte der Beurteilung dar, die Geschichte des Reichstages selbst und die Ver-
gleichung desselben mit dem preußischen Abgeordnetenhause.

Niemand wird leugnen, daß der Reichstag in den ersten Jahren seines
Bestandes eine glänzende Versammlung geistiger Potenzen war. Es giebt kaum
ein Gebiet deutschen Geistes, welches nicht in hervorragender Weise in ihm ver¬
treten gewesen wäre. Und doch hat niemals verlautet, daß damals schon künst¬
liche Mittel aufgewendet worden seien, um einzelnen Mitgliedern die Diätenlosigkcit
minder fühlbar zu machen. Gegenwärtig sind die meisten, welche damals die
Räume des Reichstages füllten, nicht mehr vorhanden. Sie sind tot, gealtert
oder aus sonstigen Gründen ausgeschieden. Die jüngste Wahl allein hat dem
Reichstage einhundertfünfzig neue Mitglieder gebracht. Wir sind ja weit entfernt,
absprechen zu wollen über die geistige Bedeutung des gegenwärtigen Reichstags¬
bestandes. Niemand kann sagen, welche parlamentarische Begabung in den neu
hinzugekommenen Mitgliedern vertreten sein wird. Aber unzweifelhaft scheint
es uns, daß das deutsche Volk nicht mehr so hoch zu seinem Reichstage hinauf¬
schaut wie früher. Der nächste Grund liegt in der Art der Verhandlungen.
Früher waren diese vorwiegend sachlicher Natur, und wenn auch hie und da
persönliche Reibungen vorkamen, so wurden dieselben doch mit einer Zurückhaltung
und Feinheit geübt, welche dem hohen Vildungsstande des Reichstages Ehre
machte. Heute erfüllt persönliches Gezänk einen wesentlichen Teil der Reichs¬
tagsverhandlungen. Fast jeder Redner glaubt seine Rede damit beginnen zu
müssen, daß er erst alles ausschüttet, was er wider seine Gegner auf dem
Herzen hat. Und diese Verhandlungen werden mit einer Bitterkeit geführt, daß
man oft zweifeln möchte, ob man sich noch in gebildeter Gesellschaft befinde.


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M»<M.^/Nachten er jahrelang geruht, ist der früher bereits siebenmal ver¬
handelte Antrag, den Reichstagsmitgliedern Tagegelder zu be¬
zahlen, jetzt von der Fortschrittspartei — mit diesem alten Namen
benennen wir wohl am besten die Partei, welche sich heute die
„deutsch-freisinnige" nennt — wieder neu eingebracht worden.
Die Verhandlung, welche Vonseiten der Antragsteller nur Längstbekanntes ge¬
bracht hat, würde kaum noch Interesse erweckt haben, wenn nicht der Reichs¬
kanzler lebendig in dieselbe eingegriffen und eine Fülle geistreicher Bemerkungen
eingestreut hätte. Für die Frage, ob die Diätenlosigkcit der Reichstagsmitglieder
den Bestand des Reichstages wirklich benachteilige, bieten sich zwei Anhalts¬
punkte der Beurteilung dar, die Geschichte des Reichstages selbst und die Ver-
gleichung desselben mit dem preußischen Abgeordnetenhause.

