Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Literatur. scheint uns die erste Hälfte des Büchleins, die Geschichte des Begriffes in der Literatur. scheint uns die erste Hälfte des Büchleins, die Geschichte des Begriffes in der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0351" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157276"/> <fw type="header" place="top"> Literatur.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1232" prev="#ID_1231" next="#ID_1233"> scheint uns die erste Hälfte des Büchleins, die Geschichte des Begriffes in der<lb/> spekulativen Aesthetik, als für den Künstler überflüssig; da sie aber überdies noch<lb/> ganz besonders abstrakt und konzentrirt die höchst schwierigen Meinungen Hegels,<lb/> Solgers, Schellings, Bischers darstellt, so scheint sie uns auch für denjenigen, der<lb/> nur historisch davon Nutzen ziehen will, bei aller Anerkennung des geistvollen<lb/> Autors, nicht leicht faßlich und praktisch genug zu sein. Und denkt man vollends<lb/> an das berühmte Büchlein Hermann Hettners über das moderne Drama (1352),<lb/> welches gleichfalls mit der Absicht, den Dramatiker über seine eigne Kunst und<lb/> Pflicht aufzuklären, geschrieben wurde, so hält Goebels Büchlein den Vergleich nicht<lb/> aus, denn dieselben Ideen vom Wesen des Tragischen sind dort — gleichfalls im<lb/> Grunde mit Anschluß an Bischer — reicher und durch viele konkrete Beispiele erläutert<lb/> dargestellt. Einzig neu und wirklich anerkennenswert ist Goebels Kritik der<lb/> Schopenhauerschen Lehre und ganz besonders des in der That langweiligen Buches<lb/> von Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie. Aber zuvor müssen wir<lb/> Goebel auf den Widerspruch aufmerksam machen, in den er zu sich selbst gerät.<lb/> Er will dem buddhistischen Philosophen das „germanische" Ideal der Tragödie,<lb/> der indischen dumpfen Mystik das „germanische" Vertrauen auf eine sittliche Welt¬<lb/> ordnung entgegenstellen. Und doch bemerkt er S. 45 (mit vollem Recht!): „Wir<lb/> können sie (die vernünftige Weltanschauung'! nicht spezifisch germanisch nennen, denn<lb/> in unsrer ältern Poesie wird zu deutlich auf den fatalistischen Hintergrund im<lb/> Denken unsrer Vorfahren zurückgewiesen... Der Einfluß des Christentums ist<lb/> unverkennbar." Der ganze Begriff also von tragischer Schuld und Sühne, wie er<lb/> ihn aus den „germanischen" Denkern und Dichtern herstellt, hat schließlich doch<lb/> nichts spezifisch Germanisches an sich, sondern ist allgemein europäisch christlich, wie<lb/> er selber zugesteht. Es kann ja auch garnicht anders sein! Denn was wäre eine<lb/> Philosophie, die ihrer Natur nach auf absolute Wahrheit geht, ob sie nun einem<lb/> deutschen oder französischen oder slavischen Denkerkopfe entspringt, wenn sie sich in<lb/> die Grenzen der Nationalität zwängen ließe? Die deutschen Denker wären die<lb/> ersten, welche sich gegen die Anwendung solcher Kategorien wenden würden. Es<lb/> ist ja recht schön, seine Nation zu lieben; aber das Nationalitäteuprinzip gehört<lb/> nicht in die reine Wissenschaft. Antik und modern, das sind Gegensätze; aber<lb/> dennoch hat man mit Recht auf die Verwandtschaft des deutschen und griechischen<lb/> Geistes öfter hingewiesen. Und wenn wir Goebel in seinem Hasse des that- und<lb/> kraftlosen Buddhismus beistimmen, so geschieht es nicht, weil wir „Germanen" sind,<lb/> sondern weil wir des erstern ethische Unwahrheit erkennen. Und nun wollen wir<lb/> schließlich die treffendste Bemerkung Goebels gegen die Schopenhcmersche Philosophie<lb/> der Tragödie hierhersetzen. Er sagt (S. 103): „Zwar verlangen Schopenhauer und<lb/> seine Epigonen ähnliches von der Kunst wie wir (nämlich, daß das Schicksal ans<lb/> dem Charakter des Helden herauswachse^, aber welch ein Unterschied! Während<lb/> uns dort der Anblick wahrer Kunstwerke die innerste Lebenskraft für Augenblicke<lb/> erhöht, soll sie uns hier die Eitelkeit derselben zum Bewußtsein bringen, während<lb/> wir dort das Gefühl höchster Wahrheit haben, sollen wir hier im Momente der<lb/> Befreiung jenes Gefühl als Lüge und Sünde erkennen, die uns die Sehnsucht<lb/> nach dem Nirwana erwecken. Dem gesunden Sinne des Volkes wird solche<lb/> Afterkunst auch stets widerstehen, und gern überläßt er sie den Hypochondern und<lb/> rührungsseligen wie blasirten Gemütern. Wozu auch braucht es der Poesie, wenn<lb/> sie die alte Phrase vom Jammerthal dieser Welt nur in den Brennpunkt sammelt,<lb/> um damit einer Philosophie als Beweis zu dienen, welche diese Urschrulle zum<lb/> langweilig wiederholten Dogma erhoben hat. Denn auch bei aller selbständigen</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0351]
Literatur.
