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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Wahlen.

Regung hat. Die Sozialdemokratie hat, wie ihr Name schon besagt, zwei Ziele:
soziale, und revolutionäre. Unter ihren soziale" Zielen befinden sich manche
berechtigte und schon die Mehrheit ihrer Stimmen verlangt, daß diesen berech¬
tigten Wünschen Abhilfe gewährt werde. Mit den revolutionären Zielen giebt
es freilich kein Pallirer. Aber an deren Beseitigung hat nicht minder die ganze
bestehende Gesellschaft wie die Negierung ein Interesse.

Die sozialdemokratische Partei hat vor vielen andern den großen Vorzug
der Offenheit; sie verbirgt nicht, was sie will. Sie will die ganze bestehende
Gesellschaft umstürzen und sicherlich auch mit Gewalt, wenn und sobald sie dazu
die Mittel hat. Mit einem solchen Gegner kann man rechnen. Ihm gegenüber
erheischt schon die Selbsterhaltungspflicht, daß sich die andern zusammenschließen;
allmählich wird auch dem bequemsten Philister und dem noch jetzt in fortschritt¬
licher Phrase befangenen klar werden, daß er um seines eignen Wohles willen
mit der Regierung gegen diese revolutionären Elemente zusammenhalten muß.
Für diese Einsicht bildet das Wachsen der Sozialdemokratie ein Mene-Tekel.

Den Vorzug dieser Offenheit hat die Fortschrittspartei jedenfalls nicht.
Hinter ihren parlamentarischen Herrschaftsgelüsten verbirgt sich ebenfalls Republik
und Revolution. Einige ihrer Kandidaten haben sogar aus ihren republikanischen
Neigungen gar kein Hehl gemacht. Der weniger Eingeweihte merkt aber diese
Gefahr nicht; er läßt sich von den heuchlerischen Phrasen täuschen, er glaubt
den byzantinischen Deklamationen loyaler Gesinnung und fördert so unbewußt
Ziele, die er erkannt verabscheuen würde.

Fortschritt und Sozialdemokratie führen beide zu dem gleichen Ziele des
Umsturzes, ersterer maskirt, letztere mit roher Offenheit. Der Sieg des ersteren
würde den deutschen Wähler in seinem Schlafe weiter bestärkt haben, das
Wachsen der letzteren erweckt ihn zwar unsanft aus seinen Träumen und
Lebensgewohnheiten, giebt ihm aber noch rechtzeitig die Möglichkeit, sich und
die Gesellschaft zu retten. Deshalb ist jedenfalls das Anwachsen der Sozial¬
demokratie viel weniger gefährlich als das des Fortschritts.

Selten noch hat das Ergebnis von Wahlen auch ohne Zustandekommen
einer festen Mehrheit so klare Blicke in die Zukunft eröffnet. Wer sich jetzt
noch blenden läßt, der darf sich nicht beklagen, wenn er in den offenen Ab¬
grund stürzt.




Die Wahlen.

Regung hat. Die Sozialdemokratie hat, wie ihr Name schon besagt, zwei Ziele:
soziale, und revolutionäre. Unter ihren soziale» Zielen befinden sich manche
berechtigte und schon die Mehrheit ihrer Stimmen verlangt, daß diesen berech¬
tigten Wünschen Abhilfe gewährt werde. Mit den revolutionären Zielen giebt
es freilich kein Pallirer. Aber an deren Beseitigung hat nicht minder die ganze
bestehende Gesellschaft wie die Negierung ein Interesse.

Die sozialdemokratische Partei hat vor vielen andern den großen Vorzug
der Offenheit; sie verbirgt nicht, was sie will. Sie will die ganze bestehende
Gesellschaft umstürzen und sicherlich auch mit Gewalt, wenn und sobald sie dazu
die Mittel hat. Mit einem solchen Gegner kann man rechnen. Ihm gegenüber
erheischt schon die Selbsterhaltungspflicht, daß sich die andern zusammenschließen;
allmählich wird auch dem bequemsten Philister und dem noch jetzt in fortschritt¬
licher Phrase befangenen klar werden, daß er um seines eignen Wohles willen
mit der Regierung gegen diese revolutionären Elemente zusammenhalten muß.
Für diese Einsicht bildet das Wachsen der Sozialdemokratie ein Mene-Tekel.