Niemand wird leugnen, daß der Reichstag in den ersten Jahren seines
Bestandes eine glänzende Versammlung geistiger Potenzen war. Es giebt kaum
ein Gebiet deutschen Geistes, welches nicht in hervorragender Weise in ihm ver¬
treten gewesen wäre. Und doch hat niemals verlautet, daß damals schon künst¬
liche Mittel aufgewendet worden seien, um einzelnen Mitgliedern die Diätenlosigkcit
minder fühlbar zu machen. Gegenwärtig sind die meisten, welche damals die
Räume des Reichstages füllten, nicht mehr vorhanden. Sie sind tot, gealtert
oder aus sonstigen Gründen ausgeschieden. Die jüngste Wahl allein hat dem
Reichstage einhundertfünfzig neue Mitglieder gebracht. Wir sind ja weit entfernt,
absprechen zu wollen über die geistige Bedeutung des gegenwärtigen Reichstags¬
bestandes. Niemand kann sagen, welche parlamentarische Begabung in den neu
hinzugekommenen Mitgliedern vertreten sein wird. Aber unzweifelhaft scheint
es uns, daß das deutsche Volk nicht mehr so hoch zu seinem Reichstage hinauf¬
schaut wie früher. Der nächste Grund liegt in der Art der Verhandlungen.
Früher waren diese vorwiegend sachlicher Natur, und wenn auch hie und da
persönliche Reibungen vorkamen, so wurden dieselben doch mit einer Zurückhaltung
und Feinheit geübt, welche dem hohen Vildungsstande des Reichstages Ehre
machte. Heute erfüllt persönliches Gezänk einen wesentlichen Teil der Reichs¬
tagsverhandlungen. Fast jeder Redner glaubt seine Rede damit beginnen zu
müssen, daß er erst alles ausschüttet, was er wider seine Gegner auf dem
Herzen hat. Und diese Verhandlungen werden mit einer Bitterkeit geführt, daß
man oft zweifeln möchte, ob man sich noch in gebildeter Gesellschaft befinde.


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[0504] Zur Diätenfrage. ^--^ ^ W^'K^! M»<M.^/Nachten er jahrelang geruht, ist der früher bereits siebenmal ver¬ handelte Antrag, den Reichstagsmitgliedern Tagegelder zu be¬ zahlen, jetzt von der Fortschrittspartei — mit diesem alten Namen benennen wir wohl am besten die Partei, welche sich heute die „deutsch-freisinnige" nennt — wieder neu eingebracht worden. Die Verhandlung, welche Vonseiten der Antragsteller nur Längstbekanntes ge¬ bracht hat, würde kaum noch Interesse erweckt haben, wenn nicht der Reichs¬ kanzler lebendig in dieselbe eingegriffen und eine Fülle geistreicher Bemerkungen eingestreut hätte. Für die Frage, ob die Diätenlosigkcit der Reichstagsmitglieder den Bestand des Reichstages wirklich benachteilige, bieten sich zwei Anhalts¬ punkte der Beurteilung dar, die Geschichte des Reichstages selbst und die Ver- gleichung desselben mit dem preußischen Abgeordnetenhause. Niemand wird leugnen, daß der Reichstag in den ersten Jahren seines Bestandes eine glänzende Versammlung geistiger Potenzen war. Es giebt kaum ein Gebiet deutschen Geistes, welches nicht in hervorragender Weise in ihm ver¬ treten gewesen wäre. Und doch hat niemals verlautet, daß damals schon künst¬ liche Mittel aufgewendet worden seien, um einzelnen Mitgliedern die Diätenlosigkcit minder fühlbar zu machen. Gegenwärtig sind die meisten, welche damals die Räume des Reichstages füllten, nicht mehr vorhanden. Sie sind tot, gealtert oder aus sonstigen Gründen ausgeschieden. Die jüngste Wahl allein hat dem Reichstage einhundertfünfzig neue Mitglieder gebracht. Wir sind ja weit entfernt, absprechen zu wollen über die geistige Bedeutung des gegenwärtigen Reichstags¬ bestandes. Niemand kann sagen, welche parlamentarische Begabung in den neu hinzugekommenen Mitgliedern vertreten sein wird. Aber unzweifelhaft scheint es uns, daß das deutsche Volk nicht mehr so hoch zu seinem Reichstage hinauf¬ schaut wie früher. Der nächste Grund liegt in der Art der Verhandlungen. Früher waren diese vorwiegend sachlicher Natur, und wenn auch hie und da persönliche Reibungen vorkamen, so wurden dieselben doch mit einer Zurückhaltung und Feinheit geübt, welche dem hohen Vildungsstande des Reichstages Ehre machte. Heute erfüllt persönliches Gezänk einen wesentlichen Teil der Reichs¬ tagsverhandlungen. Fast jeder Redner glaubt seine Rede damit beginnen zu müssen, daß er erst alles ausschüttet, was er wider seine Gegner auf dem Herzen hat. Und diese Verhandlungen werden mit einer Bitterkeit geführt, daß man oft zweifeln möchte, ob man sich noch in gebildeter Gesellschaft befinde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/504>, abgerufen am 29.12.2024.