scheint uns die erste Hälfte des Büchleins, die Geschichte des Begriffes in der
spekulativen Aesthetik, als für den Künstler überflüssig; da sie aber überdies noch
ganz besonders abstrakt und konzentrirt die höchst schwierigen Meinungen Hegels,
Solgers, Schellings, Bischers darstellt, so scheint sie uns auch für denjenigen, der
nur historisch davon Nutzen ziehen will, bei aller Anerkennung des geistvollen
Autors, nicht leicht faßlich und praktisch genug zu sein. Und denkt man vollends
an das berühmte Büchlein Hermann Hettners über das moderne Drama (1352),
welches gleichfalls mit der Absicht, den Dramatiker über seine eigne Kunst und
Pflicht aufzuklären, geschrieben wurde, so hält Goebels Büchlein den Vergleich nicht
aus, denn dieselben Ideen vom Wesen des Tragischen sind dort — gleichfalls im
Grunde mit Anschluß an Bischer — reicher und durch viele konkrete Beispiele erläutert
dargestellt. Einzig neu und wirklich anerkennenswert ist Goebels Kritik der
Schopenhauerschen Lehre und ganz besonders des in der That langweiligen Buches
von Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie. Aber zuvor müssen wir
Goebel auf den Widerspruch aufmerksam machen, in den er zu sich selbst gerät.
Er will dem buddhistischen Philosophen das „germanische" Ideal der Tragödie,
der indischen dumpfen Mystik das „germanische" Vertrauen auf eine sittliche Welt¬
ordnung entgegenstellen. Und doch bemerkt er S. 45 (mit vollem Recht!): „Wir
können sie (die vernünftige Weltanschauung'! nicht spezifisch germanisch nennen, denn
in unsrer ältern Poesie wird zu deutlich auf den fatalistischen Hintergrund im
Denken unsrer Vorfahren zurückgewiesen... Der Einfluß des Christentums ist
unverkennbar." Der ganze Begriff also von tragischer Schuld und Sühne, wie er
ihn aus den „germanischen" Denkern und Dichtern herstellt, hat schließlich doch
nichts spezifisch Germanisches an sich, sondern ist allgemein europäisch christlich, wie
er selber zugesteht. Es kann ja auch garnicht anders sein! Denn was wäre eine
Philosophie, die ihrer Natur nach auf absolute Wahrheit geht, ob sie nun einem
deutschen oder französischen oder slavischen Denkerkopfe entspringt, wenn sie sich in
die Grenzen der Nationalität zwängen ließe? Die deutschen Denker wären die
ersten, welche sich gegen die Anwendung solcher Kategorien wenden würden. Es
ist ja recht schön, seine Nation zu lieben; aber das Nationalitäteuprinzip gehört
nicht in die reine Wissenschaft. Antik und modern, das sind Gegensätze; aber
dennoch hat man mit Recht auf die Verwandtschaft des deutschen und griechischen
Geistes öfter hingewiesen. Und wenn wir Goebel in seinem Hasse des that- und
kraftlosen Buddhismus beistimmen, so geschieht es nicht, weil wir „Germanen" sind,
sondern weil wir des erstern ethische Unwahrheit erkennen. Und nun wollen wir
schließlich die treffendste Bemerkung Goebels gegen die Schopenhcmersche Philosophie
der Tragödie hierhersetzen. Er sagt (S. 103): „Zwar verlangen Schopenhauer und
seine Epigonen ähnliches von der Kunst wie wir (nämlich, daß das Schicksal ans
dem Charakter des Helden herauswachse^, aber welch ein Unterschied! Während
uns dort der Anblick wahrer Kunstwerke die innerste Lebenskraft für Augenblicke
erhöht, soll sie uns hier die Eitelkeit derselben zum Bewußtsein bringen, während
wir dort das Gefühl höchster Wahrheit haben, sollen wir hier im Momente der
Befreiung jenes Gefühl als Lüge und Sünde erkennen, die uns die Sehnsucht
nach dem Nirwana erwecken. Dem gesunden Sinne des Volkes wird solche
Afterkunst auch stets widerstehen, und gern überläßt er sie den Hypochondern und
rührungsseligen wie blasirten Gemütern. Wozu auch braucht es der Poesie, wenn
sie die alte Phrase vom Jammerthal dieser Welt nur in den Brennpunkt sammelt,
um damit einer Philosophie als Beweis zu dienen, welche diese Urschrulle zum
langweilig wiederholten Dogma erhoben hat. Denn auch bei aller selbständigen
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