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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die niederländische Genre- und Landschaftsmalerei.

brechend gewesen sind. Pieter Brueghel kann man nur im Wiener Belvedere
genügend kennen lernen, und ich hatte in der Zwischenzeit durch einen Besuch
Wiens Gelegenheit, mich von neuem in die dortigen Bilder des alten Brueghel
zu vertiefen. "Vertiefen" ist nämlich das richtige Wort. Mit einem Überblick
über das Ganze, mit der Gewinnung eines Totaleindrucks erreicht man bei
diesem sonderbaren Meister nichts. Seine Kompositionen wollen Stück für Stück,
jede Figur will für sich allein betrachtet sein, mit derselben Liebe, wie sie der
Künstler gemalt hat. Wenn man sich den Werdeprozeß dieser mit Hunderten
von Figuren angefüllten Bilder, in welchen es kribbelt und wimmelt wie in
einem Ameisenhaufen, vergegenwärtigt, so muß man annehmen, daß Brueghel
zuerst die Landschaft als festen Rahmen für das Ganze gemalt und dann etwa
den Vorgang, welcher sich in derselben abspielen sollte, in allgemeinen Zügen
festgestellt habe. Dann ist er ans Füllen gegangen und hat solange Figuren,
Bäume. Häuser u. dergl. in. in die Komposition hineingepfropft, bis kein Platz
mehr vorhanden war. Seine Naturstudien boten ihm dafür ein so reichhaltiges
Material, daß ihm diese Arbeit nicht schwer fallen konnte. "Komponirt" im
modernen Sinne hat er jedenfalls nicht. Es ist ihm schwerlich jemals in den
Sinn gekommen, wie es Rubens und andre nach ihm thaten, Zeichnungen oder
Ölskizzen anzufertigen, nach welchen er das Gemälde ausführte. Die definitive
Gestaltung desselben überließ er sicherlich dem Zufall und der Eingebung des
Augenblicks. Daher kommt es, daß auf solchen Kompositionen, auf welchen eine
historische Person den Mittelpunkt des Interesses bildet, diese Hauptfigur unter
der Fülle von Nebenfiguren fast verschwindet. Das sieht man besonders deutlich
auf der "Kreuztragung Christi," einem Hauptbilde Brueghels, und der "Bekeh¬
rung des Paulus." Eines der merkwürdigsten Bilder des Meisters, welche
die Galerie des Belvedere besitzt, ist der "Turmbau zu Babel." Hier verbindet
sich sogar die Phantasie mit einer gründlichen Wissenschaft, indem Brueghel
alles aufbietet, was zu seiner Zeit das Bauhandwerk mit Hilfe komplizirter
Maschinen zu leisten imstande war. Er läßt den Turm sich auf einem natür¬
lichen Felsen, welcher als Unterbau dient, erheben. Wie er es an den Bau¬
werken in seiner Umgebung gesehen hat, läßt er auch den babylonischen Turm aus
Backsteinen aufgemauert und außen mit Quadern verkleidet werden. Eine breite
Straße, auf welcher Baumaterialien hinaufbefördert werden, zieht sich in einer
Spirallinie um den Kern des Turmes herum. An den Wänden sind kleine Bau¬
hütten angelegt. Besonders merkwürdig sind die bis in die Wolken reichenden
Baugerüste und die Maschinen, mit welchen die Steine emporgewunden werden.
Das Baumaterial wird von Schiffen herbeigeführt, welche an einem gemauerten
Quai ausgeladen werden. Im Vordergrunde links ist ein Arbeitsplatz für die
Steinmetzen errichtet, welche mit der Bearbeitung der Steine beschäftigt sind.
Ganz im Hintergründe dehnt sich eine große Stadt von völlig niederländischen
Charakter aus. Und zu diesem architektonischen und landschaftlichen Aufbau


Die niederländische Genre- und Landschaftsmalerei.

