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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Hildebrand-Ausstellung in Berlin.

Wenn sich in der Thätigkeit eines einzelnen Künstlers die Aufgabe der Kunst
rein darstellt. Wo dies aber der Fall ist, da ist auch die Sicherheit einer
stetig fortschreitenden Entwicklung gegeben. Wer, nachdem er vielleicht die künst-
lerische Persönlichkeit Hildebrands seit jenem ersten Auftreten aus den Augen
verloren hatte, nun den Raum betritt, in welchem, wenn nicht vollständig, so
doch zum großen Teil, die Arbeiten vereinigt sind, die in diesem zehnjährigen
Zeitraum entstanden sind, der muß eine seltene Genugthuung darüber empfinden,
daß er das, was er im Keime schon erkannt hatte, nun zu herrlicher Blüte
entfaltet den Augen vieler offenbar geworden sieht. Denn in der That, wenn
man jenes früheste der hier ausgestellten Werke, den schlafenden Hirtenknaben,
und das späteste, die männliche Figur, ins Auge faßt, wenn man den Blick
von dem einen zum andern wandern läßt, so fühlt man unwillkürlich, wie das
künstlerische Ergreifen der natürlichen Erscheinung des Lebens, welches dort noch
als das sinnige Resultat aus einem intimen, halb träumerischen Anschluß an
die Natur erscheint, hier zur männlich bewußten That geworden ist. Was
anders ist denn im Grunde der Sinn einer künstlerischen Entwicklung, als das
erscheinende Dasein der Natur zu immer klareren, energischeren, überzeugenderem
Ausdruck heranzubilden! Was auch Kunstwerke sonst für mannichfaltige Reize
ausüben, was für verschiedenartige Zwecke sie erfüllen mögen, wo nicht dieses
Ausdrucksbedürfnis das bewegende und belebende Motiv der bildenden Thätig¬
keit ist, da ist es nicht der Mühe wert, von Kunst zu reden; und alles Er¬
hebende, alles Entzückende, was dem Eindruck nachgerühmt wird, der von Kunst¬
werken ausgeht, kann für den künstlerisch empfänglichen Sinn in nichts anderen
liegen, als in dieser Art der Naturosfenbarung, die sich durch den Künstler und
uur durch ihn vollzieht.

Ich weiß nicht, ob man in weitern Kreisen des Publikums auf einen hin¬
länglich offenen und unbefangnen Sinn rechnen kann, um gerade von den
Arbeiten Hildebrands eine allgemeine Wirkung voraussetzen zu dürfen. Es ist
ja nicht zu leugnen, daß es gegenwärtig schwer ist, den geraden Weg zur Kunst
zu finden. Wer aber die ausgestellten Werke in jenem oben angedeuteten Sinne
betrachtet, dem werden sie nicht mehr fremd und vereinzelt gegenüberstehen,
vielmehr wird er sich dem Wirken einer Kraft nahe fühlen, die, wo sie auch
das Leben packt, es gestaltend zur Erscheinung zu bringen gezwungen ist. Hat
er diesen Standpunkt gewonnen, so wird seinem eindringenden Verständnis des
einzelnen Werkes und der Stellung desselben im Zusammenhang aller kaum
eine Grenze gezogen sein; er wird im einzelnen Falle sich Rechenschaft zu geben
vermögen, worauf es beruht, daß ihm die Natur, mit der er doch tagtäglich
verkehrt, die ihm wie jedem andern anzugehören scheint, erst im Werke des
Künstlers unverfälscht und in der vollen Macht ihrer Erscheinung entgegentritt,
und es wird ihm eine gewisse Genugthuung gewähren, wenn er bei dem Ver¬
gleichen der verschiednen Arbeiten untereinander erkennt, wie das Talent sich in


Die Hildebrand-Ausstellung in Berlin.

Wenn sich in der Thätigkeit eines einzelnen Künstlers die Aufgabe der Kunst
rein darstellt. Wo dies aber der Fall ist, da ist auch die Sicherheit einer
stetig fortschreitenden Entwicklung gegeben. Wer, nachdem er vielleicht die künst-
lerische Persönlichkeit Hildebrands seit jenem ersten Auftreten aus den Augen
verloren hatte, nun den Raum betritt, in welchem, wenn nicht vollständig, so
doch zum großen Teil, die Arbeiten vereinigt sind, die in diesem zehnjährigen
Zeitraum entstanden sind, der muß eine seltene Genugthuung darüber empfinden,
daß er das, was er im Keime schon erkannt hatte, nun zu herrlicher Blüte
entfaltet den Augen vieler offenbar geworden sieht. Denn in der That, wenn
man jenes früheste der hier ausgestellten Werke, den schlafenden Hirtenknaben,
und das späteste, die männliche Figur, ins Auge faßt, wenn man den Blick
von dem einen zum andern wandern läßt, so fühlt man unwillkürlich, wie das
künstlerische Ergreifen der natürlichen Erscheinung des Lebens, welches dort noch
als das sinnige Resultat aus einem intimen, halb träumerischen Anschluß an
die Natur erscheint, hier zur männlich bewußten That geworden ist. Was
anders ist denn im Grunde der Sinn einer künstlerischen Entwicklung, als das
erscheinende Dasein der Natur zu immer klareren, energischeren, überzeugenderem
Ausdruck heranzubilden! Was auch Kunstwerke sonst für mannichfaltige Reize
ausüben, was für verschiedenartige Zwecke sie erfüllen mögen, wo nicht dieses
Ausdrucksbedürfnis das bewegende und belebende Motiv der bildenden Thätig¬
keit ist, da ist es nicht der Mühe wert, von Kunst zu reden; und alles Er¬
hebende, alles Entzückende, was dem Eindruck nachgerühmt wird, der von Kunst¬
werken ausgeht, kann für den künstlerisch empfänglichen Sinn in nichts anderen
liegen, als in dieser Art der Naturosfenbarung, die sich durch den Künstler und
uur durch ihn vollzieht.

