Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Marie von Vlfers, nur als Stimmungsbild hineinragt. Schon der Name der Heldin Simplizitas Simplizitas ist ein junges Mädchen von ausgezeichneter Schönheit, Un¬
Erst als sie gezwungen an das Sterbebett des toten Jünglings kommt, dämmert Marie von Vlfers, nur als Stimmungsbild hineinragt. Schon der Name der Heldin Simplizitas Simplizitas ist ein junges Mädchen von ausgezeichneter Schönheit, Un¬
Erst als sie gezwungen an das Sterbebett des toten Jünglings kommt, dämmert <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0139" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157064"/> <fw type="header" place="top"> Marie von Vlfers,</fw><lb/> <p xml:id="ID_437" prev="#ID_436"> nur als Stimmungsbild hineinragt. Schon der Name der Heldin Simplizitas<lb/> deutet auf diese mehr typische Kunst hin, und man wird nicht fehlgehen, wenn<lb/> man sich in dieser Gestalt das typische Ideal der weiblichen Natur denkt, welches<lb/> der Dichterin vor Augen schwebt; möglich auch, daß sie daran dachte, das<lb/> weibliche Gegenstück zum Simplicissimus des Grimmelshausen zu schaffen; noch<lb/> näher liegt der Vergleich mit Parzival.</p><lb/> <p xml:id="ID_438"> Simplizitas ist ein junges Mädchen von ausgezeichneter Schönheit, Un¬<lb/> schuld und Einfalt. Ihre Schönheit öffnet ihr alle Thüren der Menschen, zu<lb/> denen sie aus der Einsamkeit des Waldes, in dem sie aufgewachsen, kommt, um<lb/> Dienst und Unterkommen zu finden. Aber der Zauber, den ihre Schönheit und<lb/> Unschuld ausübt, gereicht allen zum Unheil, die sie aufnehmen. Sie wird der<lb/> Grund des Unterganges der Müllerfamilie, die sie zuerst in Dienst genommen:<lb/> unbewußt stiehlt die schöne Magd der Müllerin die Liebe der Kinder und auch<lb/> bald die des Mannes; es kommt Zwietracht in ihr eheliches Leben, das damit<lb/> endet, daß der Müller in halbem Wahnsinn Haus und Hof anzündet, selbst<lb/> verbrennt und Weib und Kind als Bettler zurückläßt. Dann nimmt ein junger<lb/> Vogelfänger, der im Walde mit seiner Mutter lebt, Simplizitas ins Haus. Er<lb/> liebt sie und will sie zu seinem Weibe machen. Doch die Rachsucht der ver¬<lb/> armten Müllerin verfolgt sie bis in sein Haus, und sie entflicht in das nahe<lb/> Kloster. Ob ihrer Flucht grämt sich der Jüngling zu Tode; das einfältige<lb/> Mädchen läßt sich nicht erbitten, an sein Lager zu kommen, so innig auch seine<lb/> Mutter darum flehen mag. Simplizitas kennt die Liebe noch nicht.</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_7" type="poem"> <l> Umsonst bemühn sie sich (die Nonnen), ihr Gottes Wort zu lehren.<lb/> Voll Andacht scheint sie zuzuhören,<lb/> Und schien sie auch schon halb gewonnen,<lb/> Braucht es nur einen Strahl der Sonnen,<lb/> Ist sie entronnen.<lb/> Mit Scheu betrachtet sie die heil'gen Wunden,<lb/> Den Christ am Kreuz im Dornenkranz gebunden,<lb/> Und kann die Liebe nicht verstehen,<lb/> Die durch so lcidensvolle Stunden<lb/> Für uns zum Kreuze mochte gehen.<lb/> Nicht von der Freude will sie scheiden,<lb/> Ihr dunkel, lieben heiße leiden.</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_439" next="#ID_440"> Erst als sie gezwungen an das Sterbebett des toten Jünglings kommt, dämmert<lb/> in ihrer bis dahin pflanzenartig dahinlebenden Seele ein Gefühl des Mitleids<lb/> auf: „Denn treue Liebe weiß sich so zu rächen." Da weint sie auch zum ersten<lb/> male im Leben. So lernt sie die Liebe als Leiden kennen. Aber nun kommt<lb/> auch das Kloster, das sie gastlich aufgenommen, durch sie in Gefahr. Sie ist<lb/> im Dorfe nach all dem Unheil, das sie freilich ohne Schuld angerichtet, als<lb/> Hexe verschrien; der Pöbel fordert sie von den Nonnen und droht schon, das<lb/> geschlossene Kloster zu stürmen, da tritt der Graf Sever vom nahen Schlosse</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0139]
Marie von Vlfers,
nur als Stimmungsbild hineinragt. Schon der Name der Heldin Simplizitas
deutet auf diese mehr typische Kunst hin, und man wird nicht fehlgehen, wenn
man sich in dieser Gestalt das typische Ideal der weiblichen Natur denkt, welches
der Dichterin vor Augen schwebt; möglich auch, daß sie daran dachte, das
weibliche Gegenstück zum Simplicissimus des Grimmelshausen zu schaffen; noch
näher liegt der Vergleich mit Parzival.
Simplizitas ist ein junges Mädchen von ausgezeichneter Schönheit, Un¬
schuld und Einfalt. Ihre Schönheit öffnet ihr alle Thüren der Menschen, zu
denen sie aus der Einsamkeit des Waldes, in dem sie aufgewachsen, kommt, um
Dienst und Unterkommen zu finden. Aber der Zauber, den ihre Schönheit und
Unschuld ausübt, gereicht allen zum Unheil, die sie aufnehmen. Sie wird der
Grund des Unterganges der Müllerfamilie, die sie zuerst in Dienst genommen:
unbewußt stiehlt die schöne Magd der Müllerin die Liebe der Kinder und auch
bald die des Mannes; es kommt Zwietracht in ihr eheliches Leben, das damit
endet, daß der Müller in halbem Wahnsinn Haus und Hof anzündet, selbst
verbrennt und Weib und Kind als Bettler zurückläßt. Dann nimmt ein junger
Vogelfänger, der im Walde mit seiner Mutter lebt, Simplizitas ins Haus. Er
liebt sie und will sie zu seinem Weibe machen. Doch die Rachsucht der ver¬
armten Müllerin verfolgt sie bis in sein Haus, und sie entflicht in das nahe
Kloster. Ob ihrer Flucht grämt sich der Jüngling zu Tode; das einfältige
Mädchen läßt sich nicht erbitten, an sein Lager zu kommen, so innig auch seine
Mutter darum flehen mag. Simplizitas kennt die Liebe noch nicht.
Umsonst bemühn sie sich (die Nonnen), ihr Gottes Wort zu lehren.
Voll Andacht scheint sie zuzuhören,
Und schien sie auch schon halb gewonnen,
Braucht es nur einen Strahl der Sonnen,
Ist sie entronnen.
Mit Scheu betrachtet sie die heil'gen Wunden,
Den Christ am Kreuz im Dornenkranz gebunden,
Und kann die Liebe nicht verstehen,
Die durch so lcidensvolle Stunden
Für uns zum Kreuze mochte gehen.
Nicht von der Freude will sie scheiden,
Ihr dunkel, lieben heiße leiden.
Erst als sie gezwungen an das Sterbebett des toten Jünglings kommt, dämmert
in ihrer bis dahin pflanzenartig dahinlebenden Seele ein Gefühl des Mitleids
auf: „Denn treue Liebe weiß sich so zu rächen." Da weint sie auch zum ersten
male im Leben. So lernt sie die Liebe als Leiden kennen. Aber nun kommt
auch das Kloster, das sie gastlich aufgenommen, durch sie in Gefahr. Sie ist
im Dorfe nach all dem Unheil, das sie freilich ohne Schuld angerichtet, als
Hexe verschrien; der Pöbel fordert sie von den Nonnen und droht schon, das
geschlossene Kloster zu stürmen, da tritt der Graf Sever vom nahen Schlosse
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