Den Vorzug dieser Offenheit hat die Fortschrittspartei jedenfalls nicht.
Hinter ihren parlamentarischen Herrschaftsgelüsten verbirgt sich ebenfalls Republik
und Revolution. Einige ihrer Kandidaten haben sogar aus ihren republikanischen
Neigungen gar kein Hehl gemacht. Der weniger Eingeweihte merkt aber diese
Gefahr nicht; er läßt sich von den heuchlerischen Phrasen täuschen, er glaubt
den byzantinischen Deklamationen loyaler Gesinnung und fördert so unbewußt
Ziele, die er erkannt verabscheuen würde.

Fortschritt und Sozialdemokratie führen beide zu dem gleichen Ziele des
Umsturzes, ersterer maskirt, letztere mit roher Offenheit. Der Sieg des ersteren
würde den deutschen Wähler in seinem Schlafe weiter bestärkt haben, das
Wachsen der letzteren erweckt ihn zwar unsanft aus seinen Träumen und
Lebensgewohnheiten, giebt ihm aber noch rechtzeitig die Möglichkeit, sich und
die Gesellschaft zu retten. Deshalb ist jedenfalls das Anwachsen der Sozial¬
demokratie viel weniger gefährlich als das des Fortschritts.

Selten noch hat das Ergebnis von Wahlen auch ohne Zustandekommen
einer festen Mehrheit so klare Blicke in die Zukunft eröffnet. Wer sich jetzt
noch blenden läßt, der darf sich nicht beklagen, wenn er in den offenen Ab¬
grund stürzt.




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[0386] Die Wahlen. Regung hat. Die Sozialdemokratie hat, wie ihr Name schon besagt, zwei Ziele: soziale, und revolutionäre. Unter ihren soziale» Zielen befinden sich manche berechtigte und schon die Mehrheit ihrer Stimmen verlangt, daß diesen berech¬ tigten Wünschen Abhilfe gewährt werde. Mit den revolutionären Zielen giebt es freilich kein Pallirer. Aber an deren Beseitigung hat nicht minder die ganze bestehende Gesellschaft wie die Negierung ein Interesse. Die sozialdemokratische Partei hat vor vielen andern den großen Vorzug der Offenheit; sie verbirgt nicht, was sie will. Sie will die ganze bestehende Gesellschaft umstürzen und sicherlich auch mit Gewalt, wenn und sobald sie dazu die Mittel hat. Mit einem solchen Gegner kann man rechnen. Ihm gegenüber erheischt schon die Selbsterhaltungspflicht, daß sich die andern zusammenschließen; allmählich wird auch dem bequemsten Philister und dem noch jetzt in fortschritt¬ licher Phrase befangenen klar werden, daß er um seines eignen Wohles willen mit der Regierung gegen diese revolutionären Elemente zusammenhalten muß. Für diese Einsicht bildet das Wachsen der Sozialdemokratie ein Mene-Tekel. Den Vorzug dieser Offenheit hat die Fortschrittspartei jedenfalls nicht. Hinter ihren parlamentarischen Herrschaftsgelüsten verbirgt sich ebenfalls Republik und Revolution. Einige ihrer Kandidaten haben sogar aus ihren republikanischen Neigungen gar kein Hehl gemacht. Der weniger Eingeweihte merkt aber diese Gefahr nicht; er läßt sich von den heuchlerischen Phrasen täuschen, er glaubt den byzantinischen Deklamationen loyaler Gesinnung und fördert so unbewußt Ziele, die er erkannt verabscheuen würde. Fortschritt und Sozialdemokratie führen beide zu dem gleichen Ziele des Umsturzes, ersterer maskirt, letztere mit roher Offenheit. Der Sieg des ersteren würde den deutschen Wähler in seinem Schlafe weiter bestärkt haben, das Wachsen der letzteren erweckt ihn zwar unsanft aus seinen Träumen und Lebensgewohnheiten, giebt ihm aber noch rechtzeitig die Möglichkeit, sich und die Gesellschaft zu retten. Deshalb ist jedenfalls das Anwachsen der Sozial¬ demokratie viel weniger gefährlich als das des Fortschritts. Selten noch hat das Ergebnis von Wahlen auch ohne Zustandekommen einer festen Mehrheit so klare Blicke in die Zukunft eröffnet. Wer sich jetzt noch blenden läßt, der darf sich nicht beklagen, wenn er in den offenen Ab¬ grund stürzt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/386>, abgerufen am 29.12.2024.