Ich weiß nicht, ob man in weitern Kreisen des Publikums auf einen hin¬
länglich offenen und unbefangnen Sinn rechnen kann, um gerade von den
Arbeiten Hildebrands eine allgemeine Wirkung voraussetzen zu dürfen. Es ist
ja nicht zu leugnen, daß es gegenwärtig schwer ist, den geraden Weg zur Kunst
zu finden. Wer aber die ausgestellten Werke in jenem oben angedeuteten Sinne
betrachtet, dem werden sie nicht mehr fremd und vereinzelt gegenüberstehen,
vielmehr wird er sich dem Wirken einer Kraft nahe fühlen, die, wo sie auch
das Leben packt, es gestaltend zur Erscheinung zu bringen gezwungen ist. Hat
er diesen Standpunkt gewonnen, so wird seinem eindringenden Verständnis des
einzelnen Werkes und der Stellung desselben im Zusammenhang aller kaum
eine Grenze gezogen sein; er wird im einzelnen Falle sich Rechenschaft zu geben
vermögen, worauf es beruht, daß ihm die Natur, mit der er doch tagtäglich
verkehrt, die ihm wie jedem andern anzugehören scheint, erst im Werke des
Künstlers unverfälscht und in der vollen Macht ihrer Erscheinung entgegentritt,
und es wird ihm eine gewisse Genugthuung gewähren, wenn er bei dem Ver¬
gleichen der verschiednen Arbeiten untereinander erkennt, wie das Talent sich in


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[0244] Die Hildebrand-Ausstellung in Berlin. Wenn sich in der Thätigkeit eines einzelnen Künstlers die Aufgabe der Kunst rein darstellt. Wo dies aber der Fall ist, da ist auch die Sicherheit einer stetig fortschreitenden Entwicklung gegeben. Wer, nachdem er vielleicht die künst- lerische Persönlichkeit Hildebrands seit jenem ersten Auftreten aus den Augen verloren hatte, nun den Raum betritt, in welchem, wenn nicht vollständig, so doch zum großen Teil, die Arbeiten vereinigt sind, die in diesem zehnjährigen Zeitraum entstanden sind, der muß eine seltene Genugthuung darüber empfinden, daß er das, was er im Keime schon erkannt hatte, nun zu herrlicher Blüte entfaltet den Augen vieler offenbar geworden sieht. Denn in der That, wenn man jenes früheste der hier ausgestellten Werke, den schlafenden Hirtenknaben, und das späteste, die männliche Figur, ins Auge faßt, wenn man den Blick von dem einen zum andern wandern läßt, so fühlt man unwillkürlich, wie das künstlerische Ergreifen der natürlichen Erscheinung des Lebens, welches dort noch als das sinnige Resultat aus einem intimen, halb träumerischen Anschluß an die Natur erscheint, hier zur männlich bewußten That geworden ist. Was anders ist denn im Grunde der Sinn einer künstlerischen Entwicklung, als das erscheinende Dasein der Natur zu immer klareren, energischeren, überzeugenderem Ausdruck heranzubilden! Was auch Kunstwerke sonst für mannichfaltige Reize ausüben, was für verschiedenartige Zwecke sie erfüllen mögen, wo nicht dieses Ausdrucksbedürfnis das bewegende und belebende Motiv der bildenden Thätig¬ keit ist, da ist es nicht der Mühe wert, von Kunst zu reden; und alles Er¬ hebende, alles Entzückende, was dem Eindruck nachgerühmt wird, der von Kunst¬ werken ausgeht, kann für den künstlerisch empfänglichen Sinn in nichts anderen liegen, als in dieser Art der Naturosfenbarung, die sich durch den Künstler und uur durch ihn vollzieht. Ich weiß nicht, ob man in weitern Kreisen des Publikums auf einen hin¬ länglich offenen und unbefangnen Sinn rechnen kann, um gerade von den Arbeiten Hildebrands eine allgemeine Wirkung voraussetzen zu dürfen. Es ist ja nicht zu leugnen, daß es gegenwärtig schwer ist, den geraden Weg zur Kunst zu finden. Wer aber die ausgestellten Werke in jenem oben angedeuteten Sinne betrachtet, dem werden sie nicht mehr fremd und vereinzelt gegenüberstehen, vielmehr wird er sich dem Wirken einer Kraft nahe fühlen, die, wo sie auch das Leben packt, es gestaltend zur Erscheinung zu bringen gezwungen ist. Hat er diesen Standpunkt gewonnen, so wird seinem eindringenden Verständnis des einzelnen Werkes und der Stellung desselben im Zusammenhang aller kaum eine Grenze gezogen sein; er wird im einzelnen Falle sich Rechenschaft zu geben vermögen, worauf es beruht, daß ihm die Natur, mit der er doch tagtäglich verkehrt, die ihm wie jedem andern anzugehören scheint, erst im Werke des Künstlers unverfälscht und in der vollen Macht ihrer Erscheinung entgegentritt, und es wird ihm eine gewisse Genugthuung gewähren, wenn er bei dem Ver¬ gleichen der verschiednen Arbeiten untereinander erkennt, wie das Talent sich in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/244>, abgerufen am 29.12.2024.