Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Schiller und Bürger. weist, die Form einer größern kunstreichen Komposition erheischt. Dringt man Bürgers Bestreben war aber darauf gerichtet gewesen, die echte Ballade in Schiller und Bürger. weist, die Form einer größern kunstreichen Komposition erheischt. Dringt man Bürgers Bestreben war aber darauf gerichtet gewesen, die echte Ballade in <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0027" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156952"/> <fw type="header" place="top"> Schiller und Bürger.</fw><lb/> <p xml:id="ID_55" prev="#ID_54"> weist, die Form einer größern kunstreichen Komposition erheischt. Dringt man<lb/> tiefer in das Gebiet der Sage und der Volkspoesie ein, so erkennt man, daß<lb/> der hochgebildete Kunstdichter in der Regel nur Romanzen zu dichten vermag,<lb/> wogegen das Volkslied zur Ballade wird, wenn es das Gebiet der bloßen Erotik<lb/> verläßt. Der Grund ist ein doppelter. Das Volk vor einigen hundert Jahren,<lb/> dem wir unsre echten Volkslieder verdanken, hatte keine von der Religion ge¬<lb/> lösten sittlichen Ideen. Es konnte sie also auch nicht in weltlichen Reimen<lb/> niederlegen. Es hatte aber auch, mag es sich mit dem alten deutschen Volks¬<lb/> gedichte verhalten wie es will, zu jener Zeit kein Epos. Die Möglichkeit einer<lb/> geschichtlichen Darstellung war also im echten Volksliede nicht vorhanden. Die<lb/> Volksballade erzählte kunstlos, ohne Logik mit vielen Gedankensprüngen. Ihr<lb/> Versmaß in Deutschland war der Jambus mit Anapästen. In der alten<lb/> schottischen Volksballade, welche der deutschen ähnlich, aber früher als diese auf¬<lb/> gezeichnet ist, holt Wilhelms Geist Margret, weil sie sich über seinen Tod nicht<lb/> beruhigen kann. Sie unterliegt also allerdings einer dunkeln Naturgewalt.<lb/> Bei Bürger dagegen holt Wilhelm Lenore ins Grab, weil sie im Schmerze<lb/> über seinen Tod Gott gelästert hat. Ist das noch ein Balladenmotiv wie in<lb/> dem schottischen und deutschen Gedichte? Jedenfalls nicht, denn nun siegt eine<lb/> sittliche Idee. Das Ganze ist jetzt eine kunstvolle Romanze, die für Schillers<lb/> Romanzen das unmittelbare Vorbild wurde. Auch das Versmaß ist zu reinen<lb/> und kunstvollen Jamben komponirt und abgeglättet. Ebenso wurde der „Wilde<lb/> Jäger" unter den Händen des gebildeten Dichters zur Romanze, in welcher aller<lb/> Spuk nur der sittlichen Idee der Bestrafung einer Anzahl von Freveln dient,<lb/> die aus der übermäßigen Jagdlust hervorgegangen sind. Indem Bürger in der<lb/> „Lenore" wie im „Wilden Jäger" vom Aberglauben zur sittlichen Idee fort¬<lb/> schritt, fand er den Übergang zur neuen Romanze in der deutschen Literatur.<lb/> Die vorhergegangenen Gleimschen Romanzen mit ihrer „possierlichen Traurig¬<lb/> keit" und andres waren dagegen verhältnismäßig wertlos geworden. Aber über¬<lb/> troffen oder doch wenigstens erreicht wurde Bürger selbst hier durch Schiller,<lb/> der sogar in die Romanze seine komplizirten und reichen, zum Teil sogar fremd¬<lb/> ländischen Stoffe einführte, welche sein neues Programm, die Rezension von<lb/> Bürgers Gedichten, in Aussicht gestellt hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_56" next="#ID_57"> Bürgers Bestreben war aber darauf gerichtet gewesen, die echte Ballade in<lb/> die Kunstpoesie einzuführen. Er sprach mit einem viel größern Selbstlobe von<lb/> „Lenardo und Blcmdine" als von „Lenore," offenbar weil er erst „Lenardo<lb/> und Blcmdine" für ganz volkstümlich hielt. Noch näher als in diesem wider¬<lb/> wärtigen Gedicht ist er in „Des Pfarrers Tochter zu Taubenhain" der Ballade<lb/> gekommen. In beiden fehlen dann anch nicht die volkstümlichen Anapaesten<lb/> zwischen den Jamben. Durch eine außerordentlich freie Naturbeobachtung sucht<lb/> sich Bürger in „Des Pfarrers Tochter von Taubenhain" der in der Volks¬<lb/> ballade unbedingt herrschenden Natur zu nähern. Nach Bischer stellt nun aller-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0027]
Schiller und Bürger.
