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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Venezianer zu Hause.

Eine zweite Form des Festes war der feierliche Aufzug, ihr Urbild die
Prozession. Unter diesen Begriff fallen ebensogut Bälle, wie Waffenspiele
und Auffahrten, Die Tänze, wie sie in Venedig üblich waren, haben freilich
mit modernen wenig Ähnlichkeit, sondern bestanden in gemessenen, rhythmischen
Bewegungen langer Reihen von Damen oder Herren; daher erklärt sich, daß
zuweilen selbst hohe Geistliche, wenn auch in weltlicher Tracht, daran teilzu¬
nehmen nicht verschmähten. Uralt war alles, was mit Kampf- und Waffen¬
spielen zusammenhing. Die ganze Bevölkerung beteiligte sich leidenschaftlich dabei.
So fanden alljährlich, in dieser Form seit 1292, zwischen September und Weih¬
nachten Faustkämpfe statt zwischen den Castelloni und Nieolotti, d, h. den Be¬
wohnern der östlichen und westlichen Hälfte Venedigs, und zwar auf Brücken
ohne Geländer, sodaß viele Kämpfer ein unfreiwilliges kaltes Bad im Kanäle
zu nehmen hatten. Noch Heinrich III. sah sie im Jahre 1574, ohne ihnen
indes vielen Geschmack abzugewinnen, denn die Sache artete leicht in blutige
Schlägerei aus. Eine andre Kraftübung bestand darin, daß auf einem Gerüst
oder ans zwei flachen Fahrzeugen die beiden Parteien Menschenpyramiden stellten
so hoch wie möglich. Kriegerische Zwecke verfolgten die im Mittelalter sehr
ausgebildeten Schießübungen, den deutschen Schützenfesten vergleichbar. Dazu
versammelten sich an den Festtagen alle jungen Leute über achtzehn Jahre bei
San Marco und fuhren auf langen Barken zu dreißig Ruderern hinaus zum
Lido, um hier, nach ihren Abteilungen geordnet, mit Armbrüsten zu schießen.
Im Jahre 1299 wurden Schießplätze auch in der Stadt für die einzelnen
Viertel eingerichtet und Preise ausgesetzt. Den Ernst des Krieges hatten
auch -- wenigstens zum Teil -- die Regatten im Auge, denn ihr Zweck war
die Übung der Rudermannschaften für die Galeeren. Die erste derselben fand
nachweislich im Jahre 1300 statt; 1315 verfügte ein Dekret, daß an allen
Marienfesten derartige Wettfahrten veranstaltet würden, und daß dazu die Auf¬
seher des Arsenals zwei große Fahrzeuge mit je fünfzig Ruderern zu stellen
hätten. Es rannten also nicht nur Barken, sondern auch Galeeren, und kein
Schauspiel war vielleicht mehr geeignet, die ganze Eigentümlichkeit des venezia¬
nischen Volkes zu zeigen als dies. Ebendeshalb hat es auch bis in die letzten
Zeiten der Republik sich behauptet.

Andre Kampfspiele traten dagegen allmählich zurück; ja man kann
daran die Beobachtung machen, daß Venedig alles, was an eine Landstadt er¬
innerte, allmählich abstreifte und seinen insularen, maritimen Charakter immer
reiner ausbildete. So waren im Mittelalter die Stierhetzen sehr beliebt, wenn
sie gleich einen weniger blutigen Charakter trugen als in Spanien. Glänzend
und in den mannichfachsten Formen entfalteten sich sodann die Turniere auf
dem Markusplatze, in der stilvollsten Umgebung, die vielleicht jemals ein Schau¬
spiel dieser Art eingerahmt hat. "Dann saß der Doge in der Loggia über dem
Portale der Markuskirche, oder er sah von den Fenstern seines Palastes aus


Die Venezianer zu Hause.

Eine zweite Form des Festes war der feierliche Aufzug, ihr Urbild die
Prozession. Unter diesen Begriff fallen ebensogut Bälle, wie Waffenspiele
und Auffahrten, Die Tänze, wie sie in Venedig üblich waren, haben freilich
mit modernen wenig Ähnlichkeit, sondern bestanden in gemessenen, rhythmischen
Bewegungen langer Reihen von Damen oder Herren; daher erklärt sich, daß
zuweilen selbst hohe Geistliche, wenn auch in weltlicher Tracht, daran teilzu¬
nehmen nicht verschmähten. Uralt war alles, was mit Kampf- und Waffen¬
spielen zusammenhing. Die ganze Bevölkerung beteiligte sich leidenschaftlich dabei.
So fanden alljährlich, in dieser Form seit 1292, zwischen September und Weih¬
nachten Faustkämpfe statt zwischen den Castelloni und Nieolotti, d, h. den Be¬
wohnern der östlichen und westlichen Hälfte Venedigs, und zwar auf Brücken
ohne Geländer, sodaß viele Kämpfer ein unfreiwilliges kaltes Bad im Kanäle
zu nehmen hatten. Noch Heinrich III. sah sie im Jahre 1574, ohne ihnen
indes vielen Geschmack abzugewinnen, denn die Sache artete leicht in blutige
Schlägerei aus. Eine andre Kraftübung bestand darin, daß auf einem Gerüst
oder ans zwei flachen Fahrzeugen die beiden Parteien Menschenpyramiden stellten
so hoch wie möglich. Kriegerische Zwecke verfolgten die im Mittelalter sehr
ausgebildeten Schießübungen, den deutschen Schützenfesten vergleichbar. Dazu
versammelten sich an den Festtagen alle jungen Leute über achtzehn Jahre bei
San Marco und fuhren auf langen Barken zu dreißig Ruderern hinaus zum
Lido, um hier, nach ihren Abteilungen geordnet, mit Armbrüsten zu schießen.
Im Jahre 1299 wurden Schießplätze auch in der Stadt für die einzelnen
Viertel eingerichtet und Preise ausgesetzt. Den Ernst des Krieges hatten
auch — wenigstens zum Teil — die Regatten im Auge, denn ihr Zweck war
die Übung der Rudermannschaften für die Galeeren. Die erste derselben fand
nachweislich im Jahre 1300 statt; 1315 verfügte ein Dekret, daß an allen
Marienfesten derartige Wettfahrten veranstaltet würden, und daß dazu die Auf¬
seher des Arsenals zwei große Fahrzeuge mit je fünfzig Ruderern zu stellen
hätten. Es rannten also nicht nur Barken, sondern auch Galeeren, und kein
Schauspiel war vielleicht mehr geeignet, die ganze Eigentümlichkeit des venezia¬
nischen Volkes zu zeigen als dies. Ebendeshalb hat es auch bis in die letzten
Zeiten der Republik sich behauptet.

Andre Kampfspiele traten dagegen allmählich zurück; ja man kann
daran die Beobachtung machen, daß Venedig alles, was an eine Landstadt er¬
innerte, allmählich abstreifte und seinen insularen, maritimen Charakter immer
reiner ausbildete. So waren im Mittelalter die Stierhetzen sehr beliebt, wenn
sie gleich einen weniger blutigen Charakter trugen als in Spanien. Glänzend
und in den mannichfachsten Formen entfalteten sich sodann die Turniere auf
dem Markusplatze, in der stilvollsten Umgebung, die vielleicht jemals ein Schau¬
spiel dieser Art eingerahmt hat. „Dann saß der Doge in der Loggia über dem
Portale der Markuskirche, oder er sah von den Fenstern seines Palastes aus


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[0378] Die Venezianer zu Hause. Eine zweite Form des Festes war der feierliche Aufzug, ihr Urbild die Prozession. Unter diesen Begriff fallen ebensogut Bälle, wie Waffenspiele und Auffahrten, Die Tänze, wie sie in Venedig üblich waren, haben freilich mit modernen wenig Ähnlichkeit, sondern bestanden in gemessenen, rhythmischen Bewegungen langer Reihen von Damen oder Herren; daher erklärt sich, daß zuweilen selbst hohe Geistliche, wenn auch in weltlicher Tracht, daran teilzu¬ nehmen nicht verschmähten. Uralt war alles, was mit Kampf- und Waffen¬ spielen zusammenhing. Die ganze Bevölkerung beteiligte sich leidenschaftlich dabei. So fanden alljährlich, in dieser Form seit 1292, zwischen September und Weih¬ nachten Faustkämpfe statt zwischen den Castelloni und Nieolotti, d, h. den Be¬ wohnern der östlichen und westlichen Hälfte Venedigs, und zwar auf Brücken ohne Geländer, sodaß viele Kämpfer ein unfreiwilliges kaltes Bad im Kanäle zu nehmen hatten. Noch Heinrich III. sah sie im Jahre 1574, ohne ihnen indes vielen Geschmack abzugewinnen, denn die Sache artete leicht in blutige Schlägerei aus. Eine andre Kraftübung bestand darin, daß auf einem Gerüst oder ans zwei flachen Fahrzeugen die beiden Parteien Menschenpyramiden stellten so hoch wie möglich. Kriegerische Zwecke verfolgten die im Mittelalter sehr ausgebildeten Schießübungen, den deutschen Schützenfesten vergleichbar. Dazu versammelten sich an den Festtagen alle jungen Leute über achtzehn Jahre bei San Marco und fuhren auf langen Barken zu dreißig Ruderern hinaus zum Lido, um hier, nach ihren Abteilungen geordnet, mit Armbrüsten zu schießen. Im Jahre 1299 wurden Schießplätze auch in der Stadt für die einzelnen Viertel eingerichtet und Preise ausgesetzt. Den Ernst des Krieges hatten auch — wenigstens zum Teil — die Regatten im Auge, denn ihr Zweck war die Übung der Rudermannschaften für die Galeeren. Die erste derselben fand nachweislich im Jahre 1300 statt; 1315 verfügte ein Dekret, daß an allen Marienfesten derartige Wettfahrten veranstaltet würden, und daß dazu die Auf¬ seher des Arsenals zwei große Fahrzeuge mit je fünfzig Ruderern zu stellen hätten. Es rannten also nicht nur Barken, sondern auch Galeeren, und kein Schauspiel war vielleicht mehr geeignet, die ganze Eigentümlichkeit des venezia¬ nischen Volkes zu zeigen als dies. Ebendeshalb hat es auch bis in die letzten Zeiten der Republik sich behauptet. Andre Kampfspiele traten dagegen allmählich zurück; ja man kann daran die Beobachtung machen, daß Venedig alles, was an eine Landstadt er¬ innerte, allmählich abstreifte und seinen insularen, maritimen Charakter immer reiner ausbildete. So waren im Mittelalter die Stierhetzen sehr beliebt, wenn sie gleich einen weniger blutigen Charakter trugen als in Spanien. Glänzend und in den mannichfachsten Formen entfalteten sich sodann die Turniere auf dem Markusplatze, in der stilvollsten Umgebung, die vielleicht jemals ein Schau¬ spiel dieser Art eingerahmt hat. „Dann saß der Doge in der Loggia über dem Portale der Markuskirche, oder er sah von den Fenstern seines Palastes aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/378>, abgerufen am 29.12.2024.