brechend gewesen sind. Pieter Brueghel kann man nur im Wiener Belvedere
genügend kennen lernen, und ich hatte in der Zwischenzeit durch einen Besuch
Wiens Gelegenheit, mich von neuem in die dortigen Bilder des alten Brueghel
zu vertiefen. „Vertiefen" ist nämlich das richtige Wort. Mit einem Überblick
über das Ganze, mit der Gewinnung eines Totaleindrucks erreicht man bei
diesem sonderbaren Meister nichts. Seine Kompositionen wollen Stück für Stück,
jede Figur will für sich allein betrachtet sein, mit derselben Liebe, wie sie der
Künstler gemalt hat. Wenn man sich den Werdeprozeß dieser mit Hunderten
von Figuren angefüllten Bilder, in welchen es kribbelt und wimmelt wie in
einem Ameisenhaufen, vergegenwärtigt, so muß man annehmen, daß Brueghel
zuerst die Landschaft als festen Rahmen für das Ganze gemalt und dann etwa
den Vorgang, welcher sich in derselben abspielen sollte, in allgemeinen Zügen
festgestellt habe. Dann ist er ans Füllen gegangen und hat solange Figuren,
Bäume. Häuser u. dergl. in. in die Komposition hineingepfropft, bis kein Platz
mehr vorhanden war. Seine Naturstudien boten ihm dafür ein so reichhaltiges
Material, daß ihm diese Arbeit nicht schwer fallen konnte. „Komponirt" im
modernen Sinne hat er jedenfalls nicht. Es ist ihm schwerlich jemals in den
Sinn gekommen, wie es Rubens und andre nach ihm thaten, Zeichnungen oder
Ölskizzen anzufertigen, nach welchen er das Gemälde ausführte. Die definitive
Gestaltung desselben überließ er sicherlich dem Zufall und der Eingebung des
Augenblicks. Daher kommt es, daß auf solchen Kompositionen, auf welchen eine
historische Person den Mittelpunkt des Interesses bildet, diese Hauptfigur unter
der Fülle von Nebenfiguren fast verschwindet. Das sieht man besonders deutlich
auf der „Kreuztragung Christi," einem Hauptbilde Brueghels, und der „Bekeh¬
rung des Paulus." Eines der merkwürdigsten Bilder des Meisters, welche
die Galerie des Belvedere besitzt, ist der „Turmbau zu Babel." Hier verbindet
sich sogar die Phantasie mit einer gründlichen Wissenschaft, indem Brueghel
alles aufbietet, was zu seiner Zeit das Bauhandwerk mit Hilfe komplizirter
Maschinen zu leisten imstande war. Er läßt den Turm sich auf einem natür¬
lichen Felsen, welcher als Unterbau dient, erheben. Wie er es an den Bau¬
werken in seiner Umgebung gesehen hat, läßt er auch den babylonischen Turm aus
Backsteinen aufgemauert und außen mit Quadern verkleidet werden. Eine breite
Straße, auf welcher Baumaterialien hinaufbefördert werden, zieht sich in einer
Spirallinie um den Kern des Turmes herum. An den Wänden sind kleine Bau¬
hütten angelegt. Besonders merkwürdig sind die bis in die Wolken reichenden
Baugerüste und die Maschinen, mit welchen die Steine emporgewunden werden.
Das Baumaterial wird von Schiffen herbeigeführt, welche an einem gemauerten
Quai ausgeladen werden. Im Vordergrunde links ist ein Arbeitsplatz für die
Steinmetzen errichtet, welche mit der Bearbeitung der Steine beschäftigt sind.
Ganz im Hintergründe dehnt sich eine große Stadt von völlig niederländischen
Charakter aus. Und zu diesem architektonischen und landschaftlichen Aufbau


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[0419] Die niederländische Genre- und Landschaftsmalerei. brechend gewesen sind. Pieter Brueghel kann man nur im Wiener Belvedere genügend kennen lernen, und ich hatte in der Zwischenzeit durch einen Besuch Wiens Gelegenheit, mich von neuem in die dortigen Bilder des alten Brueghel zu vertiefen. „Vertiefen" ist nämlich das richtige Wort. Mit einem Überblick über das Ganze, mit der Gewinnung eines Totaleindrucks erreicht man bei diesem sonderbaren Meister nichts. Seine Kompositionen wollen Stück für Stück, jede Figur will für sich allein betrachtet sein, mit derselben Liebe, wie sie der Künstler gemalt hat. Wenn man sich den Werdeprozeß dieser mit Hunderten von Figuren angefüllten Bilder, in welchen es kribbelt und wimmelt wie in einem Ameisenhaufen, vergegenwärtigt, so muß man annehmen, daß Brueghel zuerst die Landschaft als festen Rahmen für das Ganze gemalt und dann etwa den Vorgang, welcher sich in derselben abspielen sollte, in allgemeinen Zügen festgestellt habe. Dann ist er ans Füllen gegangen und hat solange Figuren, Bäume. Häuser u. dergl. in. in die Komposition hineingepfropft, bis kein Platz mehr vorhanden war. Seine Naturstudien boten ihm dafür ein so reichhaltiges Material, daß ihm diese Arbeit nicht schwer fallen konnte. „Komponirt" im modernen Sinne hat er jedenfalls nicht. Es ist ihm schwerlich jemals in den Sinn gekommen, wie es Rubens und andre nach ihm thaten, Zeichnungen oder Ölskizzen anzufertigen, nach welchen er das Gemälde ausführte. Die definitive Gestaltung desselben überließ er sicherlich dem Zufall und der Eingebung des Augenblicks. Daher kommt es, daß auf solchen Kompositionen, auf welchen eine historische Person den Mittelpunkt des Interesses bildet, diese Hauptfigur unter der Fülle von Nebenfiguren fast verschwindet. Das sieht man besonders deutlich auf der „Kreuztragung Christi," einem Hauptbilde Brueghels, und der „Bekeh¬ rung des Paulus." Eines der merkwürdigsten Bilder des Meisters, welche die Galerie des Belvedere besitzt, ist der „Turmbau zu Babel." Hier verbindet sich sogar die Phantasie mit einer gründlichen Wissenschaft, indem Brueghel alles aufbietet, was zu seiner Zeit das Bauhandwerk mit Hilfe komplizirter Maschinen zu leisten imstande war. Er läßt den Turm sich auf einem natür¬ lichen Felsen, welcher als Unterbau dient, erheben. Wie er es an den Bau¬ werken in seiner Umgebung gesehen hat, läßt er auch den babylonischen Turm aus Backsteinen aufgemauert und außen mit Quadern verkleidet werden. Eine breite Straße, auf welcher Baumaterialien hinaufbefördert werden, zieht sich in einer Spirallinie um den Kern des Turmes herum. An den Wänden sind kleine Bau¬ hütten angelegt. Besonders merkwürdig sind die bis in die Wolken reichenden Baugerüste und die Maschinen, mit welchen die Steine emporgewunden werden. Das Baumaterial wird von Schiffen herbeigeführt, welche an einem gemauerten Quai ausgeladen werden. Im Vordergrunde links ist ein Arbeitsplatz für die Steinmetzen errichtet, welche mit der Bearbeitung der Steine beschäftigt sind. Ganz im Hintergründe dehnt sich eine große Stadt von völlig niederländischen Charakter aus. Und zu diesem architektonischen und landschaftlichen Aufbau

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/419>, abgerufen am 28.12.2024.