weist, die Form einer größern kunstreichen Komposition erheischt. Dringt man
tiefer in das Gebiet der Sage und der Volkspoesie ein, so erkennt man, daß
der hochgebildete Kunstdichter in der Regel nur Romanzen zu dichten vermag,
wogegen das Volkslied zur Ballade wird, wenn es das Gebiet der bloßen Erotik
verläßt. Der Grund ist ein doppelter. Das Volk vor einigen hundert Jahren,
dem wir unsre echten Volkslieder verdanken, hatte keine von der Religion ge¬
lösten sittlichen Ideen. Es konnte sie also auch nicht in weltlichen Reimen
niederlegen. Es hatte aber auch, mag es sich mit dem alten deutschen Volks¬
gedichte verhalten wie es will, zu jener Zeit kein Epos. Die Möglichkeit einer
geschichtlichen Darstellung war also im echten Volksliede nicht vorhanden. Die
Volksballade erzählte kunstlos, ohne Logik mit vielen Gedankensprüngen. Ihr
Versmaß in Deutschland war der Jambus mit Anapästen. In der alten
schottischen Volksballade, welche der deutschen ähnlich, aber früher als diese auf¬
gezeichnet ist, holt Wilhelms Geist Margret, weil sie sich über seinen Tod nicht
beruhigen kann. Sie unterliegt also allerdings einer dunkeln Naturgewalt.
Bei Bürger dagegen holt Wilhelm Lenore ins Grab, weil sie im Schmerze
über seinen Tod Gott gelästert hat. Ist das noch ein Balladenmotiv wie in
dem schottischen und deutschen Gedichte? Jedenfalls nicht, denn nun siegt eine
sittliche Idee. Das Ganze ist jetzt eine kunstvolle Romanze, die für Schillers
Romanzen das unmittelbare Vorbild wurde. Auch das Versmaß ist zu reinen
und kunstvollen Jamben komponirt und abgeglättet. Ebenso wurde der „Wilde
Jäger" unter den Händen des gebildeten Dichters zur Romanze, in welcher aller
Spuk nur der sittlichen Idee der Bestrafung einer Anzahl von Freveln dient,
die aus der übermäßigen Jagdlust hervorgegangen sind. Indem Bürger in der
„Lenore" wie im „Wilden Jäger" vom Aberglauben zur sittlichen Idee fort¬
schritt, fand er den Übergang zur neuen Romanze in der deutschen Literatur.
Die vorhergegangenen Gleimschen Romanzen mit ihrer „possierlichen Traurig¬
keit" und andres waren dagegen verhältnismäßig wertlos geworden. Aber über¬
troffen oder doch wenigstens erreicht wurde Bürger selbst hier durch Schiller,
der sogar in die Romanze seine komplizirten und reichen, zum Teil sogar fremd¬
ländischen Stoffe einführte, welche sein neues Programm, die Rezension von
Bürgers Gedichten, in Aussicht gestellt hatte.
Bürgers Bestreben war aber darauf gerichtet gewesen, die echte Ballade in
die Kunstpoesie einzuführen. Er sprach mit einem viel größern Selbstlobe von
„Lenardo und Blcmdine" als von „Lenore," offenbar weil er erst „Lenardo
und Blcmdine" für ganz volkstümlich hielt. Noch näher als in diesem wider¬
wärtigen Gedicht ist er in „Des Pfarrers Tochter zu Taubenhain" der Ballade
gekommen. In beiden fehlen dann anch nicht die volkstümlichen Anapaesten
zwischen den Jamben. Durch eine außerordentlich freie Naturbeobachtung sucht
sich Bürger in „Des Pfarrers Tochter von Taubenhain" der in der Volks¬
ballade unbedingt herrschenden Natur zu nähern. Nach Bischer stellt nun aller-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |